[AlzheimerForum => Übersicht => Musiktherapie]

Logo: AlzheimerForum
Logo Deutsche Gesellschaft für Musiktherapie e.V.

Gefühle altern nicht:
Musiktherapie mit altersdementen Patienten

Überarbeiteter Vortrag, gehalten auf dem 2. Deutschen Alzheimerkongreß, Berlin, 1999
Dorothea Muthesius

Gliederung:
Typische Eigenschaften von Musik und ihre Unterstützungspotentiale für desorientierte Patienten
Fallbeispiele wirksamen Einsatzes von Musik
Kenntnisse und Kompetenzen des Musiktherapeuten
Weiterführende Literatur
Adressen

Haben Sie diese Anzeige auch gesehen? Hoechst wirbt damit, daß in Zukunft, wenn die Forschung soweit ist, Neunzigjährige ihren Lieblingssong noch singen können. Der Lieblingssong sitzt auch heute schon bei Menschen, die an der Alzheimerschen Krankheit leiden, fest - das ist nicht nur eine Imagine, eine Vorstellung für die Zeit, in der es der Medizin gelungen sein wird, die Krankheit zu heilen oder gar zu verhindern. Das liegt dem Wesen der Musik zugrunde. Darüber werde ich heute berichten. Bis die Medizin soweit ist, werden Musiktherapeuten mit diesem Phänomen arbeiten - müssen.

Ich werde Ihnen im Folgenden einige typische Eigenschaften von Musik unter dem Aspekt ihrer Unterstützungspotentiale für Altersdemente aufzeigen. Daran anschließend verdeutlichen kurze Fallbeispiele, welche Ereignisse die Musik auslösen kann, um schließlich daraus abzuleiten, über welche Kenntnisse und Kompetenzen ein Musiktherapeut verfügen muß, wenn er mit dieser Patientengruppe arbeitet.

Wenn ich, wie gesagt, Eigenschaften der Musik vorstelle, und daran aufzeige, was sie für die Arbeit mit altersdementen Patienten bedeuten können, dann mache ich so etwas wie eine Umkehrung eines Indikationskatalogs. So einen Katalog können sie von der Deutschen Gesellschaft für Musiktherapie beziehen. Er beinhaltet alle wichtigen Krankheitsbilder im Alter: Dementielle Erkrankungen, Depression, Parkinson, MS, funktionale Störungen, ..., nennt Problematik und Symptome der Krankheiten und mögliche musiktherapeutische Verfahren und Ziele. Ich habe einen guten Grund, den Weg an dieser Stelle umzukehren: Da alle Anwesenden genügend Kenntnisse über Problematik und Symptome der Alzheimerschen Krankheit haben, kann ich Zeit sparen.

1. Typische Eigenschaften von Musik und ihre Unterstützungspotentiale für desorientierte Patienten

Musiktherapeuten sagen gerne, dass eine Behandlung mit Musik dann angezeigt ist, wenn dem Patienten

Typische Eigenschaften von Musik Unterstützungspotentiale für Desorientierte Patienten
Musik ist emotionalisierend
  • Anknüpfen an, Erhalten und Reaktivieren emotionaler Fähigkeiten
  • Verstehenszugang für Bedeutungen
Musik ist ordnend, strukturierend
  • Synchronisation von Handlungen
  • Koordinieren von Reizen
  • Restrukturieren emotionaler Fähigkeiten
Musik ist erinnerungsauslösend
  • Unterstützen, Reaktivieren des Altgedächtnisses;
  • Validieren der Krankheitsbewältigungsstrategie "Nutzung der Vergangenheit";
  • Reaktivieren des Gefühls der Identität
Musik motiviert zur Kreativität Bedingung:
Suche nach vertrauten, generationsspezifischen Kreativitätsformen
Musik ist vergemeinschaftend und fördert Interaktion
  • Erleben von Zugehörigkeit;
  • Erleben von "Verstehen" wegen ähnlicher Präferenzen

Bedingung:

  • Suche nach vertrauten, generations spezi fi schen Formen der Gemeinschaft;
  • krankheitsspezifische Vorsicht bei Förderung von Interaktion
Musik ist bewegungsfördernd
  • Unterstützung der Erinnerung und Emotionalität mit biographisch relevanter Tanzmusik
  • Ermöglichung von Körperkontakt

Musik ist emotionalisierend.
Diese Eigenschaft der Musik ist in der Arbeit mit Altersdementen von besonderer Bedeutung, denn die emotionalen Fähigkeiten Desorientierter bleiben bekanntlich sehr viel länger aktiv als die kognitiven. Die Musik erreicht, anders als die Sprache, die Emotionalität in Umgehung des Denkens. Werden mit Musik verschüttete Emotionen gezielt reaktiviert, oder wird an ungeordnete und zunächst unverständliche Emotionen angeknüpft, um sie zu verstärken und zu klären, so wird ein Weg beschritten, der in der Altenpflege zu recht als Validation bezeichnet wird: Die respektvolle und anerkennende Haltung gegenüber den Gefühlen, auch wenn die jeweilige Bedeutung der Emotionen oftmals zunächst unklar bleibt. Im Bereich der Musik kann sich diese Unverständlichkeit beispielsweise bemerkbar machen, wenn ein verwirrter Mensch im Hochsommer ein Weihnachtslied zu singen wünscht. Weihnachtslieder sind Symbole für sehr bedeutungsvolle Situationen, meist Familiarität, Geborgenheit, Feierlichkeit. So ist anzunehmen, dass der Patient nach den Bedeutungen und dem Sinnzusammenhang seiner Gefühle sucht, und sie mit Hilfe der Lieder erneuern möchte. Ihm dabei behilflich zu sein ist wichtiger, als den Patienten belehrend "an der Realität zu orientieren", dass Weihnachtslieder im Sommer unpassend sind. So muss man Musikwünsche von Patienten als Symbole für Stimmungen und für Bedeutungszusammenhänge interpretieren - und dies bietet dem Helfer und dem Patienten selbst einen wichtigen Verstehenszugang zu seinen Gefühlen.

Musik hat ordnende, strukturierende Eigenschaften.
Vor allem dem Rhythmus wird die ordnende Funktion in der Musik zugeschrieben. Tatsächlich strukturiert er die Zeit, und synchronisiert soziales Handeln ebenso wie er die unterschiedlichsten Reize - hören, singen oder spielen, sich bewegen - in Gleichzeitigkeit bringt und koordiniert. Aber es ist nicht allein der Rhythmus. Vielmehr ist es die Form eines Musikstücks, das einen deutlichen Anfang und ein deutliches Ende hat, und die Melodie, deren Abfolge immer gleich ist. Beides trägt dazu bei, daß Musik sehr viel einfacher und klarer strukturiert ist als die Sprache, bei der man nie sicher sein kann, welche der vielen Wort- und Satzbildungsmöglichkeiten im nächsten Moment vom Gesprächspartner benutzt werden. (Deshalb hören Schwer hörige Musik besser als Sprache.) So mündet die mit Musik reaktivierte oder verstärkte Emotionalität, deren Ungeordnetheit Patient wie auch Helfer zunächst eher erschrecken könnte, aufgrund der strukturierenden Kraft der Musik in eine be-greifbare Form.

Musik ist erinnerungsauslösend.
Diese Eigenschaft verbindet die beiden vorgenannten Eigenschaften in folgender Weise: Die einfache Struktur der Musik ist eine der Grundlagen für die Erinnerungsträchtigkeit der Musik. Die gute Merkbarkeit ist es, die Melodien zu Ohrwürmern werden lassen - etwas, was in der Sprache nur in ähnlich gut merkbaren Formen wie Gedichten, Gebeten oder ritualisierten Geschichten vorkommt ("Es begab sich aber zu der Zeit..."). Musik tritt im Leben eines Menschen meist als Begleiterin sehr emotionalisierter sozialer Situationen auf, und verstärkt und vertieft gleichzeitig die situative Emotionalität. Dieses Erlebnis verbindet sich wiederum für immer mit der Musik, die in die Situation erklang. Dadurch wird die Musik zum Träger für die Erinnerung an diese Situation. In anderen Worten: die Musik, zu der ich frisch verliebt mit einem Mann tanze, hat eine diese Liebe verstärkende Wirkung. Dadurch wird die Musik zu einem Symbol für das Gefühl in der Situation. Diese Symbolik – und mit ihr die Gefühle – daran zeigt sich der Satz besonders gut, der über meinem Beitrag steht: Gefühle altern nicht – Diese Symbolik ist jederzeit abrufbar, bis ins hohe Alter - und - auch bei schwersten Gedächtnisstörungen. Musik scheint - wie es auch bei neurologischen Patienten beobachtet wird - resistent gegen viele Formen des Vergessens.

Die Patienten nutzen klugerweise selbst eine gute Strategie der Krankheitsbewältigung: Das verstärkte Verweilen in der Vergangenheit. Musik hilft ihnen dabei besonders gut, weil - wie schon gesagt - bei dieser Form der Erinnerungsarbeit das Denken zunächst nicht benötigt wird. Das Denken kann aber, wie ein Fallbeispiel noch zeigen wird, durch die Reaktivierung der Emotionalität wieder angeregt werden. Mit den Erinnerungen werden nämlich gleichzeitig die dazugehörigen Handlungsstrategien reaktiviert, und gleichzeitig auch aktualisiert, weil sie direkt in musikalisches und soziales Handeln umgesetzt werden.

Musik ist kreativitätsfördernd.
Sie verführt geradezu zum Spielen, Experimentieren, Ausprobieren von neuen Klängen, wozu in der Musiktherapie meist einfach spielbare Instrumente benutzt werden. (Sie können solche Instrumenten an unserem Stand ausprobieren!) So ist sie in der Lage, in sich verschlossenen Patienten dazu zu verhelfen, die Urheberschaft und die eigene Gestaltungskraft wieder zu entdecken, neue Ausdrucksformen zu finden, alte, nicht mehr taugliche Handlungsmuster mit neuen zu ersetzen. Dies setzt allerdings voraus, daß der Patient in der Lage ist, die neuartigen Klänge mit seinem Selbst in Verbindung zu bringen. Verwirrte Patienten können durch unbekannte Räume, Materialien, Geräusche und also auch Klänge zusätzlich verwirrt werden. So würde diese Art der Herausforderung von Kreativität nicht fördernd, sondern hemmend wirken. Das heißt aber nicht, daß es so etwas wie Kreativität in der Arbeit mit Verwirrten nicht gibt. Ist es gelungen, das Gefühl des Patienten zu seinem Selbst mit Hilfe von Erinnerungen zu reaktivieren, stellt sich Kreativität fast von selbst ein: Alte, aus der Biographie bekannte Formen kreativen Handelns werden wiedergefunden, wie z.B. das in der Generation noch gut beherrschte Stegreifreimen auf altbekannte Melodien.

Musik ist vergemeinschaftend und fördert Interaktion.
In der Musik ist es - anders als in der Sprache - möglich, gleichzeitig zu sprechen und zu hören. Ist die Sprache dialogisch angelegt, so spricht man in der Musik gewissermaßen im Chor. Allein das Erleben eines rhythmischen oder klanglichen Eingebettetseins und Dazugehörens kann schon eine heilsame Wirkung für Patienten haben, für die es ansonsten schwer ist, mit anderen Menschen in Kontakt zu treten. Gestärkt durch dieses Erleben, und dadurch, daß es ein gegenseitiges wortloses Verstehen gibt, werden Einzelaktionen und Interaktionen möglich, wird kommunikatives Verhalten angeregt und geübt. Gemeinsames musikalisches Handeln hat überdies stark integrativen Charakter, denn es kann über die unterschiedlichsten Formen von Störungen der Beteiligten hinweg betrieben werden. Wie auch bei der Kreativität können hierbei stark verwirrte Patienten allerdings leicht überfordert werden. Erstens dann, wenn die Klänge und Rhythmen nicht denen entsprechen, die sie kennen, wenn z.B. in einer Gruppe zu viele unterschiedliche musikalische Erfahrungen und Bedürfnisse zusammenkommen. Zum anderen, wenn es den Patienten nicht mehr möglich ist, sich auf mehr als einen fremden Menschen einzustellen. Hier sind Einzeltherapien vorzuziehen.

Musik ist bewegungsfördernd.
Wenn Musik emotionalisierend ist, heißt das, daß sie innere Bewegung auslöst. Ein großer Bereich der Musik löst zudem direkt äußere, meist tänzerische, Bewegungen aus. Die Ordnungskraft der Musik für äußere Bewegung ist offensichtlich. Die Motivation zu tanzen ist aber immer auch eine emotionale, und diese, wie wir nun wissen, eng mit Erinnerungen verknüpft: Nur der "richtige" Walzer, der aber mit großer Verläßlichkeit, bringt "Lahme zum Gehen", läßt Alte wieder jung werden, und erlaubt überdies durch die starke Geregeltheit der Paartänze eine ansonsten für alte Menschen nur noch schwer herstellbare Intimität von Körperkontakten.

2. Fallbeispiele wirksamen Einsatzes von Musik

Frau Schulz (Namen hier und im Folgenden geändert) wird mit einem gebrochenen Bein von einem Allgemeinkrankenhaus auf die gerontopsychiatrische Station überwiesen, weil sie alle Symptome einer schweren Demenz aufweist. Sie ist nicht ansprechbar, nicht einmal Blickkontakt ist möglich, emotionale Bewegung ist nicht spürbar, "affektiv verflacht" steht in der Krankenakte. So sitzt sie etwa drei Wochen fast regungslos im Aufenthaltsraum der Station. Nebenan, nur mit einer dünnen Falttür getrennt, findet die Gruppensingtherapie statt. Frau Schulz reagiert nicht auf Angebote, daran teilzunehmen, kann aber hören, was nebenan geschieht. In der vierten Woche, als die Musiktherapeutin nach der Stunde an ihr vorüber geht, blickt Frau Schulz sie an, mit Tränen in den Augen. Mühsam kann sie verständlich machen, daß sie gerne dabei gewesen wäre. Bei der nächsten Stunde nimmt sie teil. Sie fängt bei dem Lied "Ich hatte einen Kameraden" an zu weinen, macht deutlich, daß wir es nicht weiter singen sollen. Die Gruppe akzeptiert das. In der folgenden Stunde wird dieses Lied wieder vorgeschlagen. Frau Schulz stimmt zu, fängt wieder an zu weinen, diesmal aber möchte sie, daß es weiter gesungen wird. Sie beginnt zu erzählen. Stückweise, über weitere Wochen, fügt sie ihre Erinnerungen zusammen, bis sie ihre Lebensgeschichte wieder komplett hat: Sie hatte geheiratet, zwei Wochen danach fiel ihr Mann im Krieg. In diesem Lied gibt es eine Zeile, die heißt: "Bleib Du im ew'gen Leben mein treuer Kamerad". Diesen Schwur hat sie zu ihrem gemacht: Sie blieb ihrem Mann immer treu, hat nie wieder geheiratet. Frau Schulz wurde nach Hause entlassen, wo sie - wie die vergangenen 60 Jahre ihres Lebens - allein und selbständig weiterlebte.

Dies ist nun kein Wunder, das Musiktherapie vollbringen kann, denn Frau Schulz litt wegen eines Sturzes in ihrer Wohnung und einer folgenden Unterversorgung durch verspätete Hilfe, an einem Übergangssyndrom, das einer Altersdemenz täuschend ähnlich sein kann. Da sie - wie etwa 50% aller gerontopsychiatrischen Patienten einer großstädtischen Landesnervenklinik - keine Angehörigen hatte, die etwas über ihren früheren Zustand hätten berichten können, konnten keine biographischen Daten erhoben werden. Dennoch sollte dieses Beispiel hier angeführt werden, weil es wesentliche Mechanismen aufzeigt. Mehr oder weniger zufällig - für einen Musiktherapeuten natürlich weniger zufällig - wurde ein Lied gefunden, dem Frau Schulz eine hohe Bedeutung in ihrem Leben zugemessen hatte – wie viele Menschen ihrer Generation. Es gibt wohl kaum einen Soldaten, der nicht mit diesem Lied zu Grabe getragen wurde. Auch heute noch wird es von Veteranen zur Beerdigung gewünscht. Ja, es war in diesem Fall nicht nur ein Lied, es war nur eine einzige Zeile eines Liedes, in der 60 Jahre eines Lebens gewissermaßen codiert waren. Die mit der eindrucksvollen Melodie dieses Liedes reaktivierte Emotionalität, die zunächst an ihren Tränen sichtbar und für sie selbst und andere wieder spürbar wurde, setzte vage Erinnerungsbilder frei, um schließlich mit dem Wiederfinden von Worten für die Erzählung auch das Denken wieder zu ordnen.

Frau Liebig, emotional ansprechbar, aber sprachlich nahezu unverständlich, war körperlich so schwach, daß sie nur selten an der Musiktherapie teilnehmen konnte. Wenn sie teilnahm, wurde deutlich, daß sie zwar Musik mochte, aber nicht die fand, die sie wirklich bewegte. Weder sang sie selbst mit, noch klärte sich ihre Desorientierung - auch nicht für Momente. Als ihre Schwäche so zunahm, daß sie nur noch im Bett liegen konnte, dort schnell unter großen Schmerzen litt, da sie wegen extrem schwachen Bindegewebes decubitös wurde, versuchte ich, ihre musikalischen Bedürfnisse genauer zu erforschen. Da Volkslieder, die in der Gruppensingtherapie vorwiegend gesungen wurden, scheinbar nicht relevant für sie waren, suchte die Musiktherapeutin nach alten Schlagern. Schnell stellt sich heraus, daß Frau Liebig besonders die Musik von Robert Stolz mochte. Nach kurzer Zeit des aufmerksamen Zuhörens schien sie sich aber gestört zu fühlen, wandte sich ab und wieder verstärkt ihren Schmerzen zu. Die Musiktherapeutin bot Frau Liebig einen Kopfhörer an, den sie sofort akzeptierte. Hörte sie nun Robert Stolz aus dem Kopfhörer, so schien sie in eine andere Welt zu versinken. Wo sie sonst bei jeder Berührung vor Schmerzen schrie, nahm sie es nicht mal mehr wahr, wenn sie umgebettet oder von den Krankengymnasten behandelt wurde. Was sie in dieser anderen Welt erlebte, konnte sie leider nicht mitteilen. Nur ihr entspanntes und friedliches Gesicht machten deutlich, daß es eine schöne Welt sein mußte.

Für Frau Liebig war also nicht nur wichtig, den richtigen Musikstil zu finden. Sie mochte nur einen einzigen Komponisten. Zum anderen war das Hören von Musik von Bedeutung, was mit dem bevorzugten Musikstil zusammenhängt: Bei dem Versuch, Schlager selbst zu singen, scheitert man schnell - jedenfalls sind sie zum Singen sehr viel weniger geeignet als Volkslieder. Schlager hört man, und gegebenenfalls singt man sie dann mit. Und schließlich ist auch noch die Form des Hörens von Bedeutung, wie Frau Liebigs eindeutige Bevorzugung des Kopfhörers deutlich macht. Diese ist nicht verwunderlich, wenn man die Entwicklung der Musikmedien unseres Jahrhunderts kennt: Bei Einführung des Rundfunks waren Lautsprecher sehr wenig verbreitet, denn sie waren noch zu teuer. Man hörte lange Zeit Radio ausschließlich mit Kopfhörern. Welche konkreten biographischen Erfahrungen Frau Liebig damit verband, konnte sie leider nicht mitteilen. Daß es aber eine alte und vertraute Erfahrung gewesen sein muß, wurde an ihrer entspannten Mimik deutlich.

Bevor nun noch ein Negativbeispiel folgt, sollen noch einige Dimensionen musikalisch-biographischer Bedeutungen in kürzerer Form aufgezeigt werden. Da werden mit Jagdliedern alte, nie erfüllte Berufswünsche wieder wach, was es einem depressiven Patienten ermöglicht, überhaupt etwas von sich zu erzählen. Mit Schlafliedern wird eine höchst unruhige, verwirrte Frau entspannt und klar, weil sie dort ein Gefühl der Geborgenheit erinnert. Schließlich nimmt sie - eigentlich inkontinent - das Bedürfnis, zur Toilette zu gehen wieder wahr, weil sie mit den Schlafliedern auch das rituelle abendliche zur Toilettegehen assoziiert. Da ist eine Patientin, deren Wiener Sozialisation sie gelehrt hat, freie Texte auf Heurigen-Melodien in der Art eines Hans Moser zu dichten, darin ihre Befindlichkeit in Worten auszudrücken, was sie ohne Melodie sprachlich nicht mehr kann, und wofür die preußischen Lieder ungeeignet sind. Die Fähigkeiten verwirrter, sprach gestörter Menschen, einen Liedtext mit 6 Strophen noch fehlerfrei zu erinnern und auszusprechen, ist inzwischen allgemein bekannt. Die Achtung dieser verbliebenen Fähigkeit und Hebung dieser Schätze bringt für Patienten wie auch für Helfer großen inneren Reichtum.

Frau Krause aber reagiert gar nicht auf Musik. Wird sie angesprochen, z.B. ob sie Hunger habe, ob sie mit singen wolle, ob es ihr gut gehe - sie sagt immer die gleichen Sätze: "Ich bin Lieschen Krause, ich stamme aus Ostpreußen. Ich war eine gute Turnerin. Gräfin Dönhoff hat immer gesagt, Lieschen mach so weiter." Auf einem Faschingsfest blüht Frau Krause auf. Nicht wegen der Musik, wegen des Tanzes oder des Essens. Die Girlanden erinnern sie an ein Turnfest, auf dem sie sich immer so wohl gefühlt hat, und Lob für ihre Leistungen erhielt.

Es ist anzunehmen, daß Frau Krause kaum bedeutungsvolle musikalische Erfahrungen in ihrem Leben gemacht hat. (Ich habe selten sangesfreudige Ostpreußen kennengelernt...) Sicher ist aber, daß die Erfahrungen der Anerkennung ihrer sportlichen Leistungen - durch die Gräfin Dönhoff - alle anderen emotionalen Erlebnisse in den Schatten stellten. So kann Musik bei Frau Krause keine erinnerungsaktivierende, und somit auch keine andere Wirkung haben.

3. Kenntnisse und Kompetenzen des Musiktherapeuten

Wie alle Psychotherapeuten, müssen auch Musiktherapeuten über ein generalisiertes Wissen um biographisch potentiell bedeutsame Erfahrungen verfügen. Dies ist in der Arbeit mit altersdementen Patienten besonders wichtig, da diese selbst nur noch bruchstückhaft ihre Erfahrungen vermitteln können. Soll ihnen ermöglicht werden, diese Erfahrungen wieder besser zusammenzufügen, um die Orientierung zu ihrem Selbst, das Gefühl der Identität zu stärken, so muß der Therapeut in diesem Wissen voraus sein. Besonders die kohorten- oder generationsspezifischen Unterschiede muß er kennen.

Besonders deutlich wird der generationelle Unterschied bei Musik, denn diese unterliegt einem starken kulturellen Wandel, ja sie symbolisiert geradezu Generationswechsel. In diesem Jahrhundert wurde die Schallplatte, das Radio, der Tonfilm und das Fernsehen erfunden. Alte Menschen haben ihre frühesten musikalischen Erfahrungen noch ohne all diese technischen Entwicklungen gemacht. Dafür kann aber - wie bei Frau Liebig - die Ersterfahrung der neuen Form des Musikhörens - mit Kopfhörer hören - auch besonders beeindruckend gewesen sein. Musikalische Erfahrungen prägen sich aber im Vergleich mit z.B. der Mode wesentlich fester in das Gedächtnis, werden zu Gewohnheiten, die man weder ablegen will noch ablegen kann. Daß sie sich so fest in das Gedächtnis eingraben, enthält die Chance, daß sie auch bei Gedächtnisstörungen noch abrufbar sind.

Sie müssen dafür aber sehr genau reproduziert werden, wie bei allen Fällen gezeigt wurde. In diesem Sinne lernt der Therapeut besonders auch in der Gruppenarbeit von den alten Patienten direkt, weil die Gruppenmitglieder untereinander ihre Vorlieben, Befindlichkeiten und Wertvorstellungen besser verstehen, denn sie sind - im Gegensatz zum Therapeuten - Mitglieder einer Generation.

Darüber hinaus hat ein Musiktherapeut in seiner Arbeit mit einigen musikbezogenen Klischees aufzuräumen. Eines davon heißt beispielsweise, Musik sei "völker verbindend", also allgemeinverständlich und für jeden Menschen gut. Das mag für gesunde Menschen gelten. Menschen, die ihre Orientierung verloren haben, sind darauf angewiesen, sich an Bekanntem, Vertrautem festhalten zu können. Dazu gehört auch, daß ihnen, wie Frau Krause, Musik eben nichts Vertrautes ist. Und wie speziell bei der Wienerin mit ihren Heurigen-Liedern aufgezeigt wurde, ist Musik für Altersdemente nicht allgemeinverständlich. Der Unterschied zwischen der Wiener und Berliner Musikkultur ist für sie so groß wie für Gesunde der Unterschied zwischen mitteleuropäischer und chinesischer Musik.

Ein anderes Klischee heißt: Musik ist immer mit positiven Erinnerungen besetzt. Das ist zwar vorwiegend der Fall, deshalb hat sie auch oft so etwas Tröstendes. Im Fall von Frau Schulz konnte aber gezeigt werden, durch welch schmerzhafte Erinnerungen Musik führen kann. Der Musiktherapeut muß in der Lage sein, diese mitzutragen. Das gelingt ihm nur, wenn er die Musiktherapiestunden strukturell möglichst offen läßt. Hingegen ist leider oftmals zu lesen und zu sehen, (z .B. "Musiktherapie mit alten Menschen", ein Video-Lehrfilm, Vincentz-Verlag) daß Musiktherapie-Stunden eher vorgefertigten Unterhaltungs-, Beschäftigungs- oder Kreativitätsübungsprogrammen gleichen, die - angefüllt mit leistungsbezogenen Aufgabenstellungen - eine Besinnlichkeit auf die Erfahrung des Selbst nicht zulassen.

Schließlich setzt sich der Musiktherapeut auch für Musikgewohnheiten alter Menschen ein, die nicht unmittelbar mit Therapie zu tun haben. Dazu kann gehören, daß er darauf achtet, daß auf einer Station nicht ununterbrochen "irgendwelche" Musik aus "irgendwelchen" - für den Patienten nicht erkennbaren Schallquellen dringt. Wir jungen (Helfer) brauchen heutzutage viel Hintergrundmusik. Wir sind es gewohnt - wollen es nicht missen, ja, können scheinbar Stille auch nur noch schwer ertragen. Alte Menschen aber sind es gewohnt, nicht ununterbrochen Musik zur Verfügung zu haben. Sie mußten das Grammophon immer wieder aufziehen, mußten Strom sparen, hatten keine so große Plattensammlung, das Radio machte noch häufiger Sendepausen, usw. Das führte dazu, daß der Musik - wenn sie denn schon mal zu hören war - mehr Aufmerksamkeit gewidmet wurde. So kann es für desorientierte Patienten zusätzlich Verwirrung stiften, wenn sie ihr Aufmerksamkeit auf Musik richten, und gleichzeitig Gespräche, das Mittagessen, oder andere Tätigkeiten, von ihnen verlangt werden.

Musiktherapeuten, in der Arbeit mit Altersdementen, sind also Anwälte für

Um dieses leisten zu können, sind Musiktherapeuten - neben ihren allgemeinen therapeutischen und psychodynamischen Kenntnissen - Spezialisten für die historischen und kollektiven Bedeutungen von Musik und für die individuellen Bedeutungen von Musik im Lebenslauf eines Menschen.

Ich habe an dieser Stelle etwas von den ganz speziellen Ansätzen der Musiktherapie für Altersdemente berichtet. Musiktherapeuten haben noch mehr Möglichkeiten, die sich aber nicht wesentlich unterscheiden von denen, die sie mit Patienten anderer Krankheitsbilder nutzen, wie z.B. taktile Stimulation, Wahrnehmungssensibilisierung, kathartische Aktionen, also Ausleben von Aggressivität auf Instrumenten, usw. Um darüber etwas zu erfahren, dient der schon genannte Indikationkatalog, sowie weiterführende Literatur.

Weiterführende Literatur:

Grümme, R. (1997): Situation und Perspektive der Musiktherapie mit dementiell Erkrankten; Deutsches Zentrum für Altersfragen e.V.; (Beiträge zur Gerontologie, Sozialpolitik und Versorgungsforschung, Band 2); Regensburg: Transferverlag

Muthesius, D. (1997): Musikerfahrungen im Lebenslauf alter Menschen. Hannover, Vincentz

Muthesius, D. (i.E.): "Schade um all die Stimmen..." Musik im Alltagsleben alter Menschen, Bd. 46 der Reihe "Damit es nicht verloren geht..." Wien: Böhlau

Schwabe, Chr. (1983): Aktive Gruppenmusiktherapie für erwachsene Patienten, Stuttgart, Gustav Fischer Verlag

Adressen:

Dorothea Muthesius
Kleiststraße 35
10787 Berlin
Tel+Fax: 030 / 211 96 45
e-mail: mueckstein@t-online.de

Deutsche Gesellschaft für Musiktherapie e.V.
Libauer Str. 17
10245 Berlin
Tel: 030 / 29492493
Fax: 030 / 2949 2494
e-mail: dgmt.Berlin@t-online.de
Internet: www.musiktherapie.de


 

Zurück zum Anfang des Dokuments