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Einspruch gegen den Bescheid der Pflegeversicherung

AOK Berlin
Frau G. V.
Fennstr. 6

12439 Berlin

Berlin, den 24. 6. 1996

Widerspruch gegen Ihren Bescheid vom 9. 5. 1996 zur Einstufung meiner Frau Erna W in die Pflegestufe 0 GeschZ.:

Sehr geehrte Frau V.,

hiermit reiche ich die ausführliche Begründung zu meinem Widerspruch vom 28. 5. 1996 und die Stellungnahme der behandelnden Fachärztin für Neurologie und Psychiatrie Fr. Dr. Heidemarie E nach.*

Der Besuch der Gutachterin dauerte ca. 30 Minuten. M.E. ist das zu wenig Zeit, um das ganze Ausmaß des vorhandenen Hilfebedarfs meiner demenzkranken Ehefrau aufnehmen zu können. Dadurch entstand eine völlig falsche Einschätzung des erforderlichen Zeitaufwandes, den ich benötige, um meiner Frau bei den Verrichtungen des alltäglichen Lebens Hilfestellung zu leisten.

Die Gutachterin stützte sich nur auf die Aussagen der Kranken.
Diese sind jedoch nicht realitätsbezogen, da meine Frau - bedingt durch ihre dementielle Erkrankung - alle Fragen mit "Ja!" beantwortet.

Leider konnte ich als pflegender Ehemann die Aussagen der Kranken nicht richtigstellen, weil ein gesondertes Gespräch mit mir, ohne Beisein meiner kranken Frau, nicht stattfand. In Gegenwart der Kranken kann und will ich auch nicht ihre Aussagen infrage stellen, damit ihr ohnehin gestörtes Selbstwertgefühl nicht noch weiter geschädigt wird.

Aus meiner Sicht ist der durchschnittliche zeitliche Hilfebedarf größer, als daß eine Ablehnung begründet werden kann. Obwohl in der Stellungnahme die Defizite meiner demenzkranken Frau richtig angegeben sind, wurde der zeitliche Bedarf für aktivierende Pflege gemäß Gesetz und Richtlinien nicht richtig ermittelt.

Offensichtlich wurden die Auswirkungen der Defizite falsch eingeschätzt.

Sowohl im Paragraph 14, Absatz 3 PflegeVG als auch in den Begutachtungsrichtlinien wird Wert darauf gelegt, gezielt den Bedarf an täglicher Hilfe zu ermitteln, der zur Förderung, Erhaltung und Wiedergewinnung von Selbständigkeit des Pflegebedürftigen erforderlich ist.

In der sozialmedizinischen Stellungnahme wird meiner kranken Frau in den Bereichen

  1. sich situativ anpassen können
  2. sich sauber halten und kleiden können
  3. sich beschäftigen können
  4. kommunizieren können
  5. soziale Bereiche des Lebens sichern können
  6. eine bedingte Selbständigkeit bescheinigt.

    Dem muß ich widersprechen. Tatsache ist, daß meine Frau nicht mehr fähig ist, Tätigkeiten der einfachsten Grundversorgung oder hauswirtschaftliche Dinge sinnentsprechend auszuführen. Der Ablauf eines 24-Std.-Tages ist ohne strukturvorgebende Unterstützung nicht mehr gewährleistet.

    Um Ihnen das Ausmaß der Hilflosigkeit und den damit verbundenen Umfang der pflegerischen Versorgung zu veranschaulichen, werde ich Ihnen einige lebenspraktische Beispiele zu den erwähnten Bereichen darstellen.

    • Meine Frau kann aufgrund von verlorengegangener Orientierung zu Zeit, Ort, Raum und Situation z.B. sich nicht mehr den Tageszeiten entsprechend verhalten. So kommt es vor, daß sie in der Nacht im Nachthemd unbedingt unsere Tochter besuchen, oder mit mir ein kaufen gehen will. Sie ist auch schon einmal nachts weggelaufen.
      Erst Stunden später habe ich sie auf der Straße völlig orientierungslos wiedergefunden.
    • Beim An- und Auskleiden ist meine Frau ebenfalls auf meine Hilfe angewiesen, da sie den Zweck der einzelnen Kleidungsstücke nicht mehr erkennt. So würde sie ohne Anleitung, Beaufsichtigung und Hilfe das Nachthemd anbehalten und die Tageskleidung teilweise darüberstreifen. Auch kann sie sich nicht mehr den Witterungsverhältnissen angepaßt kleiden. So würde sie bei großer Hitze alleine Winterstiefel und dicke Pullover anziehen. Dieses Verhalten spricht der Feststellung im der sozialmedizinischen Stellungnahme Hohn, wo bescheinigt wird, meine Frau "wählt Kleidung überwiegend selbst adäquat aus".
    • Die tägliche Hausarbeit kann meine Frau auch nicht "bedingt selbständig" bewältigen. Selbst bei den leichtesten Verrichtungen muß ich korrigierend eingreifen. So kann es z.B. passieren, daß das Wischwasser, statt im Toilettenbecken aus dem Fenster ausgegossen wird.
    • Auch kann meine Frau keine Armaturen mehr richtig bedienen. Selbst die langvertraute Kaffeemaschine ist für sie ein bedrohliches Ungeheuer geworden, vor dem sie Angst hat.
    • Im Bereich der Körperhygiene ist meine Ehefrau ständig auf meine Hilfe angewiesen. Sie braucht umfassende Hilfe durch mich und kann nur einzelne Handgriffe, zum Beispiel das Waschen des Gesichts mit dem Lappen, selbständig ausführen. Ich könnte mir zwar die Pflege meiner Ehefrau leichter machen, wenn ich die meisten Handgriffe selbst übernähme, doch ich nehme mir die Zeit und Geduld und er muntere meine Ehefrau immer wieder, das eine oder andere selbst zu tun, ohne sie dabei zu überfordern. Diese Zeit darf und soll ich mir nehmen, da ich damit im Sinne des Pflegeversicherungsgesetzes die Selbständigkeit meiner Ehefrau erhalte und unterstütze. Somit ist die gesamte Zeit als Pflegezeit anzuerkennen.
    • Die Körperpflege ist oft nur unter erheblichen Anstrengungen meinersteits und einem großen Zeitaufwand zu leisten. Neben der pflegerisch- hygienischen Versorgung kommt also noch eine überredende Betreuung dazu.
    • Wegen der fortschreitenden Hirnleistungsstörung hat meine Frau die Fähigkeit eingebüßt, von sich aus soziale Kontakte aufzubauen, oder zu halten. Der fortschreitende Verlust des Sprachverständnisses und des Mitteilungsvermögens macht Gespräche mit meiner Frau nicht mehr möglich, da Inhalte von ihr nicht mehr erfaßt werden können. Die Funktionen Sprechen, Sehen und Hören können zum Aufbau der Kommunikation nicht mehr sinnvoll eingesetzt werden.

    Zusammenfassend läßt sich sagen, daß meine Frau aufgrund der bei ihr vorliegenden kognitiven Beeinträchtigungen bei allen Verrichtungen des täglichen Lebens durchgängig der Anleitung, Überwachung und der ständigen Aufforderung durch mich bedarf. Laut Richtlinien ist die Beaufsichtigung und Überwachung einer Handlung ebenso zu werten, wie die Ausführung der erforderlichen Betreuungsmaßnahme durch eine Pflegeperson.

    Hilflosigkeit ist auch dann gegeben, wenn die Hilfe nicht ständig geleistet wird, jedoch in dauernder Bereitschaft sein muß.

    Bei allen Pflegeverrichtungen muß ich berücksichtigen, daß meine Ehefrau sehr langsam in ihren Bewegungen ist, und ich Auf forderungen für einzelne Handlungen, die sie noch selbst kann, sehr häufig geben muß, bis sie es dann auch tut.

    Bei allen Verrichtungen mit dem Kranken bemühe ich mich um eine "aktivierende Pflege". Daß bei der Betreuung Demenzerkrankter Lob, Anerkennung und Zuwendung eine wichtige Rolle spielen, ist eine gesicherte Erkenntnis. Jede Ermunterung, Lob, anerkennende Worte, Trost usw. während der Hilfe bei einer "Verrichtung des täglichen Lebens" gehören daher auch zu den anzuerkennenden Pflegezeiten.

    Den "gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen des täglichen Lebens", die sich auf die Pflege beziehen, habe ich ein "K" für Körperpflege, "E" für Ernährung, "M" für Mobilität nachgestellt. Den hauswirtschaftlichen Tätigkeiten habe ich ein "H" vorangestellt. Bei Tätigkeiten, die bei der Ermittlung des Hilfebedarfs gemäß PflegeVG nicht berücksichtigt werden, habe ich einen Strich eingetragen.

    Hier nun meine regelmäßigen Pflegetätigkeiten während eines Tages und anschließend in größeren Abständen wiederkehrende Pflegetätigkeiten:

    Beim Aufstehen muß ich meine Ehefrau: 10 Min.
    - wiederholt zum Aufstehen auffordern
    - helfen, sich auf das Bett zu setzen und aufzustehen
    Beim morgendlichen Toilettengang muß ich meine(r) Ehefrau: 5 Min.
    - frische Unterwäsche holen und zurechtlegen
    - mehrmals auffordern, die Nachtwäsche abzulegen
    Bei der Morgentoilette (Waschen und Zahnpflege) muß ich meine(r) Ehefrau: 30 Min.(K)
    - das Waschzubehör bereitlegen und das Handwaschbecken herrichten
    - zum Waschen auffordern
    - ins Badezimmer führen oder begleiten
    - helfen, ihre Kleidung abzulegen
    - beim Waschen anleiten, beaufsichtigen und unterstützen
    - den Waschlappen mit Wasser tränken und mit Seife einreiben (dann übernimmt meine Ehefrau auf eigenen Wunsch das Waschen des Intimbereichs).
    - abtrocknen
    - Gebiß reinigen
    - Fuß-und Fingernägel reinigen (ggf. schneiden)
    Beim Ankleiden muß ich meine(r) Ehefrau: 25 Min.(M)
    - die passenden Kleidungsstücke aussuchen, aus dem Schrank nehmen und herrichten
    - zum Ankleiden auffordern
    - beim Anziehen beaufsichtigen und anleiten
    Beim Frühstückrichten (Kaffee kochen, Brot schneiden, gemeinsam Tisch decken) muß ich meine(r) Ehefrau: 30 Min.(E)
    - zum Essen auffordern
    - die Medikamente verabreichen
    - während der Nahrungsaufnahme beaufsichtigen und anleiten
    - wiederholt zum Essen oder Trinken auffordern
    Geschirr abwaschen H
    Hilfe beim Anziehen der Straßenschuhe und des Mantels ---
    Spaziergang die Straße hinauf und zurück zur Vorbeugung von Gelenkversteifungen ---
    Waschmaschine richten, staubsaugen, sonstige Hausarbeiten H
    Kartoffeln schälen, Gemüse putzen usw., kochen, Tisch decken H
    Beim Mittagessen muß ich meine(r) Ehefrau: 30 Min.(E)
    - Getränke einschenken und Speisen portionsgerecht auf den Teller tun
    - zum Essen auffordern
    - während der Nahrungsaufnahme beaufsichtigen, anleiten
    - wiederholt zum Essen oder Trinken auffordern
    - die Medikamente verabreichen
    Tisch abräumen, Geschirr spülen H
    Mittagsruhe ---
    bügeln, Wäsche aufhängen H
    Kaffee kochen H
    Bei der Zwischenmahlzeit muß ich meine(r) Ehefrau: 20 Min.(E)
    - Kuchen/Obst servieren und Getränke einschenken
    - zum Essen auffordern
    - während der Nahrungsaufnahme beaufsichtigen, anleiten
    - wiederholt zum Essen oder Trinken auffordern
    einkaufen H
    Abendessen richten (Tee kochen, Brot schneiden, gemeinsam Tisch decken) H
    Beim Abendessen muß ich meine(r) Ehefrau: 30 Min.(E)
    - Getränke einschenken, Speisen portionsgerecht auf den Teller tun
    - zum Essen auffordern
    - während der Nahrungsaufnahme beaufsichtigen, anleiten (Meine Ehefrau ißt sehr langsam, sie kaut lange.)
    - die Medikamente verabreichen
    - wiederholt zum Essen oder Trinken auffordern
    Tisch abräumen, Geschirr spülen H
    Bei der Abendtoilette (Waschen und Zahnpflege) muß ich meine(r) Ehefrau: 30 Min.(K)
    - das Waschzubehör bereitlegen und das Handwaschbecken herrichten
    - zum Waschen auffordern
    - ins Badezimmer führen oder begleiten
    - auffordern, ihre Kleidung abzulegen
    - beim Waschen anleiten, beaufsichtigen
    - das Nachthemd anziehen (Das Anziehen ist oft schwierig, da sich meine Ehefrau aus mangelnder Einsicht dagegen wehrt, die Kleidung zu wechseln.)
    Beim Zubettgehen muß ich meine Ehefrau: 5 Min.(M)
    - wiederholt zum Zubettgehen auffordern
    zusätzlich muß ich bei meiner Ehefrau:
    - 7 - 8 mal täglich den Toilettengang kontrollieren10 Min.(K)
    - 10 mal täglich ein Getränk reichen und meine Ehefrau zum Trinken auffordern. Da meine Ehefrau zu wenig und ungern trinkt (meist nur kleine Mengen), muß ich ich ihr: 10 Min.(E)
    - im Tagesverlauf immer wieder etwas einschenken und ihr zum Trinken anbieten.
    - Ich muß sie dabei mehrmals auffordern und überreden, damit sie etwas trinkt.
    Bedingt durch ihre geistige Verwirrtheit verbunden mit Halluzinationen kommt es gelegentlich vor, daß meine Ehefrau aufsteht und unruhig und sehr ängstlich wird. Ich muß dann meine Ehefrau5 Min.
    - beruhigen
    - manchmal etwas zu trinken geben
    - ins Bett zurückbringen
    230 Min.
    Dazu kommen regelmäßig:
    jede Woche:
    2 mal beim Baden bzw. Duschen meine Ehefrau:
    140 Min.
    - das Badezubehör bereitlegen und das Badewasser herrichten
    - ins Badezimmer begleiten
    - auffordern, ihre Kleidung abzulegen
    - helfen, in die Badewanne zu steigen
    - beim Waschen anleiten, beaufsichtigen
    - auffordern und helfen, aus der Wanne zu steigen, sich abzutrocknen und anzuziehen
    - aus dem Bad in ein anderes Zimmer begleiten
    Ich muß meine Ehefrau zweimal pro Monat zur Krankenbetreuung der Angehörigen-Initiative Berlin - anteilig pro Woche: 10 Min.
    - begleiten und
    - danach abholen ("therapeutische" Förderung)
    Jeweils einmal alle vier Wochen Begleitung zum Arzt (50 Min.) und zur Apotheke (30Min.) ergeben zusammen 80 Min. : 4 = 20 Minuten pro Woche20 Min.
    Rechnet man diese Zeiten auf einen Tag um (170 Min. : 7), ergibt dies noch einmal 25 Minuten täglich dazu. 25 Min.
    255 Min.

    Die durchschnittliche tägliche Pflegezeit liegt also bei 265 Minuten. Das sind 4 1/4 Stunden täglich. Dies entspricht einer Einstufung in Pflegestufe 2.

    Ich bitte Sie deshalb, Ihre Entscheidung nochmals zu überprüfen.

    Mit freundlichen Grüßen


    - * Dieses Schreiben wurde mit Unterstützung der Alzheimer Angehörigen-Initiative Berlin erstellt.


 

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