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Realitätsorientierung oder "Recht auf Verwirrtheit"?

© Dr. Dr. Herbert Mück, Köln

Von Dr. Thomas Gunzelmann, Nürnberg

Der Titel will mit seiner Fragestellung provozieren, da sich beide dort genannten Möglichkeiten keineswegs ausschließen. Mittlerweile ist man sich weitgehend einig, daß es keine Pauschalrezepte für den Umgang mit Demenz-Kranken gibt. Vielmehr geht es darum, jeden Patienten möglichst individuell zu betreuen, also seine spezielle Lebensgeschichte, die aktuellen Lebensumstände und die jeweilige Krankheitsphase zu berücksichtigen. Da diese Faktoren dauernd im Fluß sind, muß der Umgang mit Dementen ständig überprüft und neu bestimmt werden.

Behandlungsprogramme vermitteln Sicherheit und Entspannung

Dem sog. Realitätsorientierungstraining (ROT) ist zu verdanken, daß die reine Verwahrung Demenz-Kranker zunehmend Historie wurde. ROT zeigte nämlich erstmalig Methoden auf, um Ratlosigkeit, Hilflosigkeit und Angst (nicht nur der Kranken) zu verringern. Das klare Programm mit seinen Strukturierungen und Konkretisierungen gab auch den Betreuern Orientierung und Sicherheit. Allein schon die innere Gewißheit, konkrete Verhaltensstrategien zur Verfügung zu haben, entspannt die Beziehung zum Kranken und macht sie gelassener. Und das wiederum beruhigt den Patienten. Problematisch wird ROT, wenn man es überspitzt praktiziert, indem man Verhaltensweisen stur eintrainiert und den Kranken laufend kontrolliert. Da ROT rein von rationalen Gesichtspunkten geprägt ist, die "Korrektur von Verwirrtheit" an der Welt der Gesunden orientiert und das Erleben des Dementen weitgehend ignoriert, wird es dem Kranken noch zu wenig gerecht.

Recht auf eigene Gefühle

Die Formel vom "Recht auf Verwirrtheit" will verdeutlichen, daß auch Demente emotional erleben und wahrnehmen. Diese Prozesse sind nie "falsch". Sie sind "wirklich" und steuern das Verhalten des Patienten. Während es häufig Sinn macht, Demente über die äußere Wirklichkeit zu informieren, ist es immer übergriffig, ihnen die Gültigkeit ihres eigenen Erlebens und Wahrnehmens abzusprechen. Damit ist ein im Vergleich zum ROT vermutlich weitaus bedeutsamerer Betreuungsansatz angesprochen: Man kann dem Kranken zu einer Halt gebenden inneren Orientierung verhelfen, indem man ihn in seine Innenwelt begleitet und dabei besonders sein Vertrauen in die Gültigkeit seines subjektiven Erlebens stärkt. So erspart man ihm, aus Scham oder Angst notfalls in Passivität, Verschlossenheit oder scheinbare Sturheit zu flüchten.

Demenz als Verlusterleben

Demente in ihrer Welt zu begleiten, ist leichter gesagt als getan, da das Verhalten der Dementen für Gesunde häufig widersprüchlich und schwer nachvollziehbar erscheint. Letztlich gibt es nur "Modellvorstellungen" (Wie es wohl sein könnte) von den Zuständen und Abläufen in den Innenwelten Dementer. Eine gewisse Evidenz hat der von M. Haupt vorgeschlagene Ansatz, sich Demenz als ein ständiges Erleben von Verlusten vorzustellen (Verlust der Kontinuität des Erlebens, der Übereinstimmung des eigenen Erlebens mit der äußeren Realität, der Kommunikation und der Kompetenzen). In ein solches Erleben können sich auch Gesunde einigermaßen hineinversetzen. Dazu gehören Gefühle wachsender Unsicherheit, ständigen Versagens, des Ausgeliefertseins und mangelnden Kontrollvermögens. Nicht zuletzt regt das Verlustkonzept an, passende Betreuungsstrategien zu entwickeln.

Orientierungshilfen in der Innenwelt des Dementen liefert vor allem auch seine Biographie und die These, daß ein Verständnis seiner früheren Gewohnheiten, Wünsche, Bedürfnisse oder ungelösten Konflikte zur Entwirrung der Verwirrtheit beitragen kann. Da die Demenz in massiver Weise immer die Umwelt einbezieht, kann man auch von einer Familienkrankheit sprechen. Deren angemessene Behandlung unterstützt immer alle Betroffenen darin, sich auf die Erfordernisse der neuen Situation konstruktiv einzustellen.

Abschließend sei noch auf einen Irrtum hingewiesen, der sich trotz aller Vorsicht und Erfahrung immer wieder einschleicht: die Annahme, man wisse, was für den Dementen das Beste ist, ohne sich zunächst um ein möglichst genaues Verständnis für dessen individuelle Lebensgeschichte und aktuelle Situation bemüht zu haben.

Nach einem Vortrag auf dem 1. Kongreß der Bayerischen Alzheimer Gesellschaften, Erlangen, 25.10.1996


Wir danken

für die Bereitstellung des Textes aus dem ZNS- bzw. DEMENZ-SPEKTRUM

 

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