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Diplomarbeit Fr. Ulrike Egidius

Download der kompletten Diplomarbeit

Westfälische Wilhelms-Universität zu Münster
Fachbereich 9 - Erziehungswissenschaft

Diplomarbeit 
zur Erlangung des akademischen Grades 
einer Diplom-Pädagogin
 

Ausgewählte Behandlungsansätze in der Arbeit mit dementiell erkrankten alten Menschen aus sozialpädagogischer Perspektive
vorgelegt von: Ulrike Egidius 
am: 24. Dezember 1997
Gutachter: Prof. Dr. Jürgen Hohmeier 
Ko-Gutachter: Prof. Dr. Dieter Sengling

Hiermit erkläre ich an Eides statt, daß ich die vorliegende Diplomarbeit ohne fremde Hilfe angefertigt und nur die angegebenen Hilfsmittel benutzt habe.
Münster, 24. Dezember 1997
Das vorliegende Exemplar ist im Sinne der Prüfungsordnung die urschriftliche Ausfertigung der Diplomarbeit.

Kontakt: Ulrike Egidius (ulrike.egidius@web.de)

Seitenende
I. Einleitung
II. Demenzen im Alter
1. Alter und Krankheit
2. Psychische Erkrankungen im Alter
3. Dementielle Erkrankungen
3. 1 Epidemiologie der Demenzen
3. 2 Definition und diagnostische Kriterien
3. 3 Abgrenzung dementieller Erkrankungen
3. 3. 1 Der ‘normale’ Alterungsprozeß
3. 3. 2 Akute Verwirrtheitszustände (Delire
3. 3. 3 Depressive Syndrome
3. 4  Klassifikation der Demenzen
3. 5  Primäre Demenzen
3. 5. 1 Die Demenz vom Alzheimer-Typ
3. 5. 1. 1 Verlauf und Erscheinungsbild
3. 5. 1. 2 Entstehungszusammenhänge
3. 5. 2 Die Multi-Infarkt-Demenz
3. 5. 2. 1 Verlauf und Erscheinungsbild
3. 5. 2. 2 Entstehungszusammenhänge
3. 6 Sekundäre Demenzen
3. 7 Demenz aus psychosozialer Perspektive
3. 7. 1  Belastungserleben der (pflegenden) Angehörigen
3. 7. 2  Erleben und Reaktionsformen Betroffener
3. 7. 3  Bedrohung der Identität durch die Demenz
3. 7. 4 Nachvollziehbarkeit des Erlebens und Verhaltens dementiell erkrankter Menschen

III. Soziale Arbeit mit alten Menschen

1. Begriffliche Klärungen
2. Rahmenbedingungen sozialer Altenarbeit
2. 1 Demographische Entwicklung
2. 2 Strukturwandel des Alters
2. 3 Individualisierungsprozesse
2. 4 Gerontologische Erkenntnisse: Altern als dynamischer Prozeß
3. Neuformulierung sozialer Altenarbeit: Acht Grundprinzipien
3. 1 Berücksichtigung der Heterogenität der Altenbevölkerung
3. 2 Ganzheitliche Perspektive
3. 3 Selbstbestimmung und Partizipation der Adressaten
3. 4 Aufrechterhaltung  und Förderung von Sinnstrukturen
3. 5 Unterstützung eines generationsübergreifenden Austauschs
3. 6 Neue Formen der Hilfe
 
 

3. 7 Rehabilitative Grundhaltung
3. 7. 1 Ziele einer Rehabilitation im Alter
3. 7. 2 Rehabilitationspotentiale und ihre Grenzen
3. 7. 3 Berücksichtigung interindividueller Unterschiede
3. 7. 4 Beachtung der intraindividuellen Variabilität
3. 7. 5 Biographische Perspektive
3. 7. 6 Einbeziehung des Kontextes
3. 7. 7 Gefahren und Grenzen einer Rehabilitation im Alter
3. 8  Wissenschaftliche Fundierung
4. Konkretisierung von Grundprinzipien sozialer Altenarbeit hinsichtlich therapeutischer Ansätze in der Arbeit mit dementiell erkrankten alten Menschen

V. Therapeutische Ansätze in der  Arbeit mit
dementiell erkrankten alten Menschen

1. Medikamentöse Therapie
2. Nichtmedikamentöse Therapie
2. 1 Begründung der Auswahl
2. 2 Validation
2. 2. 1 Theoretische Grundlagen der Validation
2. 2. 2 Die Zielgruppe der Validation
2. 2. 3 Zielvorstellungen
2. 2. 4 Die Grundhaltung in der Validation
2. 2. 5 Validationstechniken
2. 2. 6 Validation in Gruppen
2. 2. 7 Voraussetzungen von Validation
2. 2. 8 Kritische Betrachtung
2. 3 Milieutherapie
2. 3. 1 Theoretischer Bezugsrahmen
2. 3. 2 Die Zielgruppe der Milieutherapie
2. 3. 3 Zielvorstellungen
2. 3. 4 Komponenten der Milieutherapie
2. 3. 4. 1 Die soziale Umgebung
2. 3. 4. 2 Die Tagesstrukturierung
2. 3. 4. 3 Die dinglich-räumliche Gestaltung
2. 3. 5 Das Realitätsorientierungstraining als spezifische Form der Milieutherapie
2. 3. 6 Kritische Betrachtung
2. 4 Resümee

V. Abschließende Bemerkungen

VI. Literaturverzeichnis

I. EinleitungSeitenende

Dementielle Erkrankungen stellen eine große Herausforderung an die Gesundheits- und Sozialpolitik, aber auch an die Wissenschaft dar. „Es gibt keine Zweifel daran, daß uns die krankhaften Störungen des Gedächtnisses und der intellektuellen Funktionen im höheren Lebensalter - die Demenzen - in den kommenden Jahrzehnten noch sehr beschäftigen werden: in der medizinischen Forschung, in der pflegerischen Versorgung und sozialen Arbeit oder auch als gesellschaftliches Problem“ . 

Die demographische Entwicklung (in den Industrieländern allgemein) bringt eine deutliche absolute und relative Zunahme alter Menschen und eine wachsende Zahl Hochaltriger mit sich. Dies wird unvermeidlich auch zu einem Anstieg der Prävalenz der mit höherem und hohem Alter korrelierten dementiellen Erkrankungen führen. 

Gegenwärtig sind in der Bundesrepublik Deutschland circa 800.000 Menschen von einer Demenz betroffen . Basierend auf Prognosen der sogenannten 7. Koordinierten Bevölkerungsvorausberechnung kann bis zum Jahr 2040 mit einem Anstieg der Zahl dieses Personenkreises um etwa 50% gerechnet werden . Unter der Voraussetzung, daß auch in naher Zukunft keine substantielle medizinische Beeinflussung dementieller Krankheitsprozesse möglich sein wird - und davon ist derzeit auszugehen -, liegt die Zahl dementiell erkrankter alter Menschen 2040 demnach bei circa 1,2 Millionen. 

Demenzen, die im höheren Lebensalter die häufigste Ursache für Hilfs- und Pflegebedürftigkeit sein dürften, kommt damit rein quantitativ unter ökonomischen Aspekten eine immense Bedeutung zu. Gleichzeitig und damit zusammenhängend stellen dementielle Erkrankungen auch eine Herausforderung in qualitativer Hinsicht dar: hierbei geht es um die Art und Weise, um das Wie eines angemessenen Umgangs und einer adäquaten Therapie im Sinne der Betroffenen. In Ermangelung überzeugender pharmakologischer Maßnahmen für den Großteil der Demenzen existieren mittlerweile vielfältige nichtmedikamentöse allgemeine und spezielle therapeutische Verfahren für die Begleitung und Unterstützung dementiell erkrankter alter Menschen. Ziel dieser Arbeit ist es, ausgewählte Ansätze dieser Art auf ihre Qualität hin zu überprüfen. Ein umfassendes und differenziertes Verständnis dementieller Erkrankungen  und Grundprinzipien sozialer Altenarbeit sollen dabei den Maßstab dieser kritischen Betrachtung bilden. Im Hinblick auf den beschränkten Rahmen dieser Arbeit kann und soll dabei nicht auf eine Diskussion von Möglichkeiten und Aufgaben sozialer Arbeit in der Therapie dementiell erkrankter alter Menschen eingegangen werden. 

Eine ausführliche Erläuterung dementieller Erkrankungen findet im ersten Teil dieser Arbeit statt. Am Anfang steht dabei zunächst die Thematisierung der Beziehung zwischen Alter und Krankheit allgemein und die Bedeutung psychiatrischer Erkrankungen im Alter, zu denen auch die Demenzen zählen. Nach einer Darstellung der Prävalenz- und Inzidenzraten dementieller Erkrankungen, wird die Demenz definiert, und die damit verbundenen charakteristischen Symptome werden näher erläutert. Die weitere Ausführung zeigt Möglichkeiten und Schwierigkeiten einer in Anbetracht therapeutischer Konsequenzen notwendigen Abgrenzung dementieller Erkrankungen vom ‘normalen’ Alterungsprozeß, von akuten Verwirrtheitszuständen und von depressiven Syndromen auf. Im Anschluß daran werden zwei primäre Demenzen - die nach heutigem Wissensstand zahlenmäßig bedeutendsten -, nämlich die Demenz vom Alzheimer-Typ und die Multi-Infarkt-Demenz, und darauffolgend die sogenannten sekundären Demenzen jeweils eingehend hinsichtlich ihrer Entstehungszusammenhänge, ihrer Erscheinungsbilder und Verläufe beschrieben. Um die Darstellung zu vervollständigen, sollen im letzten Kapitel des ersten Teils psychosoziale Aspekte dementieller Erkrankungen aufgezeigt werden. Dies erscheint im Hinblick eines umfassenden Verständnisses unabdingbar. Die in der Literatur vielbeachtete Belastung der Angehörigen durch diese Erkrankungen wird nur kurz skizziert. Im Mittelpunkt der Betrachtung soll hier vielmehr - oft vernachlässigt - der direkt von der Demenz Betroffene stehen. Sein Erleben der Erkrankung und die Auswirkungen der Demenz werden geschildert. Erleben und Verhalten dementiell erkrankter Menschen sollen nachvollziehbarer und verstehbarer gemacht werden. 

Die soziale Arbeit mit alten Menschen wird im zweiten Teil zum Thema gemacht. In Abgrenzung zur Geragogik, Sozialgeragogik, Altenbildung und Altenhilfe soll hier der Begriff der sozialen Altenarbeit bevorzugt werden. Soziale Altenarbeit wird dabei als Arbeit sozialpädagogischer Fachkräfte mit älteren und alten Menschen und als allgemeine Arbeitsorientierung verstanden. Im Anschluß an diese begrifflichen Klärungen sollen wichtige Rahmenbedingungen einer sozialen Altenarbeit erörtert werden: neben gesellschaftlichen Prozessen wie der demographischen Entwicklung, dem Strukturwandel des Alters und Individualisierungstendenzen sind hier auch gerontologische Erkenntnisse über Potentiale und Entwicklungsmöglichkeiten des Alters zu nennen. Diese quantitativen und qualitativen Veränderungen stellen Herausforderungen an eine neu zu formulierende soziale Altenarbeit dar, deren Umrisse darauffolgend skizziert werden sollen. Zu den Prinzipien einer solchen sozialen Altenarbeit sind die grundlegende Beachtung der Heterogenität der Altenbevölkerung, das Einnehmen einer ganzheitlichen Perspektive, die Berücksichtigung der Selbstbestimmung und Partizipation der Adressaten, Leitbilder wie die Aufrechterhaltung und Förderung von Sinnstrukturen und eines generationsübergreifenden Austausches und auch neu zu gestaltende Hilfeformen für das mit Krankheit verbundene Alter zu zählen. Nachfolgend soll diese Darstellung durch Ausführungen zur Rehabilitation im Alter ergänzt werden. Dieser Zusatz erscheint insofern sinnvoll, als sich in der Literatur zur Rehabilitation eine präzisere Ausarbeitung wichtiger Prinzipien sozialer Altenarbeit im Hinblick auf das mit Krankheit verbundene Alter findet. Am Ende des zweiten Teils steht schließlich der Versuch, die skizzierten Umrisse konkret auf therapeutische Ansätze in der Arbeit mit dementiell erkrankten alten Menschen zu beziehen. 

Therapeutische Verfahren werden dann im dritten Teil dieser Arbeit erörtert. Eine kurze Thematisierung medikamentöser Ansätze zeigt deren für den Großteil der Demenzen bislang beschränkte Möglichkeiten bezüglich einer wesentlichen Beeinflussung des Krankheits-prozesses auf und verweist auf die Bedeutung nichtmedikamentöser Vorgehensweisen. Aus der Vielfalt solcher Ansätze verschiedenster Provenienz sollen Validation und Milieutherapie (letztere schließt eine Darstellung des Realitätsorientierungstrainings mit ein) heraus-gegriffen und detailliert behandelt werden. Theoretische Grundlagen, Zielvorstellungen, Zielgruppen und das konkrete Vorgehen werden jeweils ausführlich beschrieben. Vor dem entwickelten Hintergrund eines umfassenden Verständnisses dementieller Erkrankungen und konkretisierter Prinzipien sozialer Altenarbeit gilt es, diese beiden therapeutischen Ansätze kritisch zu reflektieren und auf problematische Aspekte hin zu untersuchen. In einem Resümee sollen dann pointiert die hieraus resultierenden Ergebnisse formuliert werden. 

Ein zusammenfassender kurzer Überblick und Überlegungen hinsichtlich der gegebenen ‘Versorgungsrealität’ bilden den Abschluß dieser Arbeit.

 
 
 

II.  Demenzen im Alter

1.   Alter und Krankheit

Alter und Krankheit sind - entgegen eindimensionaler defizitorientierter Altersbilder - nicht gleichzusetzen. Sie „sind zwei weitgehend unabhängig voneinander verlaufende Ereignisse“ . Es lassen sich jedoch ‘normale’ Alternsprozesse und Krankheiten nicht immer sicher voneinander trennen . Alter und Krankheit sind zudem nicht zwingend und monokausal miteinander verbunden. Dennoch besteht eine Interdependenz  im Sinne einer im Alter erhöhten Disposition zu Erkrankungen und Hilfs- und Pflegebedürftigkeit  , d.h. es ist davon auszugehen, daß „mit zunehmendem Alter der Faktor Gesundheit im Lebenslagenkonzept an Bedeutung gewinnt, indem das Risiko von Krankheit, Behinderung und Pflegebedürftigkeit deutlich zunimmt“

Folgende Aspekte in der Beziehung zwischen Krankheit und Alter können unterschieden werden 
· Alternde Krankheiten mit einem chronischen Verlauf begleiten den Menschen aus früheren Lebensabschnitten bis ins Alter. Sie können durch den Alterungsprozeß eine besondere Ausprägung bekommen. 
· Die primären Alterskrankheiten treten hingegen erstmals im Alter auf und sind auch in ihrer Häufigkeitsverteilung mit dem höheren Alter eng verbunden; diese Krankheiten überlagern die normalen Altersveränderungen. 
· Als Krankheiten im Alter schließlich werden allgemeine Krankheiten verstanden, die in allen Lebensabschnitten auftreten können, aber im Alter besondere Symptome  und  einen   differenten  Verlauf   aufweisen und  so  unter  der  spezifischen   Situation  des alternden Menschen betrachtet werden müssen. 

 Als   ein    wesentliches   Charakteristikum   geriatrischer  Erkrankungen   insgesamt  gilt zunächst deren Neigung zur Chronizität, d.h. zu einem weniger akuten, verlangsamten und lang andauerndem Verlauf, der häufig progredient ist und phasenhafte Verschlimmerungen aufweist. Chronische Krankheiten wirken sich auf vielfältige Weise auf das Leben der Erkrankten (langfristige Abhängigkeit von medizinischen Spezialisten, Bedrohung der körperlichen Integrität,...) und auf ihr Umfeld aus . Obwohl auch immer häufiger jüngere Menschen von chronischen Erkrankungen betroffen sind, sind sie doch primär ein Problem älterer Altersgruppen 

 Neben der Chronizität ist auch die Häufigkeit der Erkrankungen im Sinne einer Multimorbidität ein weiteres wesentliches Merkmal geriatrischer Erkrankungen. Es treten also mit zunehmendem Alter vermehrt mehrere Krankheiten gleichzeitig auf. Sie können voneinander unabhängig auftreten, zwischen ihnen können kausale Zusammenhänge bestehen, und sie können in Wechselwirkung stehen  . Im Durchschnitt weisen ältere Menschen drei bis vier behandlungsbedürftige Krankheiten auf 12).  Der Berliner Altersstudie zufolge kann die Häufigkeit von objektiv gegebener Multimorbidität (definiert als mindestens fünf gleichzeitig bestehende Erkrankungen) bei den 70 bis über 100jährigen ohne Berücksichtigung des Schweregrades auf 88 % geschätzt werden. Bei immerhin 30% der betreffenden Personen liegen gleichzeitig fünf mittel- bis schwergradige Erkrankungen vor  . Häufig bestehen somatische und psychische Erkrankungen nebeneinander: ein schlechter physischer Gesundheitszustand, chronische Behinderungen und eine oder mehrere gleichzeitig nebeneinander bestehende Krankheiten stellen dabei die hauptsächlichen Risikofaktoren für psychische Störungen im höheren Lebensalter dar . Auf der objektiven Ebene der Diagnostik ist es ein kaum lösbares Problem, zu differenzieren, welche Symptome welchem Krankheitsbild zuzuordnen sind. Erschwerend kommt eine veränderte Symptomatologie (z.B. abgeschwächte, abweichende  Symptome) und ein veränderter, atypischer Ablauf der Erkrankungen hinzu .Auf der subjektiven Ebene bedeutet das Phänomen der Multimorbidität eine spezifische Form der kumulativen Belastung, die hohe Anforderungen an den alten Menschen stellt . 
 

2.  Psychische Erkrankungen im Alter

 Insgesamt gibt es über die Prävalenz und vor allem die Inzidenz psychischer Störungen im Alter, zu denen auch die dementiellen Erkrankungen gezählt werden, nur wenig verläßliche Daten, die zudem meist älteren Datums sind. Die gerontopsychiatrischen Untersuchungen im Rahmen der Epidemiologieforschung nehmen nur einen verschwindend kleinen Raum ein. Zudem differieren die Angaben teilweise erheblich. Für diese Unterschiede können vor allem verschiedene Diagnosekriterien, Bestimmungsdefinitionen und klassifikatorische Unklarheiten verantwortlich gemacht werden . 

 Entsprechend der Daten der Psychiatrie-Enquete von 1975 weisen ca. 25-30 % der über 65jährigen psychische Störungen/Erkrankungen auf . Nach Angaben verschiedener älteren Feldstudien liegt die Prävalenzrate zwischen 23 und 29 % . Neuere Belege für diese Zahlen liefert die Berliner Altersstudie, der zufolge knapp ein Viertel der Westberliner (24 %) eine nach dem Diagnostischen und Statistischen Manual eindeutige psychische Erkrankung aufweist. Bei weiteren 32 % wird von einer ‘subdiagnostischen psychiatrischen Morbidität’ gesprochen, d.h. es liegen psychische Symptome ohne Krankheitswert oder psychische Störungen mit Krankheitswert vor, die aber nach dem Diagnostischen und Statistischen Manual keine Diagnose erfüllen. 
 Diese Daten zeigen ein hohes Ausmaß an psychischen Störungen im Alter, müssen aber insofern relativiert werden, als es sich hierbei um Prävalenzuntersuchungen handelt, die die Häufigkeit einer Erkrankung in einer Bevölkerungsgruppe zu einem bestimmten Zeitpunkt feststellen, die aber keinen Aufschluß über das Neuerkrankungsrisiko (Inzidenzrate) oder die Dauer oder Manifestationsform von Erkrankungen geben . 

 Vor allem dementielle und depressive Syndrome, aber auch Angststörungen und Substanzabhängigkeiten stellen die bedeutendsten Störungsformen im Alter dar . Verschiedentlich wird auch auf die erhebliche Bedeutung der Suizidalität hingewiesen . Es muß dabei unterschieden werden zwischen alternden psychischen Erkrankungen und psychischen Störungen, die im Alter neu auftreten. Depressive Syndrome setzen nur selten erst im Alter ein. Das gleiche gilt für Panikstörungen. Diese Störungen haben im Alter meist einen chronischen oder rezidivierenden Charakter. Hingegen manifestieren sich Phobien und Substanzabhängigkeiten nicht selten erst im fortgeschrittenen Lebensalter. Das gleiche gilt für Suizide; sie haben ihren „Altersgipfel bei den über 70jährigen“ . Auch dementielle Syndrome treten bevorzugt im Alter in Erscheinung, wie im folgenden zu zeigen sein wird . 
 

3.  Dementielle Erkrankungen

3. 1  Epidemiologie der Demenzen


 Die Prävalenzraten schwerer dementieller Erkrankungen, die eine selbständige Lebensführung im allgemeinen nicht mehr erlauben, liegen nach vorliegenden Untersuchungen zwischen ca. 4 und 7 %, d.h. bei durchschnittlich rund 6 % . Die im Rahmen der Berliner Altersstudie festgestellte höhere Prävalenzrate von etwa 14 % kann auf die hier einbezogene ältere Population (70jährige und Ältere) im Vergleich zu sonstigen Studien zurückgeführt werden. Daneben spielt auch eine Rolle, daß andere Untersuchungen sich nur auf mittelschwere und schwere Formen beziehen. Umgerechnet auf die Bevölkerung der über 65jährigen deutet auch die Berliner Altersstudie auf eine Prävalenzrate dementieller Erkrankungen (ohne leichte Formen) von 6 % . Niedrigere Prävalenzraten zeigen sich im allgemeinen bei Stichproben von zu Hause lebenden alten Menschen, höhere im institutionellen Bereich. Die Gesamtzahl bedarf insofern einer Modifizierung, als die Prävalenzrate für dementielle Erkrankungen mit zunehmendem Lebensalter steigt: von 0,7 % bei den 60-64jährigen, über 2,8 % bei den 70-74jährigen und 10,5 % bei den 80-84jährigen auf fast 40 % bei den über 90jährigen. Über die Prävalenz von Demenzen im jüngeren Alter ist weniger bekannt: es liegen Schätzungen vor, die von unter 0,1 % bis maximal 0,2 % bei den 40-60jährigen ausgehen . Demenzen sind demnach als primäre Alterskrankheiten zu verstehen. 

 Bei Betrachtung leichter bzw. früher Erkrankungsstadien zeigen sich nicht immer einheitliche Ergebnisse. Dies ist auf die diagnostisch schwierige Abgrenzung einer beginnenden Demenz von bereits vorbestehenden intellektuellen Beeinträchtigungen, altersassoziierten Gedächtnisbeeinträchtigungen oder auch leichteren psychischen Störungen zurückzuführen (hierauf wird weiter unten noch eingegangen) . Dementsprechend weisen die Prävalenzraten eine große Streuung von 2-3 % bis zu 15 % und mehr in der Altenbevölkerung auf  . 

 Die Inzidenzraten schließlich machen deutlich, „daß die mit dem Alter stark anwachsende Prävalenz von Demenzen nicht einfach auf eine Ansammlung chronisch Kranker zurückzuführen ist, sondern auf einen tatsächlichen Anstieg des Erkrankungsrisikos im höheren Lebensalter“ . So liegt die Anzahl der schweren Neuerkrankungen - wie verschiedene Feldstudien zeigen - unter 1000 Personen pro Jahr bei den 60-69jährigen zwischen 2,8 und 4, bei den 70-79jährigen zwischen 12,2 und 22,7 und bei den über 80jährigen schließlich zwischen 33,2 und 39,6. Für das mittlere Lebensalter liegen keine verallgemeinerbaren Feldstudiendaten vor . 

 Die Befunde deuten dabei auf ein exponentiell anwachsendes Erkrankungsrisiko hin . Mittlerweile gibt es jedoch auch Studien (beispielsweise die Berliner Altersstudie), die darauf hinweisen, daß das Neuerkrankungsrisiko bei den Höchstbetagten über 85 oder 90jährigen wieder verringert sein oder sogar gar nicht mehr bestehen könnte. Dies hieße, daß keineswegs jeder, der nur ein bestimmtes hohes Alter erreicht, an einer Demenz erkrankt, was von großer theoretischer Bedeutung für die Ätiologie der Demenzen sein dürfte. Gesichert sind diese Annahmen jedoch noch nicht . 

3. 2  Definition und diagnostische Kriterien

 Demenz ist nicht mit der oft gebrauchten Pflegediagnose Verwirrtheit gleichzusetzen. „Verwirrtheitszustände können einerseits völlig unabhängig von einer Demenz auftreten, zum anderen aber auch Vorboten oder Begleiterscheinungen verschiedener dementieller Erkrankungen sein bzw. den dementiellen Prozeß überlagern“ . Verwirrtheit ist zu verstehen als ein Symptom, als eine (mögliche) Reaktion auf eine körperliche oder eine psychische Störung oder Beeinträchtigung oder auf psychosoziale Faktoren. Komplexe Entstehungszusammenhänge von Verwirrtheit können demnach beispielsweise Delire, Demenzen, Wahrnehmungsstörungen, psychische Störungen, Distreß, Kommunikationsstörungen, familiäre Probleme, Isolation, Sinn- und Rollenverlust sein . 

 Demenz  (lat. demens = ohne Geist sein) bezeichnet keine einzelne Krankheit, sondern ist der medizinische Ausdruck für ein Syndrom. Mit diesem Begriff „ist zunächst nichts über die Pathogenese ausgesagt: Der Begriff Demenz beschreibt ein klinisches Zustandsbild unabhängig von seinen Entstehungsbedingungen“ . Ursachen eines dementiellen Syndroms können zahlreiche zerebrale und extrazerebrale Erkrankungen sein. Auch impliziert der Begriff Demenz nicht notwendigerweise einen chronischen und irreversiblen Verlauf: je nach Alter bei Erkrankung, Ursache, zur Verfügung stehender medizinischer Therapie und deren rechtzeitigen Anwendung können Demenzen auch wellenförmig verlaufen und teilweise oder vollständig reversibel sein . 

 Nach einer Definition der Weltgesundheitsorganisation läßt sich eine  Demenz verstehen als „eine erworbene, globale Beeinträchtigung der höheren Hirnfunktionen einschließlich des Gedächtnisses, der Fähigkeit, Alltagsprobleme zu lösen, der Ausführung sensomotorischer und sozialer Fertigkeiten, der Sprache und Kommunikation sowie der Kontrolle emotionaler Reaktionen ohne ausgeprägte Bewußtseinstrübung. Meist ist der Prozeß progredient, jedoch nicht notwendigerweise irreversibel“ . 

 Das Diagnostische und Statistische Manual der American Psychiatric Association gibt - so Wettstein - „die klarste Demenz-Definition“ . Hier wird versucht, das Demenzsyndrom eindeutig zu beschreiben und durch Ein- und Ausschlußkriterien festzulegen. Orientiert vor allem an der neuesten Fassung, dem DSM-IV, sollen im folgenden charakteristische Merkmale bzw. diagnostische Kriterien eines dementiellen Syndroms näher erläutert werden . 

 Das „Früh- und Leitsymptom der Demenz“  ist eine Beeinträchtigung des Kurz- und Langzeitgedächtnisses. „Personen mit einer Demenz sind in ihrer Fähigkeit, Neues zu lernen, zunehmend beeinträchtigt oder sie vergessen bereits Gelerntes“ . In Anfangsstadien besteht ein nur mäßiger Gedächtnisverlust, der besonders kurz zurückliegende Ereignisse betrifft; es werden z.B. Namen, Adressen und Gespräche vergessen und Wertsachen verloren. Bei schwerer Demenz können neue Informationen  kaum mehr gelernt werden und werden schnell vergessen. Vorhaben und Aufgaben bleiben unerledigt. Auch Informationen, die früher gewußt wurden, können bei schweren Formen nicht mehr erinnert werden. So sind Fakten des Allgemeinwissens oder sogar persönliche Lebensdaten und manchmal auch der eigene Name kaum oder nicht mehr zugänglich. 

 Als Folge dieser Gedächtniseinbußen kommt es zu Orientierungsschwierigkeiten . So ist zunächst oft die zeitliche Orientierung und Strukturierung betroffen: die betreffende Person weiß nicht um Tag, Monat und Jahr und kann Daten und Begebenheiten, die erinnert werden, nicht in eine richtige Reihenfolge einordnen (Zeitgitterstörung). Des weiteren ist in der Regel die  räumliche Orientierung gestört. Dies macht sich bei einer (noch) nicht allzu stark ausgeprägten Demenz vor allem in fremder Umgebung bemerkbar, bei schwererer Beeinträchtigung schließlich sogar in der vertrauten eigenen Wohnung.  Schließlich kann es auch zu einer situativen Desorientierung kommen. Die an der Demenz erkrankte Person ist dann nicht in der Lage, die verschiedenen Elemente einer Situation zu erkennen, in einen Zusammenhang zu bringen und die jeweilige Situation in ihren sinnhaften Kontext einzuordnen. 

 Neben den Gedächtnisbeeinträchtigungen muß dem Diagnostischen und Statistischen Manual zufolge mindestens eines der folgenden Merkmale vorliegen: eine Beeinträchtigung der höheren kortikalen Funktionen  wie Aphasie, Apraxie oder Agnosie und/oder eine Beeinträchtigung der sogenannten Exekutivfunktionen . 

 Bei der Aphasie handelt es sich um eine Sprachstörung . Die Kommunikation mit der Umwelt wird hierdurch - je nach Art der Aphasie - mehr oder minder schwer gestört. Unterschieden wird zwischen einer amnestischen, einer motorischen, einer sensorischen oder einer globalen Aphasie. Bei der amnestischen Aphasie handelt es sich um eine leichtere Störung, die durch Wortfindungsstörungen charakterisiert ist. Lesen, Schreiben und das Sprachverständnis sind nur gering beeinträchtigt. Die motorische Aphasie (Broca-Aphasie) ist gekennzeichnet durch eine Beeinträchtigung der Sprachbildung bei relativ gutem Sprachverständnis. Die Sprache ist zerhackt und stockend und zeigt einen Telegrammstil. Menschen mit einer motorischen Aphasie können regelmäßig auch nicht schreiben. Demgegenüber ist bei der sensorischen Aphasie (Wernicke-Aphasie) besonders das Verständnis von Sprache gestört. Die Betreffenden sind zwar noch in der Lage, selbst mühelos und flüssig zu sprechen, jedoch oft nur unverständlich, ohne Zusammenhang und mit Wortneuschöpfungen. Von einer globalen Aphasie schließlich wird gesprochen, wenn Sprachbildung und Sprachverständnis gestört und auch Schreiben und Lesen nicht möglich sind. 

 Unter einer Apraxie ist eine Störung in der Ausführung von Bewegungsabläufen trotz intakter Motorik, erhaltener Beweglichkeit und Verständnis zu verstehen . Es besteht eine Störung in der willentlichen Handlungsfähigkeit: unaufgefordert oder unbewußt sind selbst schwierigere Bewegungsabläufe möglich, aber nicht bewußt oder bei Aufforderung. Diese Störungen in den Handlungsabläufen bringen für die betreffende Person mehr oder minder erhebliche Einschränkungen in praktischen Tätigkeiten des täglichen Lebens mit sich; so können z.B. sogar grundlegende Alltagshandlungen wie das  Ankleiden oder die Körperpflege gestört sein. Holden und Woods konstatieren bezüglich apraktischer Störungen im Zuge einer dementiellen Erkrankung: „This disorder is fairly common and is often misinterpreted as uncooperativeness“ . Unterschieden werden die  motorische,  die  ideatorische,  die  ideomotorische  und die  konstruktive Apraxie. Bei der motorischen Apraxie kann die betreffende Person z.B. nicht auf eine Aufforderung hin vom Stuhl aufstehen. Störungen bei der Ausführung einer symbolischen Handlung liegen bei der ideomotorischen Apraxie vor; die Vorstellung von einer bestimmten Bewegung fehlt hier. Bei der ideatorischen Aphasie ist die Planung von komplizierteren Handlungsabfolgen und vom korrekten Gebrauch von Gegenständen verloren gegangen. Bei der konstruktiven Apraxie bestehen Störungen im Handeln in Verbindung mit dem räumlichen Vorstellungsvermögen, so kann z.B. einer Zeichnung keine räumliche Perspektive gegeben werden. 

 Als Agnosie schließlich wird die Unfähigkeit bezeichnet, bei intakten Sinnesorganen Gegenstände oder Personen wiederzuerkennen und in ihrer Verwendung bzw. Bedeutung zu identifizieren . Neben der visuellen Agnosie werden auch eine auditorische und taktile Agnosie beschrieben. „Eine Person kann beispielsweise bei normaler Sehschärfe die Fähigkeit zum Erkennen von Gegenständen verlieren (...). Im Endstadium sind sie möglicherweise nicht mehr in der Lage, Familienmitglieder oder sogar ihr eigenes Spiegelbild zu erkennen“ . 

 Unter den Beeinträchtigungen der Exekutivfunktionen werden im DSM-IV „die Fähigkeiten zu abstraktem Denken und zur Planung, Initiierung, Fortführung, Kontrolle und Unterbrechung komplexer Verhaltensweisen“  zusammengefaßt. Beeinträchtigungen des abstrakten Denkens zeigen sich in einer Verlangsamung des Denkens, in der Unfähigkeit, Zusammenhänge herzustellen, Wichtiges von Nebensächlichem zu unterscheiden und auch darin, den Sinn von Worten und Begriffen zu erfassen und definieren. Neue Aufgaben können nur noch schwer bewältigt werden, besonders unter Zeitdruck. Eine Störung der Exekutivfunktionen zeigt sich auch in der verringerten Fähigkeit, den geistigen Bezugspunkt zu wechseln oder Bewegungen in einer festgesetzten Reihenfolge auszuführen. Im alltäglichen Leben können sich diese Beeinträchtigungen u.a. bei der Arbeit, der Planung von Aktivitäten oder bei finanziellen Angelegenheiten zeigen. 

 Des weiteren wird eine Einschränkung oder starke Verminderung des Urteils- und (Selbst-) Kritikvermögen im DSM-IV als ‘zugehöriges Merkmal’ (nicht mehr als diagnostisches Kriterium) eines dementiellen Syndroms genannt. Eine gestörte Einsichts- und Entscheidungsfähigkeit kann zu Fehlentscheidungen führen, die z.T. fatale Folgen (beispielsweise beim Autofahren oder im  Umgang mit Geld) haben können. Auch kann eine Mißachtung sozialer Regeln und Konventionen aufkommen. 

 Auch verschiedene Störungen des Erlebens und Verhaltens werden als ‘zugehörige Merkmale’ einer Demenz angeführt. So kann es im Zuge eines dementiellen Syndroms zu aggressiven und auch suizidalen Handlungen, zu Angst, affektiven Störungen, Schlafstörungen, Wahnvorstellungen und Halluzinationen kommen. Betont wird die vermehrte Vulnerabilität dementiell Erkrankter hinsichtlich körperlicher oder psychosozialer Belastungsfaktoren. 

 Die mit der Demenz verbundenen Einbußen müssen nach der Definition des DSM-IV so erheblich sein, daß sie „Beeinträchtigungen der sozialen und beruflichen Leistungsfähigkeit“  verursachen. Zudem müssen sie eine Verschlechterung gegenüber einem früheren Leistungsniveau darstellen. Auf eine Unterteilung in verschiedene Schweregrade wird dabei im Gegensatz zur früheren Version verzichtet. 

3. 3 Abgrenzung dementieller Erkrankungen

3. 3. 1 Der ‘normale’ Alterungsprozeß

 Dementielle Erkrankungen sind vom ‘normalen’ Alterungsprozeß abzugrenzen. Der physiologische Alterungsprozeß des Gehirns (Abnahme des Hirnvolumens, Abnahme der Zahl der Synapsen) kann normalerweise problemlos kompensiert werden. Die lange im Rahmen des Defizitmodells vertretene These eines kontinuierlichen geistigen Abbaus im Alter kann heute als widerlegt gelten.  „Das Alter per se führt nicht zu einer generellen Verschlechterung kognitiver Parameter“ . Es muß differenziert werden nach dem betrachteten Leistungsbereich und nach interindividuellen Unterschieden .  „Zwischen dem 65. und 75. Lebensjahr findet sich eine interindividuell sehr unterschiedliche leichte Abnahme einiger kognitiver Funktionen. Erst jenseits des 80. Lebensjahres gibt es bei einer Reihe von Fähigkeiten eindeutige Verminderungen der Leistung - insbesondere Aufgaben betreffend, die Geschwindigkeitskomponenten enthalten“ . 

 Eine Demenzdiagnose ist nur gerechtfertigt, wenn neben Gedächtniseinbußen weitere der oben angeführten Merkmale vorliegen, und die Beeinträchtigungen ausreichend schwer sind, um das alltägliche Leben und die sozialen Beziehungen des Betreffenden, d.h. die soziale und berufliche ‘Leistungsfähigkeit’ negativ zu beeinflussen. „Demenz ist kein Synonym für Altern“ . 

 Da sich eine beginnende Demenz nicht uniform äußert, kann es aber schwierig sein, diese von einem ‘normalen’ Alterungsprozeß abzugrenzen: die Variabilität kognitiver Funktionen im Alter und die Variabilität dementieller Symptome überlappen sich oft . „Im Einzelfall sind die Grenzen (...) nicht leicht zu ziehen und sind auch willkürlich, wie alle epidemiologischen Arbeiten zeigen (...)“ . Eine frühe Erkennung erscheint jedoch im Hinblick auf eine therapeutische Begleitung und Unterstützung der Betroffenen sehr wichtig . Auch ist bis heute unklar, inwiefern es so etwas wie eine gutartige Altersvergeßlichkeit bzw. altersassoziierte Gedächtnisstörungen und leichte kognitive Beeinträchtigungen gibt, die aber noch keine Demenz darstellen und auch nicht unbedingt progressiv verlaufen und in ein dementielles Syndrom münden müssen . 
 

3. 3. 2 Akute Verwirrtheitszustände (Delire)

 Neben der Abgrenzung zum ‘normalen’ Alterungsprozeß muß zwischen einer Demenz und einem Delir, d.h. einem akuten Verwirrtheitszustand, unterschieden werden. Hier besteht ebenfalls eine Störung des Gedächtnisses, und es kommt zu Desorientiertheit. Allerdings ist der vom Delir Betroffene vor allem in seiner Aufmerksamkeit beeinträchtigt und in seinem Bewußtsein getrübt - im Gegensatz zum dementiell erkrankten Menschen, der bei klarem Bewußtsein ist. Neben Denkstörungen (z.B. Weitschweifigkeit) kommt es bei deliranten Zuständen des weiteren zu stärker ausgeprägten Illusionen oder Halluzinationen. Die Symptome entwickeln sich zudem innerhalb einer kurzen Zeitspanne und fluktuieren gewöhnlich im Laufe eines Tages, während sie bei einer Demenz relativ stabil bleiben. 

 Bedeutsam ist diese Abgrenzung vor allem, da die dem Delir zugrundeliegenden Erkrankungen (z.B. allgemeine Infektionen oder Stoffwechselstörungen) behandelbar und damit das Delir heilbar ist . In manchen Fällen können ein länger anhaltender Verwirrtheitszustand oder mehrfach episodisch auftretende Verwirrtheitszustände aber auch in eine chronisch verlaufende Demenz übergehen . Oft bestehen Delir und Demenz nebeneinander; die dementiellen Symptome können sich hierdurch noch erheblich verschlechtern. „Bei Unsicherheit darüber, ob die Symptome bei einem bestimmten Patienten grundsätzlich zum Delir oder zur Demenz gehören, ist es am besten, die vorläufige Diagnose Delir zu stellen. Diese sollte zu einem aktiveren therapeutischen Vorgehen führen“ . 
 

3. 3. 3 Depressive Syndrome


 Schließlich  ist ein dementielles Syndrom von einer schweren Depression - oft als ‘Pseudodemenz’ bezeichnet - abzugrenzen. Diese schwierige Unterscheidung ist ebenfalls von entscheidender Bedeutung  für die Prognose und die therapeutischen Konsequenzen. Die  typischen  Symptome  einer  Depression  werden  bei  alten Menschen aufgrund  der Häufigkeit dementieller Syndrome leicht fehlgedeutet. Depressionen können sich bei älteren Menschen aber auch anders äußern als bei jüngeren. So weisen Denzler et al. darauf hin, daß ältere Depressive sich durch „sozialen Rückzug, Gedächtnisprobleme, reduzierten Realitätsbezug, verminderte Selbstversorgungskompetenz und schlechtere Leistungen bei komplexen intellektuellen Funktionen“  auszeichnen. Dies führt leicht dazu, daß sie als Demente fehldiagnostiziert werden. So liegt die Fehldiagnose-Rate bei ca. 20 % . Nachgewiesene kognitive Veränderungen beim depressiven Syndrom sind z.B. Störungen der Aufmerksamkeit, der Wahrnehmung, des Gedächtnisses, des Lernens und der Geschwindigkeit bei der kognitiven Verarbeitung . 

 Hinweise zu einer Abgrenzung von Depression und Demenz können sein, daß  genuin depressive Störungen meist mit affektiven und somatischen Symptomen sowie Schlafstörungen und nicht mit kognitiven Störungen einsetzen. Der Beginn ist zudem meist klar abgrenzbar. Des weiteren ist der ältere Mensch, der sich massiv über seine  kognitiven Leistungen beklagt und diese detailliert schildert, in der Regel eher depressiv denn dement. In neuropsychologischen Tests wird ein nicht generalisierter Testleistungsabbau deutlich, der zudem testzeitpunktabhängig ist. Auffallend ist auch im Vergleich zum dementiell erkrankten Menschen die klare Orientierung eines depressiv Erkrankten . Oesterreich allerdings weist darauf hin, daß sich „in vielen Fällen die Diagnose pdf-Dateidepressive Pseudodemenz überhaupt erst aufgrund der medikamentösen Therapieerfolge stellen [läßt]“ . 

 Hinter dementiellen Symptomen kann sich demnach eine Depression verbergen. Hinter einer depressiven Störung kann aber umgekehrt auch eine (beginnende) Demenz stehen, auf die in dieser Art und Weise reagiert wird. Die Depression kann hier zu einer Verstärkung der dementiellen Symptomatik führen. Eine Behandlung/Therapie der  depressiven Symptome ist deshalb in jedem Fall angezeigt . 

3. 4  Klassifikation der Demenzen


 Den Demenzen liegen verschiedene Krankheiten zugrunde. Es werden dabei im allgemeinen primäre und sekundäre Demenzen unterschieden . Die Zuteilung der verschiedenen dementiellen Erkrankungen zu diesen Gruppen wird allerdings nicht ganz einheitlich vorgenommen. 
 Die primären Demenzen, denen ein pathologischer Abbauprozeß des Gehirns zugrunde liegt, machen zahlenmäßig den größten Anteil aus (ca. 80-90 %) . In dieser Gruppe bilden die degenerativen Demenzen die größte Untergruppe (ca. 60 %). Hierzu zählen vor allem die Demenz vom Alzheimer-Typ (D.A.T.), dann die Picksche Erkrankung, Chorea Huntington, die Parkinson Demenz (die z.T. auch als sekundäre Demenz aufgeführt wird) und andere seltenere Erkrankungen . Die Häufigkeit der sogenannten vaskulären Demenzen (D.V.T.) liegt bei ca. 13-20 % . Zu ihnen gehören vor allem die Multi-Infarkt-Demenz (M.I.D.), dann - vermutlich -  der Morbus Binswanger und die thalamische Demenz (letztere wird z.T. auch den sekundären Demenzen zugerechnet). Mischformen der Demenz vom Alzheimer-Typ und der vaskulären Demenzen machen ca. 11 % der primären Demenzen aus . Beim verbleibenden Anteil (ca. 10-20 %) handelt es sich um sekundäre Demenzen. Abbildung 1 veranschaulicht die Zahlenverhältnisse. 
 


Abb. 1: Dementielle Erkrankungen und ihre jeweiligen Häufigkeiten


 

3. 5  Primäre Demenzen

 Im folgenden sollen zwei der primären dementiellen Erkrankungen herausgegriffen und in ihren Erscheinungsbildern, Verläufen und Entstehungszusammenhängen näher beschrieben werden: Die Demenz vom Alzheimer-Typ und die Multi-Infarkt-Demenz, die nach heutigem Wissensstand die häufigsten dementiellen Erkrankungen darstellen. Bezüglich einer Erläuterung der selteneren Demenzerkrankungen verweise ich auf die einschlägige Literatur . 

3. 5. 1  Die Demenz vom Alzheimer-Typ

 Die Demenz vom Alzheimer-Typ, die als die häufigste aller Demenzformen gilt,  läßt sich nicht mit hundertprozentiger Sicherheit, sondern nur durch Ausschluß anderer Erkrankungen diagnostizieren. Da die Diagnose der D.A.T. in ca. 20 % der Fälle falsch positiv gestellt wird, unterscheidet die Arbeitsgruppe des National Institute of Neurological and Communicative Disorders and Stroke und der Alzheimer’s Disease and Related Disorders Association (NINCDS/ADRA) eine wahrscheinliche, mögliche und gesicherte Diagnose. Als gesichert gilt sie erst nach histopathologischer Bestätigung der Hypothese . 

 Im DSM-IV  werden  als  diagnostische  Kriterien  für  eine Demenz vom Alzheimer-Typ - es werden eine frühe, d.h. vor dem 65. Lebensjahr einsetzende und eine späte Form unterschieden - ein schleichender Beginn mit meist progredientem Verlauf und allmählicher Verschlechterung der kognitiven Leistungen genannt. Die kognitiven Defizite lassen sich dabei nicht auf andere spezifische Ursachen einer Demenz, ein Delir, eine psychische oder auch substanzinduzierte Erkrankung zurückführen . 

3. 5. 1. 1  Verlauf und Erscheinungsbild
 Entscheidendes Kriterium ist also (nach entsprechenden internistischen, neurologischen und psychiatrischen Ausschlußuntersuchungen) der anamnestisch erhobene und prospektiv zu erhebende Verlauf der Erkrankung. 

 Es liegen mittlerweile verschiedene Vorschläge vor zur (idealtypischen) Beschreibung des Verlaufs der Demenz vom Alzheimer-Typ in Stadien, die nach Gutzmann geeignet sein können, „den klinischen Blick zu schärfen“ und „den natürlichen Verlauf einer Krankheit einigermaßen verläßlich einzuschätzen“ . Neben z.T. schon zu Beginn der 50er Jahre entworfenen Dreistufenmodellen ist heute vor allem das Sieben-Stadien-Modell von Reisberg et al. das verbreitetste und bekannteste. Hier wird  - ausgehend von einer groben Einteilung in die drei Stadien Vergeßlichkeit, Konfusion und Demenz  - versucht, eine feinere differenziertere Einteilung zu entwickeln. Die Stadien werden folgendermaßen beschrieben : 

· Stadium I (keine kognitiven Einbußen): Die erste Stufe beschreibt den Zustand eines gesunden Menschen, der weder subjektive noch objektive Einschränkungen aufweist. 

· Stadium II (zweifelhafte kognitive Leistungseinbußen/Vergeßlichkeit): In diesem Schweregrad treten Störungen auf, die nur subjektiv vom Betroffenen festgestellt werden und die diesen verunsichern können. Der Betreffende beklagt sich darüber, vergeßlicher geworden zu sein, z.B. darüber, Gegenstände zu verlegen oder früher vertraute Namen leicht zu vergessen. Es bestehen aber keine objektiven Zeichen für diese Gedächtnisdefizite. Dieses Stadium führt vermutlich nicht zwangsläufig zur Demenz, sondern könnte  als eine Art „gutartige Altersvergeßlichkeit“  aufgefaßt werden. 

· Stadium III (geringe kognitive Einbußen/frühe Konfusion): Im dritten Stadium manifestieren sich die ersten von außen erkennbaren Defizite. Die betreffende Person findet sich an einem fremden Ort nicht zurecht. Mitarbeiter bemerken eine reduzierte Arbeitsleistung, und Freunde und Bekannte stellen Wortfindungsstörungen und Namensfindungsstörungen fest. Der Betreffende verlegt oder verliert Wertgegenstände. Merkfähigkeit und Konzentration lassen nach. Objektive Gedächtnisdefizite lassen sich nur in einem ausführlichen klinischen Interview bzw. in psychometrischen Tests nachweisen. Daneben zeigt sich in diesem Stadium ein Verlust an Initiative, Energie und Spontaneität. Aufgrund der kognitiven Probleme kann es zu  (versteckter)  Unsicherheit, Angst, aber auch zu Reizbarkeit oder Verärgerung kommen. Der Betreffende beginnt, neue oder komplexere Situationen und Aufgaben zu umgehen und Ausfälle zu vertuschen oder verleugnen. Er wirkt meist gestreßt. 

· Stadium IV (mäßige kognitive Einbußen/späte Konfusion): Im sorgfältig durchgeführten klinischen Interview werden eindeutige Defizite offenbar. Die betreffende Person ist schlecht informiert über aktuelle oder kurz zurückliegende Ereignisse. Es bestehen Erinnerungslücken z.B. bezüglich des eigenen Lebenslaufs. Es zeigen sich Probleme bei komplexen Aufgaben. Die Fähigkeit, sich an unbekannten Orten zurechtzufinden nimmt ab; selbständiges Verreisen wird schwierig. Entscheidungsschwierigkeiten und Probleme im Umgang mit Geld werden sichtbar. Das Leugnen von Defiziten ist die dominierende Abwehrstrategie. Hilfe von Freunden oder Angehörigen wird oft als Einmischung empfunden und abgelehnt. In Reaktion auf die zunehmenden Beeinträchtigungen kommt es oft zu depressiven Verstimmungen, vermehrter Angst und Verwirrtheit. Konkurrenzsituationen werden zunehmend gemieden. Weitgehend erhalten bleiben in diesem Stadium noch die Orientierung zu Zeit und Person, die Fähigkeit, vertraute Personen und Gesichter zu erkennen und sich an bekannten Orten zurechtzufinden. 

· Stadium V (mittelschwere kognitive Einbußen/beginnende Demenz): In diesem Stadium der Erkrankung wird die Abhängigkeit des Betreffenden immer größer. Der Betreffende  kann sich meist selbst ankleiden und waschen, benötigt aber Hilfe bei der Auswahl der Kleidung und bei der Entscheidung zur Körperpflege. Schwerwiegendere Gedächtnisprobleme äußern sich jetzt beispielsweise darin, daß die betreffende Person sich nicht mehr an die Adresse, die langjährige Telefonnummer, die Namen naher Familienangehöriger wie der Enkel u.ä. erinnern kann. Weitere Einschränkungen in der örtlichen Orientierung und auch Probleme bezüglich der zeitlichen Orientierung treten auf. Nahe Angehörige wie Partner und Kinder können in der Regel noch erkannt und eingeordnet werden. Der Umgang mit Zahlen (z.B. von 20 an rückwärts zu zählen) bereitet zunehmend Schwierigkeiten. In diesem Stadium kommt es zu einem  weiteren Rückzug aus sozialen Zusammenhängen, die aufgrund der verringerten Flexibilität und Belastbarkeit als Streßsituationen erlebt werden und auf die mit Angst oder Ärger reagiert wird. Des weiteren können die massiven Gedächtnisprobleme zu (ungerechtfertigten) Verdächtigungen z.B. der Angehörigen bis hin zu Verfolgungswahn führen. 

· Stadium VI (schwere kognitive Einbußen/mittelschwere Demenz): Der Betreffende benötigt nun bei nahezu allen alltäglichen Verrichtungen Hilfe, z.B. dabei, sich in einer bekannten Umgebung zurechtzufinden. Er kann  inkontinent werden, da er nicht mehr selbständig die Toilette aufzusuchen vermag. Die Bewegungs- und  Koordinations-schwierigkeiten werden immer größer. Die Gedächtnisfähigkeiten sind nur noch fragmentarisch. Es besteht keine Kenntnis mehr von kurz zurückliegenden Ereignissen und eigenen Erfahrungen; die Erinnerung an die eigene Vergangenheit ist lückenhaft. Oft werden die nächsten Angehörigen nicht mehr erkannt. Der Name des Ehepartners kann vergessen werden, während der eigene Name meist noch erinnert wird. Es wird davon ausgegangen, daß die Kenntnis von Umweltbedingungen wie Jahreszeit oder anderen Hinweisen auf Zeit und Ort verloren geht. Der Tag-Nacht-Rhythmus ist meist gestört. Der Umgang mit Zahlen ist nun noch stärker eingeschränkt: der Betreffende kann nun nicht mehr von 10 an rückwärts zählen, oft auch nicht mehr vorwärts. Auffällig werden Persönlichkeitsveränderungen und psychische Störungen, die nun offen zum Ausdruck kommen, wie z.B. Angst, Unruhe, Aggressionen, Verfolgungsgedanken und andere Wahnvorstellungen, Zwänge und  Halluzinationen. 

· Stadium VII (sehr schwere kognitive Einbußen/sehr schwere fortgeschrittene Demenz): Im letzten Stadium kommt es oft zu einen totalen Sprachverlust, so daß eine verbale Verständigung nicht mehr möglich ist. Es manifestiert sich ein Verlust ganz grundlegender psychomotorischer Fähigkeiten: die betreffende Person wird geh- und sitzunfähig, verlernt es zu lächeln und schließlich den Kopf zu halten. Atem- und Schluckprobleme erschweren die Nahrungsaufnahme. Gefühle und Empfindungen bleiben bis zuletzt erhalten. Am Ende steht der Stupor, gefolgt vom Tod durch verschiedene Begleit-erkrankungen. 

 Die Autoren Reisberg et al. gehen davon aus, daß die Demenz vom Alzheimer-Typ in ihrer Entwicklung gesetzmäßig diese verschiedenen Stadien ohne größere Abweichungen durchläuft und daß damit dementielle Prozesse anderer Ätiologie durch ihre spezifischen Verlaufscharakteristika abgrenzbar sind . 
 Diesbezüglich ist jedoch auf gegenteilige Ansichten hinzuweisen, die hervorheben, daß der Verlauf der D.A.T. in der Regel mehr oder minder erhebliche interindividuelle Unterschiede aufweist. So konstatiert Gutzmann: „Die tägliche Erfahrung legt zwar einen mehr oder weniger regelhaften Verlauf der Demenz vom Alzheimer-Typ nahe, immer wieder beobachtete Verlaufsbesonderheiten lassen aber einige Vorsicht bei der Annahme eines allzu starren Verlaufsmodells geraten erscheinen. Allein die Tatsache, daß in verläßlich untersuchten Einzelfällen Krankheitsdauern von mehr als 20 Jahren beschrieben werden, während die sich aus vielen Studien ergebende mittlere Krankheitsdauer nur 8-9 Jahre beträgt, sollte Zurückhaltung lehren“ .  Lyman weist darauf hin, daß „(...) there is considerable evidence contradicting the assumption of universal stages of progressive impairment, mainly from longitudinal communitiy surveys in the United States, Great Britain and Scandinavia (...)“ . Variationen im Krankheitsverlauf werden u.a. in Zusammenhang gebracht mit der Intelligenz und kognitiven Fähigkeiten vor Krankheitsbeginn, der Persönlichkeit, der Art des Problemlöseverhaltens, dem Familienstatus, der Unterstützung durch Angehörige und Pflegende und der Gestaltung der Umwelt . 

 Das Festhalten an einem Stadienmodell läßt sich im Sinne einer Suche nach Ordnung verstehen.  „The widespread acceptance of the notion of disease stages is understandable for caregivers and service providers, who seek structure, order, and control in their attempts to ‘do something’ for the demented persons and the family (...). Making plans for the future is not possible unless the disease course is somewhat predictable“ . 
Festzuhalten bleibt: die Problematik von Stadieneinteilungen wie der oben aufgeführten liegt in der Unterstellung eines einheitlichen Verlaufs, der die Abhängigkeit von psychosozialen Bedingungen, unter denen der Betreffende lebt, und die einen kompensierenden, aber auch potenzierenden  Effekt haben können, unberücksichtigt läßt. 

 3. 5. 1. 2  Entstehungszusammenhänge


 Die Entstehungszusammenhänge der Demenz vom Alzheimer-Typ sind bis heute noch nicht erkannt worden. Ich möchte in diesem Rahmen nur vergleichsweise kurz auf die biologischen Grundlagen der D.A.T. und die Hypothesen bezüglich der Ursachen dieser Erkrankung eingehen und versuchen, übersichtsartig grundlegende Ergebnisse und Überlegungen darzustellen. 

 Die Hirne an Alzheimer Erkrankter weisen zunächst eine Reihe von morphologischen Auffälligkeiten auf. So zeigen sich eine Hirnatrophie, ein neuronaler und synaptischer Verlust in bestimmten Hirnarealen, extrazelluläre Gebilde wie Plaques und Hiranokörperchen, Anhäufungen abnormer Eiweißstäbchen im Zytoplasma von Neuronen (sog. neurofibrilläre Bündel), Eiweißablagerungen in den kleinen Blutgefäßen und eine granulovakuoläre Degeneration von Neuronen. 
 Da diese physikalisch faßbaren Veränderungen in den Hirnarealen auftreten, die für die Steuerung der Funktionen zuständig sind, die bei der D.A.T. am schwersten gestört sind, wird meist davon ausgegangen, „daß sich über diese Veränderungen im Gehirn viele der geistigen Einbußen erklären lassen, denen Alzheimer-Patienten unterliegen“ . 
 Die Auffälligkeiten sind allerdings - und dies macht sehr deutlich, daß noch viele Fragen ungeklärt sind - nicht spezifisch für die Alzheimersche Erkrankung. Sie kommen erstens teilweise auch bei anderen dementiellen Erkrankungen vor. Zweitens zeigen sie sich auch teilweise - in geringerer Anzahl - in den Gehirnen gesunder alter Menschen. Diesbezüglich kann heute nach Wettstein „noch nicht endgültig entschieden werden, ob es eines speziellen Anstoßes bedarf (z.B. Infektion oder Intoxikation), um aus einem normalen Alterungsprozeß einen pathologischen werden zu lassen, oder ob das sogenannte ‘pathologische Altern’ des Alzheimer-Patienten lediglich das extreme Ende einer biologischen Verteilung darstellt“ , d.h. daß es sich nur um eine Normvariante des physiologischen Alterns handelt. Des weiteren ist darauf hinzuweisen, daß auch Personen mit nur geringgradigen neurodegenerativen Veränderungen bereits deutliche Demenzzeichen aufweisen können . 
 Obwohl es bis heute schon erhebliche Fortschritte gibt, was das Verständnis der molekularen Struktur vor allem der Plaques und der neurofibrillären Bündel und der Pathogenese der Eiweißablagerungen anbelangt, sind der neuronale und synaptische Verlust und vor allem die Beziehung der Auffälligkeiten zum dementiellen Syndrom letztlich nicht geklärt . 

 Neben diesen morphologischen Auffälligkeiten zeigen sich auch biochemische Veränderungen im Gehirn bei der Alzheimerschen Erkrankung. Diese manifestieren sich einmal in einer verringerten Konzentration verschiedener Neurotransmitter und damit in Beziehung stehender Enzyme. Dies führt zu einer gestörten Kommunikation zwischen den Hirnarealen. Diesen verringerten Botenstoffkonzentrationen entsprechen Degenerationen von Neuronen in den Transmittersystemen (was hier Ursache und was Folge ist, ist umstritten). Der Anteil der Störungen in den  Transmittersystemen an der Ausprägung einer Demenz ist noch unklar : so zeigte sich z.B. bei Patienten mit einer fortgeschrittenen Demenz vom Alzheimer-Typ, daß die Aktivität eines Transmitter aufbauenden Enzyms und auch die Anzahl der Neuronen noch weitgehend erhalten waren. 
 Verminderte Hirndurchblutung und verringerter Sauerstoff- und Glukosehirnstoffwechsel sind weitere neurochemische Auffälligkeiten bei der D.A.T. (und allerdings auch bei den vaskulären Demenzen). Messungen ergeben, daß der Glukosehirnstoffwechsel bereits sehr früh bei nur leichten Gedächtnisbeeinträchtigungen gestört ist, was auf die Bedeutung metabolischer Veränderungen bei der Entwicklung neuropsychologischer Defekte hinweist . Bei histopathologischen Untersuchungen tritt eine reduzierte Aktivität der wichtigsten Enzyme des Glukose- und Energiestoffwechsels zutage. Wichtig erscheint dieses Ergebnis deshalb, da eine auch nur geringe Minderung der Glukoseoxydation zu beeinträchtigen kognitiver Funktionen führt . 

 Nicht nur die Bedeutung dieser verschiedenen Veränderungen ist unklar, sondern auch deren Ursachen sind nicht geklärt. Die Ätiologie der Demenz vom Alzheimer-Typ ist bis heute unbekannt. Es werden verschiedene Krankheitsursachen diskutiert. 
 So scheint beispielsweise den genetischen Faktoren dabei eine wesentliche Bedeutung zuzukommen. So ist für Verwandte ersten Grades von Alzheimer-Betroffenen das Erkrankungsrisiko höher als in der Normalbevölkerung; und zwar - so zeigt sich nach erneuter Analyse zurückliegender Studien - gilt dies sowohl für früh als auch für spät einsetzende Formen. Allerdings besteht dieses erhöhte Risiko auch, wenn der Angehörige von einer anderen neurologischen Erkrankung betroffen ist . Es gibt allerdings auch viel sogenannte sporadische Erkrankungen: bei mindestens 60 % aller Betroffenen läßt sich keine familiäre Belastung fassen . Nach Bauer kommen ‘sporadische’ Alzheimer-Erkrankungsfälle sogar „keinesfalls sporadisch vor, sondern repräsentieren die Mehrheit von über 90 % aller Alzheimer-Erkrankungen“ . 
 Des weiteren zeigt sich ein Zusammenhang zwischen der Demenz vom Alzheimer-Typ und Morbus Down. So konnte das Gen der Amyloid(=Eiweiß)-Ablagerungen auf dem Chromosom 21 identifiziert werden, das bei Menschen mit Morbus Down dreifach vorliegt. Das Risiko für Menschen mit einem an Morbus Down erkrankten Verwandten ersten Grades, an einer D.A.T. zu erkranken, ist auch tatsächlich erhöht . 
 Weitere Hypothesen bezüglich der Ätiologie der Demenz vom Alzheimer-Typ beziehen sich z.B. auf toxische Faktoren (wie Aluminium, Blei, organische Lösungsmittel oder auch biologische Neurotoxine), auf  infektiöse Faktoren wie unkonventionelle ‘slow-Viren’ ähnlich wie bei anderen dementiellen Erkrankungen (beispielsweise Kuru) und auf  immunologische Faktoren im Sinne von Störungen im Autoimmunsystem, die z.B. auch bei Chorea Huntington eine Rolle spielen . Es kann jedoch bis jetzt keine der Hypothesen die Krankheitsentstehung überzeugend erklären. Im allgemeinen wird heute von einer multifaktoriellen Entstehung dieser Erkrankung ausgegangen . 

 Interessant erscheinen Hypothesen, die die Möglichkeit psychosozialer (Mit-)Verursachung der Demenz vom Alzheimer-Typ postulieren und sich von der Vorstellung von einer rein organischen Ätiologie lösen (letztere steht übrigens in der Regel auch hinter der Anwendung des Begriffs der multifaktoriellen Genese). 
 Verschiedene (tier)experimentelle Studien konnten beispielsweise zeigen, „daß psycho-soziale Umgebungsfaktoren signifikante Effekte auf morphologische Parameter der Hirnrinde, insbesondere auch auf die Zahl der synaptischen Verschaltungen zwischen Nervenzellen haben“ . So können anhaltender psychischer Streß, Inaktivität und auch eine reizarme Umgebung einen signifikanten Beitrag zu neurodegenerativen Veränderungen leisten . „Da neuronale Plastizität auch im Alter von Bedeutung ist, sind Überlegungen, daß dauerhafte Störungen zwischen Individuum und psychosozialer Umwelt zu funktionellen und schließlich morphologischen Veränderungen des ZNS führen und einen dementiellen Abbau begünstigen können keineswegs abwegig“ . 
 In diesem Zusammenhang sind die Ergebnisse einer qualitativen retrospektiven Analyse von Bauer et al. von prämorbiden Lebensläufen von Alzheimerkranken interessant, die darauf hindeuten, daß bestimmte prämorbide Persönlichkeitsmerkmale, Beziehungsmuster zu bedeutsamen Bezugspersonen und Lebenssituationen im Vorfeld der Erkrankung bei der Entstehung der Demenz vom Alzheimer-Typ eine Rolle spielen könnten . Unter den in diese Studie einbezogenen Alzheimerkranken fanden sich gehäuft Personen mit einer konfliktvermeidenden, sich unterordnenden prämorbiden Persönlichkeit, was sich besonders auch langjährig in den Partnerschaften der Betroffenen zeigte. Im zeitlichen Vorfeld der Erkrankung wird eine jahrelange Deaktivierungsentwicklung deutlich: das Überlassen wichtiger Alltagsentscheidungen an andere und Eingriffe und Einengungen in der Selbstbestimmung durch dominierende Bezugspersonen. Vermehrt waren die Betreffenden in ihrer prämorbiden Entwicklung auch stärkeren psychischen oder physischen Belastungen, verbalen Herabsetzungen, Verlusten von sozialen Kontakten und/oder als besonders belastend und streßreich erlebten Verlusten von wichtigen motivationalen Bereichen ausgesetzt (z.B. durch den Auszug der Kinder). Zuspitzungen und Konflikte in der Partnerschaft traten vermehrt auf: das vormals bestehende psychosoziale Arrangement zerbrach . Diese psychosozialen Phänomene könnten Teil eines präklinischen Prozesses sein, „bei dem biologische, psychologische und soziale Faktoren wechselseitig zusammenwirken, um schließlich in das ‘klinische’ Stadium der Krankheit einzumünden“ . 
 Andere Studien beschreiben vor Einsetzen einer Demenz vom Alzheimer-Typ bei den Betroffenen eine verminderte Aktivität, depressive und andere psychische Störungen und eine Häufung von Streßereignissen. Diese Auffälligkeiten traten oft bereits zehn Jahre vor dem Einsetzen erster neuropsychologischer Symptome auf; sie können also nicht ohne weiteres nur als Folge einer bereits eingetretenen präklinischen Demenz interpretiert werden . 

 Trotz unbezweifelbarer Fortschritte der naturwissenschaftlich ausgerichteten Medizin dürften neue Impulse in der Ursachenforschung zukünftig vor allem von integrativen bio-psycho-sozialen Modellen „unter Aufgabe linear-kausaler und einfacher kybernetischer Modelle“   ausgehen. 
 

3. 5. 2   Die Multi-Infarkt-Demenz


 Die  Multi-Infarkt-Demenz gilt als die häufigste der vaskulären Demenzen und als die zweithäufigste Demenz nach der Demenz vom Alzheimer-Typ. Allerdings besteht nach Mielke und Kessler die Möglichkeit einer Überdiagnose aufgrund der hohen Sensibilität der histopathologischen Untersuchungen in Bezug auf Gefäßprozesse. Zudem zeigt sich bei älteren Menschen oft eine Koinzidenz von radiologisch sichtbaren Infarkten und Demenz  . 

 Nach dem DSM-IV werden für die Diagnose (in der neuesten Fassung wird anstelle des Begriffs der Multi-Infarkt-Demenz der der vaskulären Demenz benutzt) neurologische Fokalsymptome und -zeichen als erforderlich erachtet oder Laborbefunde, die auf eine zerebrovaskuläre Erkrankung hinweisen und die als ursächlich für das Störungsbild eingeschätzt werden. Das DSM-III-R bezieht sich noch konkret auf die Multi-Infarkt-Demenz und nennt als Kriterien eine schrittweise Verschlechterung mit anfangs ‘inselförmiger’ Verteilung der Ausfälle und neurologische Herdsymptome und/oder Hinweise für eine cerebrovaskuläre Erkrankung, die als ursächlich für das Störungsbild eingeschätzt werden . 
 

3. 5. 2. 1 Verlauf und Erscheinungsbild


 Das Erscheinungsbild und der Verlauf der Multi-Infarkt-Demenz ist im Vergleich zur Demenz vom Alzheimer-Typ viel variabler. Dies ist aufgrund der zugrundeliegenden Prozesse verständlich: größere und kleinere Infarkte treten zu unterschiedlichen Zeitpunkten in verschiedenen Hirnarealen auf. 

 Die einzelnen Infarkte führen zu sogenannten fokalen neurologischen Störungen, den Herdsymptomen, d.h. „zu einer Pathologie, die in bestimmten Bereichen des Gehirns lokalisiert werden kann“ . Beispiele für diese fokalen Symptome sind neben den weiter oben beschriebenen typischen  Demenzmerkmalen  wie  Gedächtnisstörungen,  Aphasie, Apraxie etc.  zusätzliche  Beeinträchtigungen  wie   z.B.  halbseitige  Lähmungen  und Gefühlsstörungen, Neglecte und Störungen der Sprechmuskulatur (Dysarthrie). Die Persönlichkeit soll bei an einer Multi-Infarkt-Demenz Erkrankten vergleichsweise  lange erhalten bleiben . Auffällig scheint eine emotionale Labilität und eine Neigung zu Depressionen zu sein .  Während davon ausgegangen wird, daß ungefähr jeder 7. bis 5. von einer Demenz vom Alzheimer-Typ Betroffene an einem depressiven Syndrom leidet, soll es bei der Multi-Infarkt-Demenz jeder 5. bis 3. sein . 

 Der Verlauf der Multi-Infarkt-Demenz zeichnet sich im Vergleich zur Demenz vom Alzheimer-Typ durch einen eher abrupten Beginn und eine schrittweise Verschlechterung aus. Der Verlauf ist episodisch und fluktuierend mit zahlreichen Remissionen und seltener gleichförmig progredient. Der durchschnittliche Verlauf wird in Abbildung 2 deutlich. Es fällt eine starke Verschlechterung der intellektuellen Fähigkeiten nach jedem Infarktereignis auf. Mit der Zeit allerdings stabilisieren und bessern sich die kognitiven Fähigkeiten wieder etwas. Es kommt  zu  einer  Rückbildung  der  Störungen. Die kognitiven Fähigkeiten erreichen aber nicht  mehr das vorherige Ausgangsniveau.  Jeder  Infarkt bringt  so  weitere Beeinträchtigungen mit sich, da immer mehr Anteile des Gehirns in ihrer Morphologie oder Funktion gestört werden. Die Verteilung der Ausfälle kann dabei als ‘inselförmig’ beschrieben werden,  d.h.  in frühen Stadien können lediglich einige Funktionsbereiche betroffen sein, andere hingegen können noch relativ lange intakt sein. 
 
 

Abb. 2: Verlauf der Demenz vom Alzheimer-Typ (D.A.T.) im Vergleich zur Multi-Infarkt-Demenz (M.I.D.)

3. 5. 2. 2 Entstehungszusammenhänge
 Der Multi-Infarkt-Demenz liegen - wie der Name bereits deutlich macht - multiple, multilokale  kleine und größere Infarkte zugrunde. Da auch singuläre Infarkte an kritischen Stellen oder eine chronische Minderdurchblutung des Marklagers ein dementielles Syndrom verursachen können (wie bei der thalamischen Demenz oder bei Morbus Binswanger), sollten nach Mielke und Kessler die Begriffe Multi-Infarkt-Demenz und vaskuläre Demenz nicht synonym gebraucht werden . 

 Infarkte sind akute Durchblutungsstörungen des Gehirns im Sinne einer verminderten Durchblutung. Die wichtigsten Ursachen dieser Minderdurchblutung bestehen in arteriosklerotischen Gefäßveränderungen, Thrombosen und Embolien . Bei der Arteriosklerose handelt es sich um eine Verhärtung und Verengung der Arterien bzw. der Schlagadern aufgrund von Ablagerungen durch Blutfette, Kalk und Bindegewebe an den Gefäßinnenwänden. Durch Thromben (Blutgerinnsel) und Emboli (Partikel, meist losgelöste Teile eines Thrombus) können die Gefäße ganz verschlossen werden. Die von dem  entsprechenden  Gefäß  versorgten  Hirnareale  werden  bei  einem  Infarkt  deshalb - auch über Seitenwege und Umgehungskreisläufe - nicht mehr ausreichend mit Blut versorgt. Es kommt zu funktionellen Beeinträchtigungen und/oder zu morphologisch faßbaren Schäden. Ausmaß und Schwere der Schädigungen hängen dabei von der Dauer der Unterbrechung der Blutzufuhr, von der Größe des betroffenen Gewebes und von der Lokalisation ab. Ein wesentlicher Faktor ist schließlich eine möglichst früh einsetzende Akutbehandlung. Da diese allerdings in ihren Möglichkeiten noch beschränkt und umstritten ist, kommt der Sekundärprävention - vor allem im Sinne einer Änderung der gefährdenden Lebens-gewohnheiten, aber auch einer Behandlung der anderen Risikofaktoren - eine erhebliche Bedeutung zu (auf die Risikofaktoren der Infarkte werde ich weiter unten zu sprechen kommen). Es gilt, das Auftreten weiterer Infarkte zu vermeiden angesichts drohender drastischer Folgen eines Rezidivs, zumal das Infarktrisiko nach einem bereits abgelaufenen Infarkt bei 10 % im darauffolgenden Jahr liegt . 

 Zu einem dementiellen Syndrom infolge der Infarkte kommt es vermutlich erst, wenn ein bestimmtes Schwellenwertvolumen von 50-100ml infarzierter Hirnsubstanz überschritten worden ist . Allerdings spielt auch die Lokalisation der Infarkte eine Rolle, da in bestimmten Hirnarealen ein gute Kompensation der Substanzverluste möglich ist. Auch gibt es Annahmen, daß es erst zu einer Demenz kommt, wenn beide Hirnhälften betroffen sind . 
 Ist es zu einem dementiellen Syndrom gekommen, ist dies - wie Wettstein feststellt - „eigentlich nicht behandelbar, weil der Hirnschaden irreversibel ist“ . Sofern aber der den Infarkten zugrundeliegende Prozeß behoben werden kann, ist die Multi-Infarkt-Demenz zwar meist nicht völlig reversibel, aber doch zumindest regressiv . So zeigt sich z.B. bei einer Blutdrucksenkung und/oder einer Aufgabe des Rauchens eine Verbesserung der kognitiven Fähigkeiten . Die Bedeutung einer genauen Differentialdiagnose der vaskulären Demenzen wird hier offenkundig. 

 Wie beschrieben, hängt das Auftreten von Infarkten eng mit arteriosklerotischen Gefäßveränderungen zusammen. Zu bemerken ist, daß es sich hierbei nicht um eine isolierte Hirnarteriosklerose handelt, sondern um Veränderungen im gesamten Gefäßsystem. Dementsprechend „prädisponiert die periphere Arteriosklerose im Herz, in den Extremitäten und dem Rest des cardiovaskulären Systems für eine M.I.D“ . Als Risikofaktoren für die Arteriosklerose bzw. für die sich potentiell wiederholenden Infarkte gelten in erster Linie Bluthochdruck, dann Herzinfarkte, Angina Pectoris und andere kardiale Erkrankungen,  des weiteren periphere vaskuläre Erkrankungen, Diabetes Mellitus, transitorische ischämische Attacken, die Einnahme von Hormonpräparaten zur Empfängnisverhütung, das männliche Geschlecht und nicht zuletzt ein höheres Alter . Entscheidend scheint vor allem eine Kumulation verschiedener Risikofaktoren, die die Gefährdung für einen Infarkt überproportional ansteigen läßt. 

 Neben den genannten Faktoren können des weiteren verschiedene psychosoziale Faktoren für Infarkte prädisponieren, wobei die Trennung von somatischen und psychosozialen Risikofaktoren lediglich analytisch sein kann. Realiter muß davon ausgegangen werden, daß sie komplex miteinander verwoben sind und sich wechselseitig bedingen. Zu nennen sind zunächst Faktoren, die unter dem Stichwort Lebensgewohnheiten zusammengefaßt werden können, wie Rauchen und übermäßiger Alkoholkonsum, des weiteren Bewegungsarmut und ein damit zusammenhängendes Übergewicht, die u.a. in enger Beziehung stehen zu Bluthochdruck oder Diabetes Mellitus. Auch wird eine Häufung von Schlaganfällen (deren Ursache zu 80 % eben Infarkte sind) bei übermäßigem Distreß beschrieben . Vermittelnder Faktor könnte hier ein erhöhter Blutdruck sein, hinsichtlich dessen Genese kritische psychosomatische Betrachtungen existieren . 

 Zu diesbezüglich interessanten Ergebnissen ist die weiter oben bereits angeführte retrospektive qualitative Untersuchung von Bauer et al. gekommen, in der ebenfalls die prämorbiden Lebensläufe von vaskulär-dementen Personen analysiert wurden. Die Betreffenden zeichneten sich gegenüber Alzheimer-Erkrankten durch eine zur Selbstbehauptung und Dominanzverhalten neigende prämorbide Persönlichkeit aus, die dem Typ A-Verhalten entspricht, das für die koronare Herzkrankheit beschrieben wurde . Im unmittelbaren Vorfeld der Erkrankung, d.h. des apoplektischen Ereignisses, kam es zu einem als streßreich erlebten Verlust an Kontrolle, die die Betreffenden bislang über ihr Umfeld, vor allem die wichtigsten Bezugspersonen  ausgeübt hatten . 

 Schließlich wird in verschiedenen Studien ein Zusammenhang mit Schicht- bzw. Lebenslagemerkmalen (wie z.B. finanzieller und beruflicher Situation) beschrieben. Zusammenhänge sind hier beispielsweise im Sinne einer schlechteren medizinischen Betreuung von Menschen in benachteiligten  Lebenslagen denkbar . 
 

3. 6  Sekundäre Demenzen

 Sekundäre Demenzen treten als Folge einer Hirnschädigung oder einer körperlichen Erkrankung mit Hirnbeteiligung auf . Oesterreich empfiehlt dementsprechend, „die Bezeichnung primäre Demenz nur jenen Demenz-Formen vorzubehalten, bei denen das pathogenetische Geschehen mehr oder weniger genuin das Zentralnervensystem betrifft und evtl. ‘von außen kommende’ Noxen keine oder nur eine untergeordnete Rolle spielen, als sie den genuinen zerebralen Krankheitsprozeß in Gang setzen“ . Wie in der Darstellung der Entstehungszusammenhänge der D.A.T. und M.I.D. deutlich geworden ist, ist der Beweis für ein solches Postulat allerdings nicht mit letzter Sicherheit zu führen. 

 Eine charakteristische Symptomatik sekundärer Demenzen ist nicht beschreibbar. „Am ehesten ähnelt sie dem Erscheinungsbild der DAT“ . Eine Unterscheidung zwischen primärer und sekundärer Demenz wird in fortgeschrittenen Stadien zunehmend schwierig, zumal bei hochaltrigen Personen häufig auch Mischformen von primärer und sekundärer Demenz auftreten . 

 Der Verlauf sekundärer Demenzen hängt mit der zugrundeliegenden, auslösenden Erkrankung und deren Behandelbarkeit zusammen. „Auch im höheren Lebensalter sind überraschende Besserungen oder Ausheilungen des (sekundären) Demenzsyndroms zu beobachten, wenn die Grunderkrankung einer Behandlung zugänglich ist“ . Sekundäre Demenzen sind also teilweise potentiell reversibel, d.h. wenn die Grundkrankheit geheilt wird, verschwinden die dementiellen Symptome. Eine Heilung scheint  in 10-17 % der Fälle möglich . 

 Als Grundkrankheiten der sekundären Demenzen sind zu nennen : entzündliche Erkrankungen und Infektionen, Hirngefäßkrankheiten, intrakranielle Raumforderungen, Hirntraumen, Epilepsie, Stoffwechselerkrankungen, endokrine Störungen, Mangelkrankheiten, Sauerstoffmangel verursachende Lungen-, Herz- und Blutkrankheiten und verschiedene Intoxikationen. Zu bemerken ist, daß ein Teil der aufgeführten Erkrankungen nicht zwangsläufig zu einer Demenz führen muß, und einige auch einen akuten Verwirrtheitszustand im Sinne eines Delirs hervorrufen können . Als einer medizinischen Therapie zugänglich gilt beispielsweise ein dementielles Syndrom in Folge einer Epilepsie, einer Raumforderung durch einen gutartigen Hirntumor oder eines subduralen Hämatoms oder in Folge von metabolischen Störungen . Grond zieht daraus die Folgerung: „(...) bei Demenz ist therapeutischer Nihilismus falsch, Sekundärdemenzen müssen ausgeschlossen oder behandelt werden. Da bei über der Hälfte aller Verwirrtheitszustände  [gemeint sind sekundäre Demenzen und akute Verwirrtheitszustände im Sinne eines Delirs, U.E.] eine körperliche Grundkrankheit zu finden und durch gezielte Behandlung zu bessern ist, sind auch aufwendige körperliche Untersuchungen zu rechtfertigen“ . 

3. 7  Demenz aus psychosozialer Perspektive

 Psychosoziale Aspekte dementieller Erkrankungen sind bereits als mögliche (mit-) verursachende und als den Krankheitsverlauf mitbestimmende Faktoren angesprochen worden. Eine rein biomedizinische Betrachtung dementieller Syndrome vernachlässigt dies und bedarf diesbezüglich einer Ergänzung. Nur durch die Berücksichtigung und Beachtung einer (auch) psychosozialen Perspektive läßt sich ein umfassendes und vielschichtiges/differenziertes Bild und Verständnis dementieller Erkrankungen und der davon Betroffenen erreichen. Dies kann als Voraussetzung gelten für eine adäquate Begleitung und Unterstützung. 

3. 7. 1  Belastungserleben der (pflegenden) Angehörigen

 So läßt schon die bisherige Darstellung durch die bloße Darlegung der mit einem dementiellen Syndrom verbundenen vielfältigen Störungen und Beeinträchtigungen ahnen, was für ein einschneidendes Lebensereignis eine dementielle Erkrankung für alle Beteiligten darstellen muß. Jedes der Symptome stellt Betroffene und ihre Angehörigen vor täglich neue Situationen, Ängste und Probleme, die es zu bewältigen gilt. 

 In der Literatur fokussiert man vor allem das Krankheits- und Belastungserleben der Angehörigen, vor allem der pflegenden Angehörigen. Sie werden als zweite oder als versteckte Opfer der Erkrankung bezeichnet . 
 Beeinträchtigungen ergeben sich in bezug auf das psychische wie physische Wohlbefinden, auf das soziale Leben, die Berücksichtigung persönlicher Bedürfnisse und die finanzielle Situation.  „Auch wenn eine hohe Variabilität im subjektiven Erleben von Belastungen durch die Pflege eines Demenzkranken besteht, so bedeutet diese Situation in der Regel für die pflegenden Angehörigen insgesamt eine massive Einschränkung eigener Lebensgestaltung und Lebensqualität“ . 
 Probleme und Belastungen in der Pflege eines dementiell erkrankten Angehörigen ergeben sich beispielsweise durch mögliche Inkompetenzgefühle bezüglich der Adäquatheit der eigenen Betreuung. Als aufreibend wird auch die starke zeitliche Beanspruchung erlebt. Oft kommt es zu einer als belastend erlebten starken Beeinträchtigung des sozialen Lebens der Pflegeperson durch das Fehlen anderer Kontakte und den Verlust von Freunden und Hobbys. Dies läßt sich sowohl auf die starke zeitliche Inanspruchnahme als auch auf eigenen Rückzug (z.B. aus Scham) und den Rückzug anderer (z.B. aus Verhaltensunsicherheit) zurückführen. Das Zurückstellen eigener Bedürfnisse kann zu Wut, Aggressionen und Verzweiflung führen. Auch können familiäre Konflikte entstehen z.B. durch erlebte fehlende Unterstützung und Wertschätzung oder dadurch, daß sich Kinder bzw. Partner vernachlässigt fühlen . 
 Die dementielle Erkrankung läßt zudem eine Neudefinition der eigenen Rolle im Verhältnis zum Erkrankten erforderlich werden. „Die Angehörigen sind gezwungen, gegen die jahrzehntelang eingeübten Normen filialen oder partnerschaftlichen Verhaltens zu verstoßen“ . Dies kann massive Schuldgefühle, Unsicherheit und lähmende Entschlußlosigkeit mit sich bringen . 
 In der Partnerschaft bringt die dementielle Erkrankung für den gesunden Partner oft Gefühle der Einsamkeit mit sich: „Die vermutlich bitterste Erfahrung (...) ist die Gewißheit, ‘keinen Partner mehr zu haben’ (...) den Gefährten von einst nicht mehr zu haben (...)“ . Nicht zuletzt bedeutet das Zusammenleben mit einem Demenzkranken ein langsames, mit tiefer Trauer verbundenes Abschiednehmen . 

 Eine ausführlichere Darstellung dieser Thematik kann in diesem Rahmen nicht geleistet werden. Diesbezüglich wird auf die zahlreich erschienene Literatur verwiesen . 

3. 7. 2  Erleben und Reaktionsformen Betroffener

 Bei der Betrachtung der Belastung der pflegenden Angehörigen wird die an einer Demenz erkrankte Person leicht lediglich als Belastungsursache betrachtet. Die Folgen der Erkrankung für den Kranken selbst und die von ihm erlebten Belastungen bleiben in der Regel unberücksichtigt . „Ironically, the interest in the ‘victims’ of Alzheimer’s disease generally does not include an interest in the perspective of the person with dementia. (...) The demented person is viewed as burdensome but not burdened by the illness (...) as a stressor, not as one who is experiencing stress“ . In diesem Sinne sind bislang eher die Erkrankten selbst als versteckte Opfer anzusehen. 

 Auftretende Persönlichkeitsveränderungen und Auffälligkeiten im Verhalten wurden und werden teilweise auch heute noch als durch die zugrundeliegende Hirnschädigung verursacht interpretiert und als für das Umfeld problematisch, weil stark belastend etikettiert.  „These behaviors are almost always treated as something to be eliminated, rather than to be understood as part of self statement [Hervorhebung im Original]“ . Allerdings setzt sich immer mehr die Auffassung durch, daß diese auch als sekundäre Symptomatik bezeichneten Auffälligkeiten nicht direkt auf die Hirnschädigung zurückzuführen sind. Kipp stellt diesbezüglich fest, daß es „soweit es sich nicht um kognitive Einschränkungen handelt, keine klaren Korrelationen zwischen Symptomatik und Degeneration des Hirnsubstrats [gibt]. Die Symptome sind also nicht nur Ausdruck eines Defekts, sondern haben eine andere Bedeutung“ . 

 So werden diese Auffälligkeiten der Persönlichkeit und des Verhaltens heute vermehrt als Reaktionsformen der Betroffenen auf die Demenz und ihre Auswirkungen und auf äußere Umgebungsfaktoren, und somit als mehr oder minder gelingende Versuche der Kompensation und der Bewältigung interpretiert . So formuliert Ronch: „(...) we might reframe ‘problem behaviors’ to appreciate them as problem-solving behaviors  - and as such, expressions of the victim’s internal cognitive and emotional experience of the disease [Hervorhebung im Original]“ . Und Junkers versteht „die verschiedenen, im Umgang schwierigen Eigenheiten des alten Menschen als hilfreiche, individuell sinnvolle Bewältigungsversuche zur Anpassung an Innen- und Außenwelt“ . Damit tritt das Erleben und Empfinden des Betroffenen selbst mehr in den Blickpunkt des Interesses. 

 Strittig ist, inwiefern die Betroffenen in der Lage sind, über ihr Erleben und Empfinden Auskunft zu geben. Ihre Aussagen werden in der Regel aufgrund der kognitiven Beeinträchtigungen als unzuverlässig bezeichnet. Untersuchungen, die anhand von Selbstzeugnissen versuchen, Erleben und Verhalten dementiell erkrankter Menschen zu analysieren, sind dementsprechend rar. „The absence of the patient’s perspective is largely due to the problems of studying this population. Recruitment of subjects still remains difficult. Once recruited, it can be difficult to obtain valid and reliable information from the subjects (...)“ 

 Vorliegende Untersuchungen und Erfahrungen zeigen jedoch, wie Haupt und Kurz betonen, daß an einer Demenz erkrankte Menschen auch mit schwereren Beeinträchtigungen ihre  krankheitsbedingten Einbußen z.T. sehr  bewußt  wahrnehmen - „in zum Teil unerwartet differenzierter Weise“  - und ihre individuellen Bewältigungsversuche zu schildern in der Lage sind . 

 Wie erleben von einer Demenz Betroffene ihre Erkrankung und die damit verbundenen Einbußen? In Selbstdarstellungen äußern von der Alzheimerschen Erkrankung betroffene Personen vor allem Unsicherheit, Ratlosigkeit, Ängstlichkeit und auch Verzweiflung . „Dies führt sehr häufig zu einer schweren Erschütterung des Selbstbildes und einer Minderung des Selbstwertgefühls“ . Die Erkrankten machen in ihren Äußerungen ein großes Bedürfnis nach Hilfsbereitschaft, Nähe, Zuwendung und Verständnis anderer Menschen deutlich und reagieren z.T. mit großer Verzweiflung auf die verständnislose oder auch ablehnende Haltung der Umwelt. Eine allgemeine Ratlosigkeit und Verunsicherung im alltäglichen Kontakt zu anderen Menschen entsteht. Es können Ängste vor einem Achtungs- und Respektverlust bestehen; davor, nicht mehr als ‘normal’ angesehen zu werden. Es wird eine Beschämung empfunden über die verminderte soziale Kompetenz, und Ängste, sich nicht mehr verständlich machen zu können, treten auf. Als problematisch wird auch empfunden, den eigenen Ansprüchen an sich selbst nicht mehr gerecht werden zu können. 

 Die Reaktionen hierauf sind unterschiedlich. Häufig sind Rückzugstendenzen. Die Gesprächsinitiative vermindert sich und potentiell ‘kränkenden’ Situationen wird ausgewichen. Auch Verleugnung und Verdrängung sind in vielen Fällen anzutreffen. Beeinträchtigungen werden zumindest nach außen verleugnet. Es werden Verlegen-heitsantworten gegeben, um die alltägliche Kommunikation zu bewältigen. Große Verunsicherungen des Selbstwerts, Vereinsamung und Ausgrenzung verursachen Traurigkeit und depressive Verstimmungen. Aber auch aktive Formen der Bewältigung im Sinne des Versuchs einer angemessenen Einschätzung der eigenen Kompetenzen, um Über- aber auch Unterforderung zu vermeiden, und Suche nach Unterstützung durch andere werden geschildert . 

3. 7. 3   Bedrohung der Identität durch die Demenz

 Um sich der Situation und Erlebniswelt dementiell erkrankter Menschen zu nähern, können neben Selbstzeugnissen auch sozialwissenschaftliche Konzepte, z.B. aus der (Medizin-) Soziologie, dienlich sein. „Recent efforts in medical sociology to study the perspective of persons suffering from chronic illness offer valueable concepts and methodologies for studying the experience of the individual with dementia“ . Ein solches Konzept ist beispielsweise das der Identität. In der betrachteten Literatur finden sich diesbezüglich verschiedentlich Hinweise einer Bedrohung der Identität durch die Demenz. Diese sollen im folgenden skizziert werden. 

 Es wird die existentielle Bedrohung, die die dementielle Erkrankung für die betroffenen Personen darstellen muß, beschrieben. Die Demenz bringt eine Bedrohung der Identität in ihrem Kern mit sich. Eindrücklich ist die Rede von Auflösung („dissolution“) und dem Verlust des Selbst („the loss of self“) . Hierzu eine Äußerung einer Betroffenen: „Wissen Sie, es ist so, als würde mir der Kern fehlen. Ich bin leer, ich lebe ja nicht mehr“ . 

 So sind zunächst die identitätsstiftenden Beziehungen zur Umwelt gestört. Aufgrund der Einschränkungen der intellektuellen Wahrnehmungs-, Verknüpfungs- und Verarbeitungsleistungen kann es zu einer Schwächung oder sogar zu einem Abreißen der Verbindung zur Realität kommen . Die Umwelt bzw. die äußere Realität wird unverständlich und unerklärlich für die Betroffenen. Die schwache oder fehlende Beziehung zur dinglichen, situativen und personellen Umwelt, d.h. die mangelnde Orientierung hinsichtlich der äußeren Situation, kann dazu führen, daß die an einer Demenz erkrankte Person in einer mehr oder minder von der äußeren Realität entfernten  subjektiven Innenwelt lebt, „in  der es kaum noch ‘verstehende’ Kontakte zur Außenwelt gibt“ . Verstärkt werden kann dieser Prozeß durch (zunehmende) Störungen der verbalen Kommunikationsfähigkeit. 

 Hinzu kommt, daß durch die Beeinträchtigungen des Gedächtnisses und der Merkfähigkeit die zeitliche Kontinuität der Erfahrung brüchig wird und schließlich ganz auseinanderfällt . „Es gelingt dem Patienten kaum noch, das gegenwärtig Geschehende als vorläufiges Endglied einer Ereignisfolge einzuordnen. Gleichzeitig wird der auf dem Bisherigen aufbauenden Vorausschau der Boden entzogen“ . Der Betroffene ist mehr oder weniger des Vergangenheits- und des Zukunftshorizonts beraubt. Die für ihn unverständlichen Situationen stehen in einer beziehungslosen Abfolge. Es „(...) besteht kein Gefühl mehr von vorher/nachher in der Dimension der Zeit: Gestern - heute - morgen kann nicht mehr differenziert werden. (...) Es gibt keine Zusammenhänge mehr“ . Die unmittelbare Gegenwart gewinnt eine überwertige Bedeutung. Der dementiell Erkrankte „erlebt sich in jedem Moment neu und abgeschnitten von dem ‘eben gerade’“ . Betroffene beschreiben dies so: „Es hat so wenig Vorleben“  und „I have not the vaguest idea about time, only after being a professor of history for thirty-one years, it’s kind of weird to think I no longer have a sense of time and sense of change“ . Die Einheit des Selbsterlebens, die nur als eine geschichtliche denkbar ist, wird hierdurch gestört. 

 Des weiteren kommt es im Zuge der Gedächtnisbeeinträchtigungen zu einem zunehmendem Verlust des Selbstwissens, also des Wissens um die eigene Person in ihren Gegenwarts- wie Vergangenheitsaspekten. Die Lernstörungen beeinträchtigen zugleich das Behalten und die Integration  neuer  selbstbezogener  Informationen .  „Am  schlimmsten ist der Verlust des Wissens um das eigene Selbst, wenn Fakten der Biographie, das Bewußtsein von Fähigkeiten, Schwächen und Empfindsamkeiten der eigenen Person immer unzuverlässiger zur Verfügung stehen und die Umrisse der Identität sich allmählich auflösen“ . Diese Störung der Erinnerung an selbstbezogenes Wissen führt zu einer Beeinträchtigung kognitiver und emotionaler Selbststrukturen und -prozesse und gefährdet damit die personelle Kontinuität und Identität der Betroffenen. 

 Auch aus psychosomatischer Sicht wird eine Bedrohung der Identität durch die Demenz angedeutet. Es wird eine im Laufe der Zeit zunehmende Störung der Körperwahrnehmung beschrieben, „die als Entfremdung oder Dissoziation des körperlichen vom psychischen Erleben“  charakterisiert werden könnte. So werden beispielsweise die eigenen Haare als Perücke bezeichnet oder der eigene Körper bzw. Körperteile als der eigenen Person nicht zugehörig betrachtet. So beschreiben Wojnar und Bruder: „Die kräftigen Schläge und Tritte, die sie austeilte, entschuldigte eine weitere Heimbewohnerin mit der Bemerkung: ’Es tut mir leid, ich bin es aber nicht, nur meine Hände’ und ein Bewohner, der soeben eine Glasscheibe zertrümmert hatte und mit blutiger Hand herumlief, lehnte einen Verband ab mit den Worten: ‘Lassen sie mich in Ruhe! Ich habe mit der Hand nichts zu tun!’“ . 

 Neben den beschriebenen primär mit einer Demenz verbundenen Auswirkungen auf die Identität der Betroffenen bestehen zudem als sekundäre Folgen Veränderungen im Leben und im Selbstverständnis der Betroffenen. Nach Charmaz leidet ein chronisch Kranker unter einem eingeschränkten Lebensstil, sozialer Isolation, einer Diskreditierung des Selbst und dem Gefühl, eine Last zu sein, was zu einem Verlust des Selbstwertgefühls oder einer Zerstörung des Selbstbildes führen kann . „This perspective provides an organized way of looking at the source and impact of various losses sustained by individuals with Alzheimer’s disease (...)“ . Durch eine chronische Krankheit kann der Lebensstil mehr oder minder eingeschränkt werden. Im Zuge eines dementiellen Syndroms muß schon bei leichten Formen oder in anfänglichen Stadien mit Einschränkungen umgegangen werden. Auftretende Schwierigkeiten bei bedeutsamen Tätigkeiten, die auch einen hohen symbolischen Wert an Unabhängigkeit haben, wie die Regelung finanzieller Angelegenheiten, der Beruf oder auch das Autofahren etc., wirken sich negativ auf das Kontrollerleben des Betroffenen aus. Zur sozialen Isolation kann es kommen, wenn der Betroffene aufgrund seiner Beeinträchtigungen zu wichtigen Tätigkeiten nicht mehr in der Lage ist. Wenn der Beruf aufgegeben werden muß, Freizeitaktivitäten nicht mehr ausgeübt werden können und Schwierigkeiten bestehen, Beziehungen zu anderen aufrechtzuerhalten und zu pflegen, besteht die Gefahr der Isolation. Die Erhaltung des Selbstbildes, das durch soziale Beziehungen entwickelt und aufrechterhalten wird, ist hierdurch gefährdet. Eine Diskreditierung des Selbst erfährt der Betroffene durch die kognitiven Beeinträchtigungen im Zuge eines dementiellen Syndroms, die dazu führen, daß sowohl eigene Ansprüche an sich selbst als auch Erwartungen anderer zunehmend nicht mehr erfüllt werden können. Eine wachsende Abhängigkeit von anderen in immer mehr Bereichen schließlich können dem dementiell Erkrankten das Gefühl geben, nutzlos und wertlos zu sein und eine Belastung für die anderen darzustellen. 
 Diese vielfältigen Veränderungen im Leben und im Selbstverständnis des Betroffenen (Erfahrungen mit eigenem Versagen, mit ungewohnten Hilfsmaßnahmen, neuer Aufgabenzuteilung etc.) „führen oft zu einem leidensvollen Gefühl des Kontinuitätsverlustes“ . 

 Es ist deutlich geworden, was in einer an einer Demenz erkrankten Person vor sich gehen mag und mit welchen Problemen sie zu kämpfen hat. Das Wissen um individuelle Erfahrung, Erleben, die jeweiligen Reaktionen dementiell Erkrankter und die Auswirkungen und Folgen der Erkrankung auf das Leben und das Selbstverständnis Betroffener erscheint vor allem deshalb bedeutsam, da sich hieraus wichtige Gesichtspunkte für die Begleitung und Unterstützung dieser Menschen ableiten lassen .  „If comprehensiv care of the patients with AD [Alzheimer’s disease; U.E.] is to be provided and quality of life promoted, we must go beyond analyzing how their thinking processes change to learn more about the other dimensions of their existence (...)“ . Für die zukünftige Forschung erscheint es deshalb als besonders bedeutsam, vermehrt die Perspektive der Betroffenen miteinzubeziehen. „Much can be gained from changing our view of the person with dementia from someone to be studied to someone whose perspective can help to understand AD“ . 

3. 7. 4  Nachvollziehbarkeit des Erlebens und Verhaltens dementiell erkrankter Menschen

 Das Erleben und Verhalten dementiell erkrankter Menschen gestaltet sich interindividuell sehr verschieden. Wie schon in den Selbstdarstellungen Betroffener deutlich wurde, können infolge von Verunsicherung, Ratlosigkeit und Verzweiflung im Zuge der dementiellen Erkrankung  Verleugnung, Verdrängung,  Rückzugstendenzen  und  depressive  Verstimmungen auftreten, aber auch Reaktionsformen im Sinne einer realistischen Einschätzung eigener Kompetenzen und Suche nach Unterstützung werden geäußert. 

 In der Literatur werden weitere (als Reaktionen interpretierte) Erlebens- und Verhaltensweisen beschrieben: Aggressionen, Unruhe (z.B. in Form von „Umherwandern“), wahnhafte Vorstellungen (die sich beispielsweise in Verdächtigungen und Beschuldigungen anderer Personen äußern können), Verkennungen (in der Zeit), regressive Tendenzen, Konfabulationen, Zwänge (z.B. Ordnungszwänge) und auch Verweigerungsverhalten (wie Nahrungsverweigerung u.ä.) . 
 Diese - von Betreuungspersonen oft als sehr belastend erlebten - Erlebens- und Verhaltensweisen dementiell erkrankter Menschen können nachvollziehbarer und verständlicher werden, wenn man sich die mit der Erkrankung verbundenen kognitiven Beeinträchtigungen vergegenwärtigt und Persönlichkeit, Biographie, kontextuelle Merkmale und auch somatische Faktoren in die Betrachtung miteinbezieht. 

 Einen Schlüssel zum Verständnis des Erlebens und Verhaltens kann die Persönlichkeit des Betreffenden liefern. Die Art und Weise der Anpassungs- und Auseinandersetzungsversuche werden von der Persönlichkeit des Betreffenden beeinflußt . „Wie sich ein dementieller Prozeß im individuellen Fall im Erleben und Verhalten äußert, ist vor allem durch die individuelle Persönlichkeit bestimmt“ . Darunter können die persönliche Eigenart, der Charakter und bevorzugte, lebenslang entwickelte Interaktionsstile verstanden werden, die den inneren und äußeren Reaktionen  das wesentliche Gepräge verleihen. 
 Dabei können die kognitiven Beeinträchtigungen im Zuge einer dementiellen Erkrankung „ein Ungleichgewicht in eine gewachsene und ausgewogene Persönlichkeit bringen“ . Menschen mit beispielsweise depressiven oder auch mißtrauischen Persönlichkeitszügen haben in der Regel im Laufe ihres Lebens gelernt, damit umzugehen und diesen Tendenzen soweit entgegenzusteuern, daß es sich damit leben läßt. Durch ein Schwachwerden der kognitiven Kräfte, der rationalen Kontrolle können diese Persönlichkeitsanteile nun ein   relatives Übergewicht gewinnen . Menschen   mit depressiven Persönlichkeitszügen können so in eine depressive Verstimmtheit geraten oder auch resignativ-dysphorisches und inaktives Verhalten zeigen. Bei Personen mit immer schon mißtrauischen Tendenzen kann durch die Demenz mißtrauisch-paranoides Erleben und Verhalten in den Vordergrund treten . In der Regel kommt es also nicht zu einer Änderung der Persönlichkeit, sondern eher zu einer Akzentuierung  und Intensivierung früherer Charakterzüge. „The old do not grow crabby or loving, but the crabby and the loving grow old“ . 

Auch die Biographie kann Reaktionen dementiell erkrankter Menschen nachvollziehbarer machen. Zu denken ist hier z.B. an Lebensereignisse und Lebenserfahrungen der Betroffenen: „Von den großen Erschütterungen, Verletzungen oder Verlusten eines Menschen erfahren zu haben, kann ihn auch in tieferer Demenz noch individuelle Züge verleihen und darüber hinaus gestörtes Verhalten verständlicher machen“ .  Aber insbesondere auch früher ausgeübte Tätigkeiten und Gewohnheiten sind diesbezüglich interessant. Diese können im Zuge einer Demenz  fragmentarisiert, intensiviert und häufiger auftreten. Auch können sie - aufgrund der kognitiven Beeinträchtigungen -  inadäquat geäußert werden: zum falschen Zeitpunkt oder am falschen Ort . 
 So läßt sich beispielsweise das vielbeklagte ‘Wandern’ einer dementiell erkrankten Person u.a. vor ihrem biographischen Hintergrund als durchaus zweckhaft und sinnvoll interpretieren: manche beabsichtigen, zu ihrem Arbeitsplatz aufzubrechen, andere haben vor, zu Hause ihre kleinen Kinder zu versorgen. „Wandering appeared to be a non-purposeful behavior when actually it was an expression of earlier purposeful activity“ . Auch Wahnvorstellungen und Halluzinationen können biographisch determiniert sein: durch Verkennung der Zeit werden dabei wichtige Personen oder Ereignisse gesehen, gehört oder erlebt, die tatsächlich einmal vorhanden waren . 

 Schließlich spielen Umweltfaktoren eine nicht zu unterschätzende Rolle für das Verständnis des Erlebens und Verhaltens dementiell erkrankter Menschen. So ist die dementiell erkrankte Person  immer in ihrem individuellen Kontext ihrer Beziehungen zu betrachten. Angehörige und auch professionelle Helfer sind sich in der Regel nicht darüber im klaren, inwieweit sie selbst die als pathologisch etikettierten und die als sehr belastend erlebten Reaktionen des dementiell Erkrankten - auch trotz bester und wohlmeinender Absichten - hervorrufen oder mitverursachen . „In the caregiver strain literature, one consistent finding is that it is not cognitive decline that is most burdensome, resulting in a decision to institutionalize the demented family member; it is troublesome behavior (...). A poignant irony is that many of the ‘behavior problems’ associated with dementia may be traced to problems in the caregiving relationsship (...)“ . Das Verhaltensspektrum in der Umwelt mit entsprechenden Auswirkungen auf den Betroffenen kann dabei „zwischen Entmündigung und Kontrolle auf der einen Seite und überfürsorglicher Pflege bis hin zur Gleichgültigkeit und Verleugnung auf der anderen Seite sehr weit variieren“ . 
 In der Literatur wird beispielsweise beschrieben, wie Gefühle der Rat- und Hilflosigkeit und des Stresses bei Betreuungspersonen zu der Tendenz führen können, durch verschiedene Maßnahmen vermehrte Kontrolle über den dementiell Erkrankten auszuüben und seine Selbstbestimmung einzuschränken. Dies kann wiederum zur Folge haben, daß der Betreffende sich gegen diese Einschränkungsversuche wehren möchte und in Ermangelung der Möglichkeit, seine Gefühle und Bedürfnisse anders auszudrücken, mit beispielsweise vermehrter Unruhe oder Aggressionen reagiert . „So kann sich dieser Kampf ohne weiteres leicht aufschaukeln“ . 
 Auch mögliche Folgen negativer Erwartungen der Betreuungspersonen werden diskutiert . Die Typisierung als ‘dement’ ist mit der Erwartung eines unumkehrbaren und auch eines sich progredient verschlechternden Prozesses sowie mit Übergeneralisierungen („impairment everywhere“ ) verbunden.  „That’s just the way it is with Alzheimer’s disease and there is nothing you or I can do“ . Dies kann zu einer negativen Einschätzung der eigenen Betreuungstätigkeit führen und dazu beitragen, daß erhaltene Kompetenzen und Anteile von Selbständigkeit bei der erkrankten Person übersehen werden. Hilfloses und abhängiges Verhalten, Regression und Rückzug werden so im Sinne der selbsterfüllenden Prophezeiung von der Umwelt gefördert . 
 Ebenso können Unter- oder Überforderung durch die personelle wie dingliche Umwelt Reaktionen dementiell erkrankter Menschen begreiflich werden lassen. Eine reizarme Umwelt, die durch mangelnde intellektuelle, affektive und sensorische Stimulation gekennzeichnet ist, kann zu Unsicherheit, Antriebslosigkeit, Apathie, Desinteresse, aber auch zu Selbststimulationen durch z.B. exessives Schreien, führen . Umgekehrt kann auch eine zu überfordernde Umwelt, die vom Betroffenen aufgrund seiner kognitiven Einschränkungen nicht mehr verarbeitet werden kann, verschiedene Erlebens- und Verhaltensweisen auslösen. Überforderung z.B. durch ein Übermaß an Sinneseindrücken kann Panik- oder Katastrophenreaktionen im Sinne affektiver Überreaktionen provozieren : die ausgelösten starken Emotionen (z.B. Angst, Aggressionen,...) können nicht kontrolliert werden, da die Demenz die Fähigkeit herabsetzt, mit diesen Gefühlen umzugehen. Häufig mündet ein Gefühl der Überforderung auch in Verweigerung: „Der Betroffene wird gewahr, eine Gesamthandlung nicht mehr eigenständig ausführen zu können, oder er hat Angst, etwas falsch zu machen“ . 

 Abschließend ist zu erwähnen, daß neben der Berücksichtigung dieser psychosozialen Faktoren (Persönlichkeit, Biographie und Umwelt) auch somatische Aspekte zu beachten sind, die ebenso das Erleben und Verhalten dementiell erkrankter alter Menschen beeinflussen. Zu denken ist hierbei an zusätzliche allgemeine Erkrankungen, die den dementiellen Prozeß überlagern können, oder an (Neben-)Wirkungen von Medikamenten. So können beispielsweise Aggressionen auch eine Reaktion sein auf körperliche Schmerzen, die vom Betroffenen nicht gedeutet bzw. wahrgenommen und beklagt werden, sondern eine dysphorische Stimmung erzeugen . 

 Es ist ersichtlich geworden, daß die Erlebens- und Verhaltensweisen des dementiell Erkrankten mit seinen mehr oder minder erheblichen kognitiven Beeinträchtigungen nachvollziehbarer und einfühlbarer sind, wenn Persönlichkeit, Biographie, Umweltfaktoren, aber auch somatische Aspekte in die Betrachtung miteinbezogen werden. Zuschreibungen wie ‘abnormal’, ‘pathologisch’ oder ‘problematisch’ verblassen oder verschwinden dann ganz. Gerade für Betreuungspersonen bietet dies die Möglichkeiten einer neuen Betrachtungsweise, die mehr Verständnis und Toleranz ermöglicht und dazu anhält, eigenes Verhalten und eigene Deutungen kritisch zu reflektieren. Diese umfassende Betrachtungsweise eröffnet insbesondere die Möglichkeit, dementiell erkrankte Menschen und ihre Bedürfnisse auch bei schweren Formen bzw. in fortgeschrittenen Stadien, die eine verbale Verständigung erschweren oder unmöglich machen, besser zu verstehen und eine dementsprechend adäquatere Begleitung und Unterstützung zu bieten. Das Einnehmen dieser umfassenden Perspektive mit Berücksichtigung psychosozialer Faktoren führt zudem zu einem differenzierteren Bild dementiell erkrankter alter Menschen: so wenig, wie es den alten Menschen gibt, gibt es den dementiell erkrankten alten Menschen. Der dementielle Prozeß ist interindividuell verschieden  ausgestaltet:  wie beschrieben, spielen hierbei die Persönlichkeit, Biographie und nicht zuletzt auch die je individuellen Umweltgegebenheiten eine Rolle. Dies ist entscheidend für therapeutische Interventionen: allein die psychiatrische Klassifikation kann diesbezüglich als Grundlage als ungeeignet gelten.


 

III. Soziale Arbeit mit alten Menschen

1. Begriffliche Klärungen

 In der Literatur finden sich verschiedene Bezeichnungen für die pädagogische und soziale Arbeit mit alten Menschen. Bezeichnungen wie Geragogik und Sozialgeragogik, Altenbildung, Altenhilfe und (soziale) Altenarbeit führen zu einem wahren „Begriffswirrwarr“ . Aus diesem Grund erscheint es zunächst notwendig, kurz einige grundlegende begriffliche Klärungen vorzunehmen. 

 Die Geragogik - synonym wird z.T. auch der Begriff der Gerontagogik gebraucht - kann verstanden werden als „die Theorie und die Praxis pädagogischen Handelns mit, für und durch alte Menschen“ . Sie befaßt sich in der Praxis mit Aufgaben der Erziehung und Bildung, Beratung und Begleitung alter und alternder Menschen in präventiver, therapeutisch-interventiver und rehabilitativer Hinsicht. Hinzu kommt deren theoretische Fundierung und empirische Untersuchung und Stützung . 

 Der Begriff der Sozialgeragogik in seiner besonderen Akzentuierung wird insbesondere von Veelken verwendet. Seiner Ansicht nach besteht die Hauptaufgabe der Sozialgeragogik vor allem darin „vor dem Hintergrund gerontologischer Forschungsergebnisse - in Vernetzung mit transpersonaler Anthropologie und Sozialwissenschaften - die Bedingungen der Individualisierung des Subjekts als mit sich identischer Person, die sich in einem weiteren Wachstumsprozeß befindet, herauszuarbeiten und die gesellschaftlichen Faktoren zu beschreiben, die einerseits förderliche, andererseits einschränkende Funktion für die Handlungskompetenz und Identitätsgenese im dritten Lebensalter haben“ .  Sozialgeragogik versucht, Ergebnisse gerontologischer Grundlagenforschung in praktisches Handeln umzusetzen, Handlungsmodelle zu erarbeiten und zu erproben, um Wachstum und personale Entwicklung alter Menschen zu ermöglichen . 

 Die Altenbildung - die sowohl der Sozialpädagogik als auch der Erwachsenenbildung zugerechnet wird - umfaßt nach Klingenberger neben der „Bildung für, mit und durch das Alter auch die Bildung für das Älterwerden, d.h. die Vorbereitung auf das Alter (im Sinne von Altersbildung) und die Bildung von Menschen, die in der Altenarbeit/-bildung tätig  (...) sind“ . 

 Der Begriff der Altenhilfe schließlich kann nach Klingenberger als „Oberbegriff für alle pädagogischen, therapeutischen oder sozialfürsorgerischen Aktivitäten stehen, die sich an ältere oder alte Menschen richten oder der Vorbereitung auf Alter und Ruhestand dienen“ . Altenhilfe umschreibt den Tätigkeitsbereich der Arbeit mit alten Menschen, der durch den Paragraphen 75 des Bundessozialhilfegesetzes (BSHG) definiert und geregelt ist. Die Altenhilfe verfolgt das Ziel, in Ergänzung anderer Leistungen „dazu beizutragen, Schwierigkeiten, die durch das Alter entstehen, zu verhüten, zu überwinden oder zu mildern und alten Menschen die Möglichkeit zu erhalten, am Leben in der Gemeinschaft teilzunehmen“ . Damit wird hier zum einen nicht weniger als der Anspruch von Prävention, Therapie, Pflege und Rehabilitation formuliert. Zudem soll „jeder alternde Mensch und nicht nur der Träger von Defiziten gesundheitlicher, materieller oder kommunikativer Art, (...) gemäß § 75 BSHG die Möglichkeit erhalten, am gesellschaftlichen Leben teilzuhaben“ . 

 Der Begriff der (sozialen) Altenarbeit wird oft weitgehend synonym zum Altenhilfe-Begriff gebraucht. „Eine eigenständige definitorische Festlegung existiert für ihn nicht“ . 
 Im Rahmen dieser Arbeit soll in Anlehnung an Otto und Schweppe der Begriff der sozialen Altenarbeit als Arbeitsbegriff angewendet werden . Er erscheint - trotz z.B. der problematischen Zielgruppeneingrenzung - aufgrund seiner konzeptionellen Offenheit empfehlenswert. So wird hier eine Verengung auf die Altenbildung vermieden. Des weiteren spricht für die Bevorzugung des Begriffs der Altenarbeit die Problematik des Altenhilfe-Begriffs, der mit seinen Hilfe-  und Pflege-Konnotationen als vorbelastet betrachtet werden kann - „suggeriert das Wortteil ‘-hilfe’ doch die defizitäre und unterstützungsbedürftige Situation der alten Menschen“ . „Obwohl er damit in wünschenswerter Weise konzeptionsoffen ist, läßt er andererseits die Anknüpfung an eine breiter werdende Diskussion unter seiner Begrifflichkeit zu (...)“ . Dies kann zwar in ähnlicher Weise in der Regel auch für den umfassenden Begriff der Geragogik bzw. Gerontagogik gelten; jedoch birgt diese Begrifflichkeit einen „problematischen und einengenden Impuls, weil sich dahinter der Versuch verbirgt, eine neue Einzeldisziplin zu begründen“ . 
 Soziale Altenarbeit soll dabei im folgenden in Anlehnung an Otto und Schweppe zum einen verstanden werden als Arbeit sozialpädagogischer Fachkräfte mit älteren Menschen und zum zweiten - „jenseits disziplinärer oder berufsständischer Verengungen“  - als notwendige allgemeine Arbeitsorientierung. 

2. Rahmenbedingungen sozialer Altenarbeit

 Im folgenden sollen verschiedene Rahmenbedingungen bzw. Grundlagen sozialer Altenarbeit sowohl aus soziologischer als auch psychologischer Perspektive skizziert werden. Die demographische Entwicklung, der Strukturwandel des Alters, Individualisierungsprozesse und nicht zuletzt auch psychogerontologische Erkenntnisse stellen quantitative und qualitative Veränderungen dar, die eine Herausforderung für die soziale Altenarbeit darstellen. 

2. 1 Demographische Entwicklung

 Als grundlegende Herausforderung ist zunächst die Veränderung der altersmäßigen Bevölkerungsstruktur zu betrachten. Diese hat sich in diesem Jahrhundert erheblich gewandelt: es läßt sich eine Entwicklung hin zur „ergrauten Gesellschaft“  feststellen. Diese Veränderung - so ist nach verschiedenen Modellrechnungen zu erwarten - wird sich in den kommenden Jahrzehnten noch verstärken. Dieser Trend einer Zunahme der Altenbevölkerung ist weltweit zu beobachten, wenngleich er in den sogenannten schwächer entwickelten Regionen (noch) weniger deutlich ist als in den stärker entwickelten Regionen . 

 Die Zahl der älteren Menschen in der Bundesrepublik Deutschland wächst. Die Gründe für diese Entwicklung liegen in der stetigen Zunahme der Lebenserwartung, der Abnahme der Geburtenrate sowie in Veränderungen in Zu- und Abwanderungsprozessen . Es wird dabei davon ausgegangen, daß selbst ein Anstieg des Geburtenniveaus und steigende Zuwanderungszahlen junger Menschen aus dem Ausland diesen Prozeß nicht aufhalten, sondern höchstens abschwächen könnten . In den Sozialwissenschaften wurde angesichts der gegenwärtigen Situation und der prognostizierten weiteren Entwicklung der Begriff des dreifachen Alterns der Bevölkerungsstruktur geprägt . Dieser Ausdruck beschreibt erstens die Zunahme der absoluten Anzahl alter Menschen, zweitens die relative Zunahme älterer im Verhältnis zur Bevölkerungsentwicklung jüngerer Bevölkerungsgruppen und schließlich den Anstieg der sogenannten hochaltrigen Altersgruppen. „Dreifaches Altern heißt somit, daß mehr alte Menschen im Verhältnis zu weniger werdenden Jüngeren noch immer etwas älter werden [Hervorhebung im Original]“ . 

 Nach Vorausberechnungen (7. Koordinierte Bevölkerungsvorausberechnung) dürfte die absolute Anzahl der über 60jährigen von im Jahr 1990 16,3 Millionen auf im Jahr 2030  bis zu 24,4 Millionen, d.h. von 20,4 % auf 34,9 % anwachsen . Die Zahlen der UN-Prognosen (‘Low and High Variant’) liegen etwas niedriger. Diese Entwicklung wird in Abbildung 3 veranschaulicht. 

 Bezüglich der relativen Zunahme älterer Bevölkerungsgruppen wird prognostiziert, daß sowohl der Anteil der unter 20jährigen als vor allem auch der der 20-59jährigen (der ‘produktiven Generation’) voraussichtlich sinken wird, der Anteil der über 60jährigen hingegen zunehmen wird. Dies wird in Abbildung 4 zu verdeutlichen versucht. Kamen 1990 auf 100 20-59jährige noch 35,2 % über 60jährige Menschen, so werden es 2010 schon 46,6% sein und im Jahr 2030 voraussichtlich 73,5% . 

Abb. 3: Der Anteil der 60jährigen und Älteren in der Bundesrepublik Deutschland in den Jahren 1990 bis 2025 nach der 7. Koordinierten Bevölkerungsvorausberechnung und UN-Prognosen

Abb. 4: Entwicklung der Bevölkerungsstruktur nach Hauptaltersgruppen in der Bundesrepublik Deutschland  in den Jahren 1990 bis  2025

 Bemerkenswert ist nicht zuletzt auch der Anstieg der sogenannten hochaltrigen Altersgruppen (vgl. hierzu Abbildung 5). Während 1990 knapp über 3 Millionen Menschen 80 Jahre und älter waren, rechnet man für 2010 bereits mit 3,7 Millionen und für 2030 mit 4,3 Millionen Personen, die dieser Altersgruppe angehören . 
 
 

Abb. 5: Anteil der Hochbetagten (80 Jahre und älter) an der Gesamtbevölkerung der Bundesrepublik Deutschland  in den Jahren 1990 bis 2030


 Die beschriebenen Veränderungen im Altersaufbau stellen eine quantitative Herausforderung (nicht nur) für die soziale Altenarbeit dar. Der demographische Wandel hat - wie Erlemeier formuliert - „eine Reihe von neuen ‘weichen’ und ‘harten’ Bedarfslagen zur Folge, auf die die Sozialpolitik, das Gesundheitswesen, die Wohlfahrtspflege, allgemein die Träger pflegerischer und sozialer Dienste eine angemessene (und finanzierbare) Antwort geben müssen“ . 

2. 2 Strukturwandel des Alters

 Die Zunahme älterer Menschen an der Gesamtbevölkerung geht einher mit einem Strukturwandel der Altersphase, den Tews mit folgenden Konzepten zu umschreiben versucht: Verjüngung, Entberuflichung, Feminisierung, Singularisierung und Hochaltrigkeit . Anhand dieser Konzepte können sowohl quantitative Aussagen als auch qualitative Merkmale des gesellschaftlichen Strukturwandels verdeutlicht werden. 

 „Es lassen sich eine Reihe von Phänomenen aufzählen oder nachweisen, die ich einer Verjüngung des Alters zurechnen möchte“ . Unterschieden werden dabei positive, negative und neutrale Verjüngungstendenzen. So ist z.B. die Selbsteinschätzung älterer Menschen jünger geworden: in einer in Schleswig-Holstein Ende der 80er Jahre durchgeführten Repräsentativerhebung definieren sich nur noch ca. 25 % der über 70jährigen als alt (vor rund zwanzig Jahren war dies noch bei der Mehrheit der Fall).  Als negativ hingegen wird bewertet, daß heute bereits die über 45jährigen zu den älteren Arbeitnehmern zählen. Sie werden seltener als jüngere Erwerbstätige in Qualifizierungsprogramme oder Maßnahmen der beruflichen Rehabilitation einbezogen, werden seltener neu eingestellt und sind häufiger von Langzeitarbeitslosigkeit betroffen. Auch die Familienphase wird heute deutlich früher beendet. „Alterserfahrungen werden dadurch früher und nachhaltiger verursacht (...)“ . Altersprobleme werden im Lebenslauf vorverlegt und machen eine Auseinandersetzung mit dem eigenen Älterwerden bereits in einer Lebensphase erforderlich, in der die Betroffenen sich noch nicht zu den Älteren rechnen (können). 

 Das Konzept der Entberuflichung umfaßt zwei Aspekte. So ist hiermit zum einen die Entberuflichung des Alters als Alterszeit ohne Berufstätigkeit gemeint, was aus einer immer früheren Berufsaufgabe und einer durchschnittlich höheren Lebenserwartung resultiert. Die Quote der erwerbstätigen Älteren hat laufend abgenommen. „Das durchschnittliche Berufsaufgabealter liegt heute für Männer bei 58 Jahren und für Frauen bei 56 Jahren“ . Zum zweiten wird damit auf den Prozeß der Berufsaufgabe selbst abgezielt. Hierzu zählen diesbezügliche individuelle Einstellungen, die Flexibilisierung der Altersgrenzen, sowie Zwänge und Wahlmöglichkeiten einer vielfältiger gewordenen Berufsaufgabe und die Anpassung an die nachberufliche Lebensphase. 

 Mit dem Konzept der Feminisierung wird das weiterhin unausgeglichene Geschlechterverhältnis erfaßt. „Das Geschlechterverhältnis ist und bleibt unausgeglichen, trotz etwas stärkerer Angleichung bis weit ins nächste Jahrhundert“ . Die Altersgesellschaft ist eine Zweidrittel-Frauengesellschaft. Rund 63 % der über 60jährigen sind Frauen; ihr Anteil nimmt mit steigendem Lebensalter kontinuierlich zu. Ursachen für diese Feminisierung liegen in der höheren Lebenserwartung von Frauen und in den „(...) Kriegsfolgen, deren Auswirkungen in den besonders betroffenen Generationen erst im nächsten Jahrhundert allmählich kompensiert werden“ . Damit gehen geschlechtsspezifische Folgen einher: Frauen prägen überproportional Angebote der Altenhilfe. Soziale Gefährdungen und Abhängigkeiten von öffentlichen Hilfen treffen überdurchschnittlich Frauen und auch Altersarmut ist ein Frauenproblem. „Frauen prägen damit das Bild vom Alter in unserer Gesellschaft nicht nur quantitativ“ . Vielmehr wird die Feminisierung des Alters auf diesen Ebenen auch qualitativ bedeutsam. 

 Mit zunehmendem Alter nimmt der Anteil Alleinstehender, insbesondere bei Frauen (in der Regel aufgrund von Verwitwung) stetig zu (Singularisierung). „Ein Drittel der über 60jährigen Bevölkerung und rd. die Hälfte der über 60jährigen Frauen leben in der BRD allein“ . Modellrechnungen zufolge dürfte sich dieser Trend in den nächsten Jahren noch verstärken. Mit dem Singularisierungstrend geht eine Veränderung in den Wohnformen einher: Das Leben in Mehrgenerationen- und Mehrpersonenhaushalten wird im Alter mehr und mehr zur Ausnahme. Insgesamt ist Alleinleben im höheren Alter mit „Problemkumulationen“  (wahrscheinlicherer Hilfebedarf, Risiko der Isolation und Einsamkeit etc.) verbunden. 

 Schließlich ist die Altersphase durch eine „überproportionale Zunahme von Hochaltrigen gekennzeichnet“ . Dies wurde bereits weiter oben zahlenmäßig dargestellt. Das hohe Alter (als hochaltrig gelten die über 80 oder 85jährigen) ist zunehmend feminisiert und auch singularisiert. Statistisch gesehen ist es häufiger, über kürzere oder längere Zeit mit negativen Seiten des Alters belastet. Dazu zählen familiäre Isolierung, Verringerung des sozialen Kontaktnetzes, soziale Isolierung, Krankheiten wie chronische Erkrankungen, Mehrfacherkrankungen, gerontopsychiatrische Krankheitsbilder und (damit zusammen-hängend) kurzfristige oder auch dauerhafte Hilfs- und Pflegebedürftigkeit und auch vorübergehender oder dauerhafter Übergang in (teil-)stationäre Einrichtungen. „Die Negativ-Seite dominiert. Ihr ist dennoch gegenzusteuern. Auch unter den Hochaltrigen bleibt die Mehrheit lange Zeit in einer nicht nur negativ zu kennzeichnenden Lebenssituation“ . 

 Der beschriebene Strukturwandel des Alters hat eine immense Ausweitung der Altersphase zur Folge. „Auf der einen Seite setzt sich (...) der Trend zur Konzentration des Todes in ein immer höheres Lebensalter fort. (...) Diesem Trend des immer späteren Endpunkts der Altersphase steht auf der anderen Seite ein früherer Beginn durch die eher eintretenden Entpflichtungen in der Arbeitswelt und der Familie gegenüber“ . Durch die Vorverlegung des Beginns und die spätere Beendigung der Altersphase umfaßt diese mittlerweile die Altersgruppe der 45 bis über 100jährigen und „damit eine mit anderen Lebensphasen bei weitem nicht zu vergleichende Lebensspanne (...)“ .  Aufgrund dieser Ausweitung kann mit zunehmend weniger Berechtigung von ‘den Alten’ gesprochen werden, und es stellt sich die Frage, „inwieweit es überhaupt noch sinnvoll ist, einen solch ausgeweiteten Lebensabschnitt unter eine Altersphase zu subsumieren“ . 

 2. 3 Individualisierungsprozesse

 Neben der Ausweitung der Altersphase führen auch Individualisierungs- und Pluralisierungsprozesse zu einer weitgehenden inneren Differenzierung der Altersphase - sowohl in einer querschnittlichen Betrachtung als auch längsschnittlich innerhalb eines jeweiligen Lebenslaufs. „Es wäre zu kurz gegriffen, bliebe man bei der Beschreibung der strukturellen Veränderungen der Altersphase stehen. Veränderungen werden insbesondere auch dann deutlich, wenn man Altern im Rahmen jener gesellschaftlichen Prozesse betrachtet, die die BRD vor allem seit den sechziger Jahren prägen und welche mit dem Begriff der Individualisierung zusammengefaßt werden“ . Individualisierung meint eine Freisetzung der Menschen aus traditionellen Bindungen und Zwängen. Menschen können sich nicht mehr auf vorgezeichnete Lebenswege und -formen verlassen; traditionelle Lebensverläufe werden obsolet. Zwar fehlen bislang weitgehend theoretische Überlegungen und empirische Untersuchungen zur Bedeutung dieses Prozesses für die Altersphase, jedoch deuten - so Schweppe - erste Überlegungen darauf hin, „daß diese Prozesse nicht vor der Altersphase haltgemacht haben“ . 

 Traditionelle Orientierungen werden auch im Alter zunehmend brüchig . So läßt sich anhand des sich fortsetzenden Trends zur Entberuflichung feststellen, „daß sich die moderne Altersphase strukturell vom Erwerbsleben absetzt und die Arbeit in dieser Phase an Orientierungskraft verloren hat und weiter verliert“ . Daneben verändert sich zunehmend auch der Stellenwert der Familie. Neben die sogenannte erzwungene Singularisierung aufgrund von Verwitwung oder generationsbedingte zahlenmäßige Ungleichverhältnisse durch Krieg tritt die Singularisierung aufgrund des Brüchigwerdens von  Familie  und  Ehe.  Auch  veränderte  Generationsbeziehungen  werden  konstatiert. „Der Rekurs auf die Kindergeneration zu Zwecken der Gesellung, Integration, Sinnstiftung und Hilfe ist brüchig geworden“ . So hat die Großelternrolle Veränderungen erfahren und ist ansatzweise obsolet geworden: geographische Mobilität, instabile Ehe- bzw. Partnerbeziehungen der Kinder, eigene andere Lebenspläne der Älteren spielen hierbei eine bedeutende Rolle. Aber auch in umgekehrter Richtung verändern sich die Generationsbeziehungen, wie sich am veränderten Hilfepotential der jüngeren gegenüber der älteren Generation zeigt. Zwar wird die meiste Unterstützung immer noch innerfamiliär (von weiblichen Angehörigen) geleistet, jedoch ist vor dem Hintergrund veränderten weiblichen Lebens und Arbeitens zu fragen, inwiefern das ‘Dasein für Alte’ überhaupt noch geleistet werden kann oder überhaupt gewollt wird. Aber es sind nicht nur Veränderungen in Familie und Arbeitswelt, die Freisetzungsprozesse im Alter auslösen. „Einhergehend mit diesen Entwicklungen sind auch traditionelle Leitbilder für die  Altersphase  brüchig  geworden. Weder  der  Ruhestand  als  Feierabend  noch  der Müßiggang des wohlverdienten Lebensabends können umfassende Orientierungsmuster zur Gestaltung der Altersphase liefern. Altern wird auch nicht mehr nur mit ‘Nicht-Tätigsein’ assoziiert“ . Begründet liegt dies u.a. im Bild vom ‘neuen Alter’ und darin, daß chronologisches Alter und Selbsteinschätzung oft auseinanderfallen. Auch die Ausweitung der Altersphase trägt dazu bei, sich diesem quantitativ bedeutenden Lebensabschnitt - wie Schweppe formuliert - „nicht mehr (...) einfach tatenlos hinzugeben“ . 

 Die beschriebene „Aufweichung traditioneller Orientierungen“  ist wesentliche Voraussetzung für erweiterte individuelle Gestaltungsmöglichkeiten des Lebens (auch) im Alter. Allerdings ist sie allein unzureichend: Hinzu kommen allgemeine Verbesserungen der Lebensqualität/Lebenslage im Alter, „durch die Optionen zur Lebensgestaltung bereitgestellt und individuelle Lebensentwürfe möglich(er) gemacht werden“ . So  lassen  sich beispielsweise allgemein verbesserte  finanzielle  Ressourcen, ein verbesserter Gesundheitszustand und auch Bildungshintergrund konstatieren, die grundlegend sind für die Gestaltbarkeit dieser Altersphase und die Entwicklung von vielfältigeren und veränderten Lebensstilen. Die im allgemeinen positiven Veränderungen der Lebensqualität im Alter gehen einher mit einer Ausdifferenzierung von Handlungs-, Aktivitäts- und Entscheidungsmöglichkeiten, der Ausdifferenzierung von Freizeit-, Wohn- und Lebensformen, einer erhöhten Mobilität und einer verbesserten Infrastruktur für ältere Menschen, die Freisetzungsprozesse aus vorgezeichneten Lebenswegen ermöglichen. Die Niveauerhöhungen hinsichtlich der Lebensqualität schließen allerdings weiterbestehende Ungleichheiten, die am unteren Ende bis in die Armut (materielle wie immaterielle Bereiche betreffend) hineinreichen, nicht aus. „Die Abstände zwischen den reichen Alten und den armen Alten haben sich eher vergrößert (...)“ . 

 Während also gesellschaftliche Modernisierungsprozesse und verbesserte Ressourcen auch für das Alter neue Gestaltungsmöglichkeiten mit sich gebracht haben, sind damit andererseits auch neue Anforderungen und Zwänge verbunden. „Neue Leitbilder oder verläßliche Entwürfe als Gegenmodell zu traditionellen Lebensmustern (...) stehen kaum bereit“ . So können die vorherrschenden stereotypen Altersbilder vom ‘neuen Alter’ bzw. vom ‘kranken und abhängigen Alter’ keine Orientierung mehr bieten. Kehrseite des Zugewinns an Freiheit sind damit Einbußen an Orientierung und Sicherheit.  Lebensentwürfe 

 müssen neu entworfen werden, „weil das Verharren in Lebensentwürfen, die an traditionellen Leitbildern orientiert sind, oft konfliktreich, risikoreich, krisenhaft und häufig gar nicht mehr realisierbar ist“ . Alte Menschen sind somit zur Gestaltung ihrer Lebenswege vermehrt auf sich selbst zurückgeworfen. Altern ergibt sich nicht mehr, sondern muß ausgestaltet werden.  Dies bringt hohe Anforderungen an die Subjektseite mit sich. Eigenschaften und Fähigkeiten wie Initiative, Selbständigkeit, Entscheidungsfindung, Flexibilität sind nötig. Vor dem Hintergrund ihrer Sozialisation ist diesbezüglich zu fragen, inwiefern solche Eigenschaften in der heutigen Altengeneration biographisch verankert sind und ob die heutigen Alten über das nötige ‘Rüstzeug’ verfügen. 

 Als entscheidend kann festgehalten werden: die Zunahme von Optionen (auch) im Alter und die Notwendigkeit einer differenzierten Betrachtung des Alters. Die Altersphase bietet - neben weiterbestehenden alten und hinzugekommenen neuen Risiken - vor allem auch neue Chancen. Es kann von einer zunehmenden Normalisierung individualisierten Lebens auch im Alter gesprochen werden. Die Altersphase ist so zu einer Lebensphase geworden, „die sich nur noch schwer mit eindeutigen Kategorien, Etiketten oder Charakteristiken beschreiben läßt. (...) Die Altersphase ist bunt und plural geworden“ . 

2. 4 Gerontologische Erkenntnisse: Altern als dynamischer Prozeß

 Neben der Soziologie, die die Zunahme von Optionen durch Individualisierungsprozesse beschreibt, hat vor allem die Psychogerontologie bereits früh aus ihrer Perspektive auf Potentiale des Alters aufmerksam gemacht. So legen ihre Erkenntnisse (aus Neuropsychologie, Kognitiver Psychologie etc.) eine kompetenzorientierte Betrachtungsweise des Alterns nahe. Es wird nicht länger von defizitorientierten Modellen ausgegangen, die dem Alter Entwicklungs- und Veränderungsmöglichkeiten absprechen. Altern wird vielmehr als ein dynamischer Prozeß betrachtet, der sehr wohl Entwicklungs- und Veränderungspotentiale beinhaltet . „Wissenschaftlich kommt der Psychogerontologie das Verdienst zu, sich schon früh gegen die Defizittheorie, das zu einseitig negative Bild des Alters, gewandt zu haben, selbst wenn psychogerontologische Vertreter zeitweise vor lauter Positiv-Sicht Abnahme, Verschlechterung und die Negativseite des Alters fast aus dem Blick verloren haben und Entwicklung, Plastizität, Kompetenz des Alters einseitig und auch unglaubwürdig überhöhten“ . 

 So konnte verschiedentlich gezeigt werden, daß auch im höheren Lebensalter eine Plastizität, d.h. eine Veränderbarkeit von physischen und  kognitiven Funktionen und von Verhaltensweisen gegeben ist und damit Entwicklungsmöglichkeiten bestehen . Studien - insbesondere zur  Rehabilitation nach Schlaganfällen im höheren Lebensalter - lassen erkennen, daß durch ergo- und physiotherapeutische Maßnahmen physische Entwicklungsprozesse gefördert und so viele der mit den Erkrankungen zusammenhängenden körperlichen Einschränkungen zumindest teilweise behoben werden können. Durch ein kognitives Training, das die Informationsabläufe zwischen verschiedenen Funktionszentren im Zentralen Nervensystem fördern soll, und durch Training der betroffenen Organe, das eine Verbesserung der Bewegungsabläufe anstrebt, werden Erfolge im senso- und psychomotorischen Bereich erreicht. So konnten beispielsweise positive Veränderungen der selbständigen Ausführung alltäglicher Tätigkeiten und  die Kompensation eingeschränkter Bewegungsabläufe erzielt werden . 
 Kognitive  Trainings  demonstrieren eindrücklich  die  Möglichkeit   einer  Verbesserung und Erweiterung  kognitiver Fähigkeiten im  Alter.  Es  lassen  sich Optimierungen in der Informationsverarbeitung im Sinne einer effizienteren und komplexeren Verarbeitung von Informationen erreichen und positive Entwicklungen des Gedächtnisses und des Lernens durch den Erwerb neuer Lern- und Gedächtnisstrategien  bzw.  durch  bessere  Nutzung  vorhandener  Strategien erzielen . 
 Schließlich lassen sich auch im Verhaltensbereich älterer Menschen Veränderungs- und Entwicklungsmöglichkeiten aufweisen. So wirken sich kompetenzfördernde Umwelten, die kognitiv stimulierend wirken, autonome Entscheidungen und die Übernahme von Aufgaben und Aktivitäten fördern und sich durch eine stärkere Rhythmisierung des Alltags auszeichnen, positiv aus auf selbständiges Verhalten, die Auseinandersetzung mit der alltäglichen Anforderungen und das Spektrum von Interessen und Tätigkeiten des älteren Menschen . 

 Neben der beschriebenen auch im höheren Lebensalter vorhandenen physischen, kognitiven und verhaltensmäßigen Plastizität werden in der Literatur weitere Entwicklungspotentiale im Alter beschrieben . Diese betreffen die Auseinandersetzung mit neuen Entwicklungs-aufgaben, kritischen Lebensereignissen und Belastungen. „Beobachten wir die Auseinandersetzung älterer Menschen mit Belastungen, Einschränkungen und Verlusten im Längsschnitt, so wird offenbar, daß es vielen gelingt, diese krisenhaften Situationen allmählich zu verarbeiten und eine neue, tragfähige Zukunftsperspektive zu entwickeln“ . 
 Studien zur Auseinandersetzung mit chronischer Krankheit machen deutlich, daß die Betroffenen über diesbezüglich zum Teil hohe Kompetenzen verfügen, „so z.B. in der Aktivierung von Erfahrungen und Wissen, in der Fähigkeit, neue Informationen aufzunehmen und zu verarbeiten, und in der Fähigkeit, mit Belastungen umzugehen“ . Verschiedene kognitiv-emotionale Bewältigungsmuster, die im Umgang mit bleibenden Einschränkungen und Verlusten sinnvoll sein können, werden in der Literatur beschrieben. Eine differenzierte Wahrnehmung der eigenen Leistungsmöglichkeiten und auch -grenzen, die Fähigkeit, Unsicherheit zu ertragen und trotzdem Gegenwart und Zukunft zu bejahen, die positive Deutung der Situation oder auch die Veränderung des eigenen Anspruchsniveaus und die Entwicklung kompensatorischer Strategien sind diesbezüglich bedeutsame Entwicklungs-potentiale  (auch)   im  höheren   Lebensalter . 
 Des weiteren wird auch auf neue Potentiale und Entwicklungsprozesse im höheren Alter aufmerksam gemacht, die in früheren Lebensabschnitten nicht oder nicht in dem Maße beobachtbar sind /sein sollen . Eine diesbezügliche Studie von Kruse über ‘Neue Potentiale und Entwicklungsprozesse im Alter’ weist hin auf eine differenziertere Wahrnehmung, ein tieferes Erleben, ein differenzierteres und umfassenderes Urteil in ethischen Fragen, auf die Fähigkeit, die Möglichkeiten und Grenzen des eigenen Lebens wahrzunehmen und Kompromisse zwischen dem Erwarteten und dem Erreichten zu schließen und auf ein erhöhtes Verantwortungsgefühl gegenüber den nachfolgenden Generationen. 

 Abschließend erscheint es wichtig darauf hinzuweisen, daß es sich bei den genannten Potentialen um Entwicklungsmöglichkeiten des Alters handelt. „Ältere Menschen unterscheiden sich allerdings erheblich in ihrer Fähigkeit zur Verwirklichung dieser Möglichkeiten“  -  verschiedene Personen-, Situations- und Umweltfaktoren spielen hierbei  eine  Rolle.  Es  sollte allerdings  deutlich  geworden  sein,  daß  auch im höheren Lebensalter Entwicklungs- und Veränderungsmöglichkeiten bestehen, die z.B. rehabilitative Maßnahmen möglich machen und auch erfolgversprechend erscheinen lassen. Es „wäre falsch, älteren Menschen die Fähigkeit zur Entwicklung abzusprechen und dadurch Entwicklungspotentiale zu übersehen“ . 

3. Neuformulierung sozialer Altenarbeit: Acht Grundprinzipien

 Die dargelegten quantitativen und qualitativen Veränderungen stellen Herausforderungen dar, denen die soziale Altenarbeit gerecht werden muß. Bei Betrachtung bisheriger Altenarbeit läßt sich feststellen, daß sie es versäumt hat „auf die mit den gesellschaftlichen Modernisierungsprozessen verbundenen qualitativen und quantitativen Veränderungen, die neuen Anforderungen, denen die heutigen Altengenerationen gegenüber gestellt sind und die Heterogenisierung der Altersphase zu reagieren“ . Hier ist eine Neuorientierung sozialer Altenarbeit gefragt. So konstatiert Karl: „In Zukunft wird es nicht mehr genügen, Altenarbeit ausschließlich oder vorrangig als Versorgung von (immer mehr) Hilfeempfängern zu organisieren“ . Im folgenden sollen - vor allem unter Bezugnahme auf Otto und Schweppe - Grundprinzipien einer solchen sozialen Altenarbeit dargelegt werden . 

3. 1 Berücksichtigung der Heterogenität der Altenbevölkerung

 Die festgestellten Veränderungen machen es erforderlich, von der Ausdifferenzierung der Altersphase und der Heterogenität der Altenbevölkerung auszugehen. Unterschiedliche Biographien, Lebenslagen und -stile, Interessen, Bedürfnisse und Bedarfslagen verlangen nach entsprechend differenzierten und vielfältigen Angeboten in der sozialen Altenarbeit . Bislang beschränkt sich soziale Arbeit mit alten Menschen vornehmlich auf das sogenannte ‘abhängige Alter’ und damit auf Bereiche der Versorgung, Behandlung, Betreuung und Pflege. Soziale Altenarbeit muß sich auch auf neue und andere Adressaten einstellen. „Die bisherige Klientel der ‘alten Alten’ stellt lediglich nur ein Segment aus dem Spektrum möglicher Adressaten dar. Die Binnendifferenzierung des Alters (...) gewinnt für die Altenarbeit immer mehr an Bedeutung“ . 

 Gleichzeitig verlangt eine solche Ausdifferenzierung und Diversifizierung auch nach einer Selbstbegrenzung. Ziel soll nicht eine vollständigere Erfassung und Verschulung oder Kolonialisierung des Alters sein. „Dabei scheinen die Umfeldbedingungen entsprechende Prozesse zu flankieren, sei es das Vordringen von kommerziellen und marktorientierten Angeboten oder die aufkeimende Bewegung der Selbsthilfe oder des bürgerschaftlichen Engagement, die gar nicht ‘bearbeitet’, sondern - wenn überhaupt professionell - autonomieorientiert unterstützt werden will“ . 

 Zudem gewinnen vor dem Hintergrund dieser Ausdifferenzierung und Diversifizierung Vernetzungs-, Integrations-, und Vermittlungsleistungen und auch Qualitätssicherung an Bedeutung, denn aufgrund „(...) der Spezifik des ‘Wohlfahrtsmarktes’  führt diese Situation nicht per se zu einem fruchtbaren Wettbewerb, zu entsprechender KonsumentInnensouveränität usw. Statt dessen kann sie zu erhöhter Unübersichtlichkeit und Fehlallokationen einerseits, zu qualitätsgefährdenden Rationalisierungen oder bedürfnisunangemessenen Angebotsstrukturen andererseits führen“ . 

 Aus der Ausdifferenzierung der Altersphase ergibt sich auch, daß Definitionen von Zielgruppen entlang des chronologischen Alters wenig sinnvoll sind. „Da die Kategorie ‘Alter’ immer weniger über die konkrete Lebenssituation von Menschen aussagt, sind Programme mit Zielgruppendefinitionen ‘die Alten’ ebenso wie rigide Festschreibungen von Subkategorien von Zielgruppen (...) zu vermeiden“ . Solche Kategorien werden als relativ inhaltsleer und vor allem als zu einer problematischen Separierung und Sonderbehandlung führend abgelehnt. Nicht auf das Alter, sondern vielmehr auf subjektive Orientierungsmuster und jeweilige Bedürfnislagen sollen Angebote und Maßnahmen der sozialen Altenarbeit zugeschnitten werden. 

3. 2 Ganzheitliche Perspektive

 So soll auch eine Orientierung der sozialen Altenarbeit an klar umrissenen Altersbildern, wie sie meist in bisherigen Ansätzen üblich war, vermieden werden. Weder ein defizitäres Altersbild, das Alter ausschließlich als  Verlust und Abbau versteht und alte Menschen als eingeschränkt, krank, desorientiert, dement und hilfs- und pflegebedürftig betrachtet, noch ein gegenteiliges, uneingeschränkt positives wird der Realität gerecht. „Beide Altersbilder sind nivellierende Stereotypen, in denen ausgeschaltet wird, was nicht hineinpaßt“ . Hier ist vielmehr eine ganzheitliche Sichtweise erforderlich, die die Ambivalenzen und Paradoxien der Altersphase berücksichtigt. Diese Betrachtungsweise versteht „(...) Altern als außerordentlich komplexen Prozeß von Verlusten und Gewinnen, Schwächen und Stärken, Verfall und Wachstum, Passivität und Aktivität, Kontinuität und Brüchen (...)“ . 

 Der Begriff der Ganzheitlichkeit umfaßt allerdings noch mehr . Ganzheitlichkeit wird verstanden als ein grundlegendes Prinzip und Leitbild in der sozialen Altenarbeit, das den Menschen als eine Ganzheit in seiner sozialen und historischen Eingebundenheit betrachtet. Der Mensch wird nicht als ein - wie Hohmeier und Mennemann formulieren - „Bündel von abgrenzbaren Teilfunktionen“ , sondern als existentielle und physische, als Körper-Seele-Geist-Einheit angesehen. Zudem ist eine sowohl längs- als auch querschnittliche Betrachtung gefordert, d.h. das jeweilige soziale Umfeld, Gemeinwesen und gesellschaftliche Gegebenheiten, aber auch das lebensgeschichtliche Gewordensein des Menschen unter zeitgeschichtlichem wie auch indidviduellem biographischem Aspekt müssen berücksichtigt werden. 

 Aus der biographischen Orientierung wird von Schweppe und Otto ein Konzept der Lebensbegleitung abgeleitet. Entgegen früheren Ansätzen sozialer Altenarbeit, die von einem eher statischen Zustand des Alters ausgehen und auf Interventionen zur Befriedigung weniger punktueller voneinander losgelöster Bedürfnisse bzw. Probleme zielen, soll vielmehr von der Prozeßhaftigkeit des Alterns und von Verläufen und Statuspassagen der Altersphase ausgegangen werden. Diese bringt beim jeweiligen Individuum zu unterschiedlichen Zeitpunkten jeweils unterschiedliche Bedürfnisse, Probleme und Interessen hervor, denen durch soziale Altenarbeit in diesem begleitenden Konzept durch verschiedene Formen der Unterstützung begegnet werden soll. „Das Konzept der Lebensbegleitung stellt lebenslauf-begleitende Optionen von Maßnahmen bereit, auf die je nach Lebenssituationen und sich unterschiedlich entwickelnden Befindlichkeiten und Bedarfslagen zurückgegriffen werden kann. Wann welche Hilfe oder Unterstützung wie notwendig wird, kann nur auf dem Hintergrund der jeweiligen Biographien und den damit verbundenen Deutungsmustern der Älteren selbst entschieden werden“ . 

3. 3 Selbstbestimmung und Partizipation der Adressaten

 Ein weiteres entscheidendes Grundprinzip sozialer Altenarbeit ist die Betonung der Selbstverantwortung und Selbstbestimmung alter Menschen : der alte Mensch nicht als Objekt von Experten, ihren Maßnahmen, Programmen und „fachlich versierte[n] Handlungen“ , sondern als eigenverantwortliches Subjekt, das seine eigenen Bedürfnisse selbst formuliert - „(...) und zwar egal, wie gebrechlich er ist (...)“ . Dabei geht es auch um Partizipation und Mitbestimmung der alten Menschen an der Planung und Durchführung von Maßnahmen und Angeboten und an der Gestaltung von Lebensverhältnissen. „Entgegen den bisherigen Ansätzen der Altenarbeit, die bestimmen, was für ältere Menschen gut ist und die die AdressatInnen als passive Objekte in den Programmen konzipieren, die es zu betreuen und unterhalten gilt, ist das Konzept der ‘PartnerIn im Dialog’ Kernelement neuer Ansätze in der sozialen Altenarbeit und Altenplanung“ . Damit ist die Forderung gestellt nach einem neuen Verhältnis vom Nehmen und Geben, das die bisherige Einseitigkeit, die Ältere meist in der Position des Nehmenden halten, überwindet. Auf „pädagogische Fertigprodukte“  soll verzichtet und Eigenaktivität der alten Menschen soll ermöglicht und gestützt werden, z.B. durch das Geben von Anstößen. Dies heißt auch, Maßnahmen so zu gestalten, daß Partizipation und Selbstbestimmung geübt werden können. Soziale Altenarbeit kann nicht voraussetzen, daß Mit- und Selbstbestimmung immer im Lebens- und Arbeitszusammenhang der alten Menschen verankert waren. 

3. 4 Aufrechterhaltung und Förderung von Sinnstrukturen

 Als wichtiges neues Prinzip wird des weiteren die Aufrechterhaltung und Förderung von Sinnstrukturen betrachtet. Umorientierungen, die die Altersphase durch Entberuflichung, Aufgaben- bzw. Aktivitätsveränderung mit sich bringt, stellen diesbezüglich Herausforderungen an den älteren Menschen. Soziale Altenarbeit kann dabei wichtige Unterstützungsarbeit leisten. Bei diesbezüglichen Hilfen zur persönlichen Selbstfindung, Weiterentwicklung und zur Bewußtmachung von Optionen zur Aufarbeitung von Vergangenheit und zum Entwurf von Zukunft „ist das Gegenteil von Daueranimation hilfreich (...). Hier liegen gewiß besonders einschlägige Herausforderungen für die Pädagogik und die Sozialpädagogik“ . Als wichtig wird dabei die Anknüpfung an die jeweilige Biographie, an lebenslang entwickelte Verarbeitungs- und Bewältigungsmuster und Lebensstile betont. Auch Wissen, Erfahrungen, Fähigkeiten und Fertigkeiten der alten Menschen sind hierbei zu berücksichtigen. Diese Potentiale werden individuell und gesellschaftlich nur wenig ‘genutzt’. Neue Ansätze sozialer Altenarbeit versuchen daher, neue, bisher nicht zugängliche Tätigkeitsfelder für alte Menschen zu erschließen und dabei vorhandene, aber vernachlässigte Tätigkeits- und Rollenpotentiale, die im Lebenslauf  grundgelegt  wurden,  aufzugreifen.   „Dabei  handelt  es  sich  nicht  um  die Bereitstellung von Beschäftigungsprogrammen (...), um ‘atemlosen Aktivismus’ oder um aufwendige Sondermaßnahmen für Ältere. Auch hier sollte vielmehr das Normalisierungspostulat gelten (...). Kein Sonderehrenamt mit immer neuen Sondertätigkeiten und Werbemaßnahmen, noch raffiniertere Rekrutierung oder noch professioneller betriebene ‘ExpertInnensuche’ ist gefragt, sondern intensive Arbeit an einem subjektbezogenem Paßformkonzept“ . Soziale Altenarbeit soll die erforderlichen Gelegenheitsstrukturen schaffen, in denen gesellschaftliche und individuelle Sinnhaftigkeit erfahren werden können. 

3. 5  Unterstützung eines generationsübergreifenden Austauschs

 Daneben zielen neuere Ansätze der sozialen Altenarbeit auf einen generationsübergreifenden Austausch . „Entgegen bisheriger Abschottungen zwischen Altersgruppen und dem alterstypischen Charakter der Altenhilfe streben neuere Ansätze an, generationsübergreifende Formen einzuschließen und Möglichkeiten des Austauschs, des Kontakts und der Begegnung zwischen den Generationen zu fördern“ . Annäherungen zwischen den Generationen sind beispielsweise in dem Sinne denkbar, daß alte Menschen ihr Wissen und ihre Erfahrungen jüngeren Generationen vermitteln. So beschreibt Thiersch: „Wir leben in einer Gesellschaft, in der erstmals sehr unterschiedliche Erfahrungen, nämlich aus vier Generationen, gleichzeitig präsent sind. Dies bietet die Chance, eine Vielfältigkeit von Erfahrungen, Erlebnissen, vom Reichtum des gelebten Lebens in unmittelbaren Begegnungen miteinander zu vermitteln“ . Durch Anwendung und Umsetzung lebenslang erworbener Kenntnisse und Fähigkeiten könnte alten Menschen so ein sinnstiftendes, bislang wenig genutztes Potential zukommen. Eine generationsübergreifende Annäherung ist des weiteren durch eine gegenseitiges Zur-Verfügung-Stellen jeweiliger Stärken im Sinne gegenseitiger Hilfeleistungen und Tauschbeziehungen vorstellbar. Auch hierbei soll wiederum „(...) eine Normalisierungsperspektive einer verkrampften Inszenierung [vorbeugen] (...)“ . Leitbild ist dabei eine Gesellschaft, die sich in möglichst vielen Alltagsvollzügen intergenerativ öffnet. Soziale Altenarbeit kann sich an der Schaffung von Gelegenheiten und Möglichkeiten moderierend, verknüpfend etc. beteiligen. 

 Für die beschriebene Förderung von Tätigkeiten und Generationenaustausch könnte als Orientierung gelten: „Ich für mich mit anderen zusammen für mich und für andere“ , d.h. ein breites Engagement mit Bekenntnis zum Selbstbezug, zum gemeinschaftlichen Tun und zur gesellschaftlichen Produktivität. Neben der Wichtigkeit förderlicher sozialpolitischer und gemeinwesenbezogener Rahmenbedingungen kann hier Lern- und Durchsetzungshilfe durch soziale Altenarbeit sinnvoll sein: Dies vor allem  „(...) einmal mehr in einer in erster Linie katalysatorischen Qualität. (...). Allerdings gehört zu ihren Aufgaben auch, kritische Einschätzungen und Bewertungen vorzunehmen und auf Fehlentwicklungen hinzuweisen, insbesondere dann, (...) wenn Wiederverpflichtung alter Menschen - in freundlichem Diskurs bemäntelt - zur billigen Lösung gesellschaftlicher Notwendigkeiten wird“ . 

3. 6 Neue Formen der Hilfe

 Für soziale Altenarbeit und das mit Krankheit verbundene ‘schwere Alter’ werden neue Formen der Hilfe und eine neue Altenhilfekultur gefordert . Wenn auch viele alte Menschen ohne intensive Hilfe- und/oder Pflegeleistungen auskommen, ist doch  - wie bereits weiter oben beschrieben - zumindest im hohem Alter ein erhöhtes Erkrankungsrisiko und eine daraus resultierende erhöhte Wahrscheinlichkeit des Hilfe- und Pflegebedarfs gegeben. „Wenn es eine klare polarisierende Struktur im Alter gibt, so liegt die Trennungslinie hier (...)“ . Soziale Arbeit darf sich nicht auf diese Teilgruppe beschränken, darf sie aber auch nicht bei der Entwicklung neuer Perspektiven vernachlässigen. „Auch in diesem Bereich sind Neuorientierungen gefragt“ . Da die meiste Hilfe und Pflege inner-familiär geleistet wird, und es hier oft zu Überbelastungen auf verschiedenen Ebenen mit entsprechenden Auswirkungen auf die Pflegeleistungen kommt, muß dies den Ausgangs-punkt bilden. Die Ressource ‘informelle Hilfe’ soll durch formelle Hilfe vor einer völligen Überforderung bewahrt werden. Alte, z.T. nicht mehr intakte Hilfsnetzwerke und Solidaritätsformen gilt es  - wo möglich - zu unterstützen, zu reaktivieren bzw. gegebenenfalls zu ersetzen. Hierfür bedarf es auch bezüglich der formellen Angebote, Dienste und Einrichtungen einer Veränderung. Sozialstaatliche Hilfen -  wie als totale Institutionen entlarvte Altenheime - können durch Alltagsferne und ‘Entsorgung’ und Verobjektivierung der alten Menschen charakterisiert werden. Darüber hinaus vorhandene wohnortnahe ambulante Angebote zeichnen  „(...)sich jedoch nur aufgrund ihrer flächendeckenden Erreichbarkeit noch längst nicht als qualitativ befriedigendes ‘missing link’ für die ‘Unterstützungslücke’“  aus. Hier sind qualitative Verbesserungen nötig. Gestaltung und Organisation durch die alten Menschen selbst, Respekt vor ihrer Autonomie und Alltagsnähe müssen stärker in den Mittelpunkt gerückt werden. Für ein Zusammenwirken verschiedener Dienste und Einrichtungen und vor allem auch formeller und informeller Unterstützungsformen sind entsprechende Verknüpfungs- und Vernetzungsleistungen gefragt, die über eine bloße Kooperation hinausgehen. Hier gewinnt „eine ganzheitliche, weit verstandene Beratung besonderes Gewicht, die sich zwischen dem Anspruch größtmöglicher KundInnenautonomie und Formen des Case-Managements zu verorten hat“ . Insbesondere gilt es, Transparenz und einen informationellen Schwellenabbau zu ermöglichen, Vorbehalte in der Bevölkerung bezüglich einer Nutzung aufzugreifen und so den Zugang zu Diensten und eine eigenverantwortliche Inanspruchnahme sicherzustellen. „Sie [die Strategien der Vernetzung, U.E.] müssen auch Brücken schlagen zwischen den unterschiedlichen Steuerungslogiken öffentlicher bzw. privatwirtschafticher Angebote und Leistungen. Und sie müssen noch stärker als bisher problemunangemessene Selektivitäten konterkarieren, ohne dabei ein neues Fürsorgeghetto zu konstituieren“ . 

3. 7  Rehabilitative Grundhaltung

 Die angeführten Grundprinzipien sollen im folgenden durch Ausführungen zur Rehabilitation  im Alter ergänzt werden. Kern ist dabei ein weites Verständnis von Rehabilitation als einem ganzheitlichen, umfassenden, kompetenzorientierten und individuellen Prozeß. Im folgenden werden theoretische und konzeptionelle Grundlagen einer solchen Rehabilitation im Alter ausführlicher   beschrieben.   Die  Darstellung   bildet   dabei  m. E.   zum  einen   durch  die  umfassenden Zielvorstellungen von Förderung und Erhalt von Kompetenz und Lebensqualität eine sinnvolle Ergänzung der angeführten Grundprinzipien sozialer Altenarbeit; zum anderen können bereits genannte Aspekte einer Orientierung an der Person für das mit Krankheit verbundene Alter konkretisiert werden. 

 3. 7. 1  Ziele einer Rehabilitation im Alter

 Der Begriff der Rehabilitation ist zurückzuführen auf das lateinische ‘rehabilitare’, was soviel bedeutet wie ‘jemanden in seine alten Rechte einsetzen’ bzw. ‘jemandem seine Würde zurückzugeben’. Im Sozialgesetzbuch wird Rehabilitation folgendermaßen umschrieben und rechtlich fixiert: „Wer körperlich, geistig oder seelisch behindert ist oder wem eine solche Behinderung droht, hat unabhängig von der Ursache der Behinderung ein Recht auf die Hilfe, die notwendig ist, um 1. Die Behinderung abzuwenden, zu beseitigen, zu bessern, ihre Verschlimmerung zu verhüten oder ihre Folgen zu mildern, 2. ihm einen seinen Neigungen und Fähigkeiten entsprechenden Platz in der Gemeinschaft, insbesondere im Arbeitsleben, zu sichern“ . Rehabilitation zielt demnach auf Hilfe bei drohender oder bereits bestehender Behinderung und eine (Wieder-)Einführung in die Gesellschaft. 

 Bezüglich der Ziele einer Rehabilitation im Alter ist zunächst zu konstatieren, daß über „die medizinischen Maßnahmen geriatrisch-rehabilitativer Versorgungseinrichtungen hinaus (...) zwar zahlreiche, aber z.T. recht vage Vorstellungen von der Zielsetzung der geriatrischen Rehabilitation [bestehen] . Der Begriff unterlag unterschiedlichen Deutungen und Inhalten, die letztlich dazu beigetragen haben, die geriatrische Rehabilitation relativ diffus und ihre Ziele eher als amorphe Vorstellungen erscheinen zu lassen“ . 

 So orientieren sich rehabilitative Maßnahmen im Alter im klinisch-geriatrischen Bereich an Zielsetzungen wie Selbständigkeit, Unabhängigkeit und Autonomie. „Grundsätzlich steht die möglichst  weitgehende  Wiederherstellung  körperlicher,  geistiger und sozialer Fähigkeiten, 
 

 tragfähiger sozialer Beziehungen sowie das Erreichen eines möglichst hohen Grades an Selbständigkeit und Unabhängigkeit im Vordergrund“ . Vor allem geht es dabei um eine Ermöglichung der Rückkehr oder des Verbleibs in der häuslichen Umgebung; dazu gehört insbesondere die Wiedererlangung der Fähigkeit zur selbständigen Haushaltsführung - oft gemessen an der ‘funktionellen Wiederherstellung’ oder der Entlassung nach Hause. 

 Die Mobilisierung, ‘funktionelle Wiederherstellung’ und in diesem Sinne weitestgehende Selbständigkeit sind zwar entscheidend für den Erfolg der Rehabilitation; dies allein genügt jedoch nicht und kann zudem bei chronisch und mehrfach erkrankten alten Menschen oft auch gar nicht erreicht werden . Mit dem Anspruch von Rehabilitation als einem umfassenden und ganzheitlichen Prozeß der sozialen Integration, welcher den älteren Menschen als bio-psycho-soziale Einheit in seinem jeweiligen Kontext betrachtet, werden allerdings auch umfassendere, lebensweltbezogene Zielsetzungen wie Lebensqualität und Kompetenz verbunden . 

 Der Begriff der Lebensqualität ist in den 60er Jahren in den USA entstanden aus der wohlfahrtstheoretischen  Kritik am einseitigen Wachstumsdenken. Lebensqualität ist ein komplexer Begriff, für den es noch keine allgemein anerkannte Definition gibt . In der sozialen Gerontologie findet sich der Begriff der Lebensqualität nur selten: „Insgesamt entsteht der Eindruck, daß die Fragen der Lebensqualität im Alter wissenschaftlich weniger interessiert“ .  Und auch hier wird er diffus benutzt bzw. kaum definiert. So wird Lebensqualität beispielsweise definiert als ‘Erhaltung eines möglichst hohen Grads an sozialer Kompetenz’ , als ‘Selbstverantwortung’  oder als ‘Wohlbefinden’ . Die seltene Verwendung könnte damit im Zusammenhang stehen, daß die Indizes der Lebensqualität anderer Altersgruppen auch im Alter gelten dürften . Die Frage nach einer spezifischen Lebensqualität für alte Menschen macht es erforderlich, zu untersuchen, inwieweit die allgemeine Lebensqualität noch ergänzender Angebote und Versorgungsstrukturen bedarf . Zu denken wäre hier z.B. an die gesundheitliche Versorgung, die auf die im Alter teilweise veränderten Lebensumstände und Bedürfnisse einzugehen hätte . 
 Festzuhalten bleibt nach Oswald: „Dieser Begriff, so unscharf er zur Zeit noch gefaßt werden mag, gewinnt zunehmend an Bedeutung“ . Eine bekannte, multidimensionale Definition von Lebensqualität haben Glatzer und Zapf vorgeschlagen . Nach ihnen hat Lebensqualität sowohl eine objektive als auch subjektive Dimension. Dies erscheint notwendig, da einerseits objektiv beobachtbare Lebensbedingungen subjektiv vom einzelnen sehr unterschiedlich wahrgenommen werden können und andererseits die subjektive Perspektive an sich unzureichend ist. Rein subjektive Konzepte erweisen sich als - wie Erlemeier hervorhebt - „trügerisch, weil sie einen Einklang zwischen Individuum und Umwelt vortäuschen können, der bei einer kritischen Analyse der Lebenslage alter Menschen nicht gefolgert werden kann“ . Als konstitutiv für Lebensqualität erachten Glatzer und Zapf zunächst einmal objektive Lebensbedingungen. Dazu werden Einkommen, Wohnverhältnisse, Arbeitsbedingungen, Familienbeziehungen, soziale Kontakte, Gesundheit und soziale und politische Partizipation gezählt. Daneben spielt die subjektive Wahrnehmung eine wichtige Rolle. Unter dem subjektiven Befinden und Erleben werden die von den Betreffenden selbst gegebenen Einschätzungen über spezifische Lebensbedingungen und über das Leben im allgemeinen subsumiert. Hierzu gehören besonders Zufriedenheitsangaben, aber auch generelle kognitive und emotionale Gehalte (Hoffnungen, Ängste, Glück, Einsamkeit, Erwartungen, Ansprüche, Kompetenzen, Unsicherheiten, wahrgenommene Konflikte und Prioritäten). 

 Eine ebenfalls sehr umfassende und anspruchsvolle mögliche Zielsetzung von Rehabilitation im Alter ist die der Kompetenz (ihrer Erhaltung und Wiedergewinnung), die insbesondere in der psychologisch orientierten Gerontologie diskutiert wird . Unter Kompetenz wird die „effektive Auseinandersetzung mit den Anforderungen des Alltags sowie die - dieser Auseinandersetzung zugrundeliegende - Kapazität in den einzelnen physischen, psychischen (kognitiven) und sozialen Funktionen [verstanden]. Des weiteren beschreibt Kompetenz das subjektive Erleben eigener Fähigkeiten und Fertigkeiten sowie die subjektive Überzeugung eigener Wirksamkeit“ . Unter dem Begriff Kompetenz ist demnach die Fähigkeit zur aktiven Lebensbewältigung, zur produktiven Auseinandersetzung mit den Anforderungen der Lebenssituation zu verstehen. Gleichzeitig wird auch hier Wert auf die subjektive Dimension gelegt, d.h. auf die erlebte eigene Kompetenz. Kompetenz wird dabei als situationsspezifisch verstanden: verschiedene Situationen erfordern eine spezifische Kompetenz, und der Grad an objektiver und subjektiver Kompetenz sind in verschiedenen Situationen unterschiedlich. Zudem ist Kompetenz ein differentielles Konstrukt, d.h. die effektive Auseinandersetzung mit situativen Anforderungen erfordert zahlreiche Fähigkeiten und Fertigkeiten, einen „Komplex von Funktionen, Einstellungen, Zielen und Verhaltensformen“ . Der Grad der Kompetenz sowie die Entwicklungsprozesse in diesen sind unterschiedlich; es ist also nicht möglich von der Kompetenz  eines Menschen zu sprechen, sondern nur von seinen verschiedenen Kompetenzen. Schließlich wird die Abhängigkeit der objektiven und subjektiven Kompetenz von den Wechselwirkungen zwischen persönlichen Ressourcen (wie beispielsweise Fähigkeiten der Problemlösung, der Bewältigung, der Nutzung von Ressourcen und des Knüpfens sozialer Kontakte etc.) und Umweltanforderungen beschrieben . „Kompetenz bestimmt sich aus der gelingenden Transaktion zwischen gegebenen Umgebungs- und Personmerkmalen“ . 

 Zielsetzungen wie die Erhaltung, Förderung oder Wiedergewinnung von Lebensqualität und Kompetenzen - „(...) unter Berücksichtigung bleibender Behinderungen(...)“  - sind sehr umfassende und weitreichende Ansprüche an die Rehabilitation im Alter. Im Vergleich zu den anfangs genannten Zielsetzungen wie Unabhängigkeit und selbständige Haushalts-führung - oft verkürzt an funktionellen Verbesserungen u.ä. festgemacht - geben sie nicht nur eine Beschreibung des quantitativen Vermögen der betreffenden Person, sondern auch der Qualität der gesamten Lebenssituation. Rehabilitation im Alter darf sich daher - wie Görres betont - „nicht darauf beschränken, negatives Befinden zu bekämpfen; vielmehr müssen subjektives Wohlbefinden, Lebensqualität und soziale Kompetenz eigenständig angestrebt werden“ . Damit zusammen hängt ein Wechsel von einer eher retrospektiven, krankheitsorientierten Blickrichtung hin zu einer prospektiven, personorientierten   Sichtweise  - und  zwar  im  Sinne  einer  optimalen   Entfaltung  von Gesundheit. Dabei geht es nicht um Gesundheit im engeren Verständnis, sondern um die Stärkung physischer, sozialer und persönlicher Ressourcen sowohl für ‘Kranke’ als auch für ‘Gesunde’ und um die Schaffung gesundheitsfördernder Lebenswelten . Des weiteren zeigen die genannten Zielsetzungen, daß rehabilitative Bemühungen sowohl bei der Person als auch beim jeweiligen Umfeld anzusetzen haben, d.h. ganzheitlich sein müssen. Relativ isolierte, punktuell ansetzende Maßnahmen können vor diesem Hintergrund als unzureichend betrachtet werden. 

3. 7. 2  Rehabilitationspotentiale und ihre Grenzen

 Grundlegende Basis für eine Rehabilitation im Alter ist die im Rahmen des Kompetenzmodells vertretene Annahme von Rehabilitationspotentialen, d.h. von Veränderungs- und Entwicklungsmöglichkeiten auch im Alter, wie sie weiter oben bereits ausführlicher beschrieben wurde (vgl. III.2.4). Dabei handelt es sich um vorhandene Entwicklungsmöglichkeiten: Ältere Menschen unterscheiden sich hinsichtlich der Verwirklichung dieser Möglichkeiten. Hierbei spielen persönliche und ökologische Ressourcen die entscheidende Rolle. So wird das Veränderungspotential u.a. beeinflußt durch den allgemeinen Gesundheitszustand des Betreffenden, von seiner Motivation und seinen Erlebens- und Reaktionsformen, von der Gestaltung der Umwelt und dem Verhalten des sozialen Umfelds. Die Höhe des jeweiligen Veränderungspotentials wird dabei erst im Laufe der Rehabilitation ersichtlich .  Dabei ist zu unterscheiden zwischen den gezeigten Fähigkeiten und Fertigkeiten einerseits und der potentiell vorhandenen Kapazität. Als wichtige Aufgabe von Rehabilitation kann diesbezüglich gelten, diese Reservekapazitäten auszuschöpfen (z.B. durch die Motivation der Person und/oder eine entsprechende Umweltgestaltung) . 

 Wichtig erscheint aber auch, begrenzte Reservekapazitäten und Veränderungspotentiale zu berücksichtigen, d.h. die spezifische Situation des Alters zu beachten . Dazu zählen beispielsweise die verringerte Anpassungsfähigkeit älterer Menschen an gesundheitliche Störungen und die eingeschränkte Fähigkeit zur Restitution aufgrund von Multimorbidität. So erklärt Kruse: „Auch wenn dabei zu bedenken ist, daß sich diese Kompetenzverluste bei einem großen Teil der älteren Bevölkerung erst in einem sehr hohen Lebensalter einstellen (...), und wenn gleichzeitig berücksichtigt werden muß, daß sich auch im hohen Lebensalter in der psychophysischen Kompetenz große interindividuelle Unterschiede zeigen, so darf jedoch nicht übersehen werden, daß sich durch die erhöhte Anfälligkeiten für (chronische) Krankheiten sowie durch die allmählich verringerte Fähigkeit, sich an diese Krankheiten anzupassen und die Homöostase wiederherzustellen, auch Grenzen in dem Veränderungspotential sowie in der Reservekapazität ergeben“ . 

 Rehabilitation im Alter, so kann hieraus gefolgert werden, darf weder  unter-  noch überfordern. Dies stellt eine schwierige Gratwanderung dar. Sie muß einerseits beachten, daß viele ältere Menschen über Kapazitäten verfügen, die erst mit der Zeit im Zuge einer differenzierten Diagnostik oder Beobachtung offenbar werden; andererseits müssen gleichermaßen bestimmte Grenzen, die sich durch den Alterungsprozeß ergeben, berücksichtigt und akzeptiert werden . 

3. 7. 3  Berücksichtigung interindividueller Unterschiede

 Des weiteren ist immer von der individuellen Situation der jeweiligen Person auszugehen. Gerontologische Längsschnittstudien haben verschiedentlich gezeigt, daß die interindividuellen Unterschiede im Alternsprozeß eher zunehmen. Der Prozeß des Alterns ist also von einer zunehmenden Differenzierung zwischen Personen des gleichen Lebensalters gekennzeichnet . Das chronologische Alter an sich hat damit nur eine geringe Aussagekraft. Bis in das höchste Lebensalter hinein sind bei Mitgliedern der gleichen Altersgruppe sehr große Unterschiede z.B. hinsichtlich ihres Gesundheitszustandes oder ihrer Alltagskompetenz erkennbar . 

 Rehabilitation muß dementsprechend die individuelle Situation des einzelnen zum Ausgangspunkt nehmen. Es gilt die individuellen Kapazitäten und Bedürfnisse zu bestimmen, einen individuellen Rehabilitationsplan zu entwickeln und das individuelle Veränderungspotential im Laufe der Rehabilitation zu analysieren . Rehabilitation kann also kein Standardverfahren sein. Dies gilt insbesondere auch für die Zielsetzung, die sich an den Möglichkeiten und Bedürfnissen der jeweiligen Person orientieren muß. Die globalen Zieldefinitionen sind im Einzelfall zu präzisieren und differenzieren . Ziel ist in diesem Sinne nicht ein Rehabilitationsmaximum, sondern ein Rehabilitationsoptimum für jede einzelne Person. So kann für den einzelnen schon die selbständige Ausführung von einfachen Alltagsverrichtungen das Ziel sein. „Es kann und sollte nicht darum gehen, Altern nach einer Norm zu gestalten oder gar darum, die Person zu einer normierten Selbstgestaltung zu drängen. Prävention und Rehabilitation im Alter müssen individuelle Ressourcen und Potentiale aufgreifen, müssen oft erst helfen, sie für die Person erkennbar zu machen, und sie orientiert an Bedingungen der individuellen Lebenssituation nutzen oder stärken“ . Hierbei gilt es stets, die Persönlichkeit des einzelnen zu respektieren . 

3. 7. 4  Beachtung der intraindividuellen Variabilität

 Neben interindividuellen Unterschieden bestehen auch erhebliche intraindividuelle Unterschiede im Alter. Der Alternsprozeß weist in verschiedenen Kompetenzbereichen unterschiedliche Verläufe auf, in denen sich biographische Erfahrungen und Handlungen widerspiegeln. „Das lebenslange Training von bestimmten Funktionen führt im Alter zu erhöhter Kompetenz in diesen Funktionsbereichen, während mangelndes Training einzelner Funktionen im Alter zu verringerter Kompetenz in diesen Bereichen führt; dies gilt für Körperfunktionen, für kognitive und seelische Fähigkeiten sowie für die Kompetenz im sozialen Bereich. Darüber hinaus wird die Kompetenz im Alter durch die in der Biographie gezeigte Offenheit für neue Situationen sowie durch die biographisch gewachsene Plastizität (im Sinne des Veränderungspotentials) bestimmt. Und schließlich beeinflussen die in der Biographie entwickelten Interessen die individuelle Kompetenzstruktur im Alter“ . 

 Rehabilitation im Alter hat dementsprechend immer beim individuellen Kompetenzprofil anzusetzen. Sie hat erstens danach zu fragen, welche Kompetenzen bei der betreffenden Person vorhanden sind, wo vielleicht besondere Kompetenzen liegen und welche Beeinträchtigungen vorliegen. Generalisierende Beurteilungen (entweder krank, inkompetent, hilfs-/pflegebedürftig oder gesund und kompetent) sind kontraproduktiv und entsprechen in der Regel auch nicht der Realität. „In der Regel weist die Leistungsfähigkeit eines Menschen bereits in den Dimensionen ‘physische’, ‘psychische (kognitive)’, ‘soziale Kompetenz’ große Unterschiede auf“ . So deuten Untersuchungen darauf hin, daß nicht wenige körperlich chronisch erkrankte Menschen über ausgeprägte Kompetenzen im kognitiv-emotionalen und sozialen Bereich verfügen . Entscheidend ist auch die subjektiv erlebte Kompetenz. Diese muß nicht mit der objektiv feststellbaren Kompetenz übereinstimmen. Bei hohen psychischen Belastungen (z.B. beim Verlust eines nahestehenden Menschen, bei einer schweren Erkrankung) ist nicht selten die subjektive Überzeugung erkennbar, den Anforderungen des Alltags nicht mehr gewachsen zu sein, obwohl dies objektiv nicht gegeben ist. Dem subjektiven Erleben muß eine besondere Aufmerksamkeit geschenkt werden; es kann ein großes Hindernis bei rehabilitativen Bemühungen sein . Schließlich gilt es die Reversibilität der bestehenden Beeinträchtigungen festzustellen. Statische Beurteilungen (wie z.B. im allgemeinen mit dem Begriff der Pflegebedürftigkeit verbunden), die von einer Unabänderlichkeit vorliegender Einschränkungen ausgehen, verlieren Entwicklungsmöglichkeiten des alten Menschen, die durch Rehabilitation erzielt werden könnten,  aus dem Auge. Hier muß es also um eine dynamische Sicht gehen . Gleichzeitig  müssen  allerdings auch  irreversible Beeinträch-tigungen  akzeptiert werden. 
 Insgesamt - so kann festgehalten werden - ist eine differenzierte Wahrnehmung sowohl der Beeinträchtigungen und Einschränkungen als auch der Kompetenzen in den verschiedenen Dimensionen gefordert. Rehabilitation setzt dann an den einzelnen, differenziert erfaßten Fähigkeiten und Fertigkeiten an: erhaltene Kompetenzen gilt es zu stärken und zu stützen, verlorengegangene wiederzugewinnen oder zu kompensieren . 

3. 7. 5  Biographische Perspektive

 „Altern ist Teil der individuellen Biographie“ . Es ist beeinflußt von der Entwicklung in früheren Lebensabschnitten.  Im Laufe des Lebens entwickelt das Individuum spezifische Einstellungen, Lebensstile und Formen der Auseinandersetzung mit Aufgaben, Belastungen und kritischen Lebensereignissen, deren Kontinuität hoch ist, und die deshalb die Erlebens-, Verhaltens- und Kompetenzstruktur im Alter mitbestimmen . Mit Kontinuität ist nicht Konstanz gemeint: Erleben und Verhalten bleiben nicht gänzlich konstant und unverändert. „Mit dem Begriff der Kontinuität wird lediglich die enge Verwandtschaft zwischen zeitlich früherem und zeitlich späterem Erleben und Verhalten ausgedrückt“ . 

 Rehabilitation muß diese biographische Perspektive berücksichtigen. So müssen sich Rehabilitationsmaßnahmen an der bisherigen Lebensform des Betreffenden und seinen Vorstellungen orientieren . Des weiteren ist zu beachten, daß die Art und Weise, wie sich die jeweilige Person mit gegebenen Belastungen und Beeinträchtigungen auseinandersetzt, von ihren persönlichen, im Laufe des Lebens entwickelten  Bewältigungsformen geprägt wird. Dabei ist miteinzubeziehen, daß die Erlebens-, Verhaltens- und Kompetenzstrukturen relativ stabil und nur schwer veränderbar sind . 

3. 7. 6 Einbeziehung des Kontextes

 Erlebens-, Verhaltens- und Kompetenzstruktur des alten Menschen sind allerdings nicht nur vor dem biographischen Hintergrund zu sehen; sie werden auch von der aktuell objektiv gegebenen und subjektiv erlebten Umwelt beeinflußt . 

 Eine diesbezügliche Untersuchung von Kruse zeigt beispielsweise, daß unter eingeschränkten Lebens- und Umweltbedingungen das Potential zur kompetenten Alltagsgestaltung und zur gelingenden Auseinandersetzung mit Anforderungen und Belastungen reduziert sein kann. Dies ist besonders bei Vorliegen gesundheitlicher Einschränkungen der Fall. Das Tätigkeits- und Interessenspektrum der gesundheitlich beeinträchtigten alten Menschen, deren Situation sich durch eine schlechte Wohnqualität und fehlende soziale Unterstützung auszeichnen, erweist sich als deutlich geringer als das der Vergleichsgruppe unter positiven Umweltgegebenheiten. Unter objektiv bestehenden und subjektiv erlebten Belastungen (besonders bei einer Kumulation von Benachteiligungen) läßt sich eine zunehmende Niedergeschlagenheit, eine abnehmende Plastizität des Erlebens und Verhaltens und ein Kontrollverlust beobachten . 

 Rehabilitation muß vor diesem Hintergrund immer den Kontext, in dem die jeweilige Person lebt, berücksichtigen und mit in die Betrachtung einbeziehen. Problematische Umweltgegebenheiten können den Erfolg rehabilitativer Bemühungen, d.h. die Bewältigung von Krankheit oder Behinderung und die Wiedererlangung bzw. Erhalt von Lebensqualität und Kompetenz, in Frage stellen. Neben Lebenslageaspekten (wie der Wohnungssituation, der ökonomischen Lage, dem Familienstand, versorgungsstrukturellen Gegebenheiten) gilt dies besonders auch für das Verhalten der  sozialen Umwelt, besonders der Angehörigen. Der Rehabilitationserfolg hängt maßgeblich von als hilfreich und unterstützend empfundenen sozialen Beziehungen und Interaktionen ab . Oft kann überprotektives Verhalten gegenüber dem rehabilitationsbedürftigen älteren Menschen beobachtet werden: eine Tendenz, den Betreffenden übermäßig zu schonen, zu betreuen, Tätigkeiten abzunehmen und damit seine Entwicklung zu bremsen und behindern . Aber auch Verhaltensweisen wie der Rückzug von Verwandten und Freunden oder eine negative Erwartungshaltung dem Betroffenen und dem Erfolg der Rehabilitation gegenüber können sich negativ auswirken . Hier wird offensichtlich, daß besonders die nahen Bezugspersonen in den Prozeß der Rehabilitation unbedingt miteinzubeziehen sind. Umgekehrt ist ebenso zu berücksichtigen, daß sich die Erkrankung/Behinderung vielfältig auf das soziale Umfeld des Betroffenen auswirkt. Hier sind langfristige Belastungen auf verschiedenen Ebenen (psychisch, sozial, ökonomisch) zu erwarten.  Langwierige Lebensumstellungen und Anpassungs- und Bewältigungsprozesse werden nicht nur vom Betroffenen selbst gefordert, sondern insbesondere auch von seinen Bezugspersonen . 

3. 7. 7  Gefahren und Grenzen einer Rehabilitation im Alter

 Nach ausführlicher Darstellung der theoretischen konzeptionellen Prämissen und Ansprüchen einer Rehabilitation im  Alter ist nach den möglichen Grenzen und Gefahren zu fragen. „Die Gefahr einer eindimensionalen Überbetonung von ‘Rehabilitation im Alter’ liegt wohl noch in weiter Ferne. Dennoch gilt es auch eine solche Gefahr im Auge zu behalten“ . 

 Grenzen einer Rehabilitation im Alter sind bereits angesprochen worden, sollen hier aber nochmals kurz thematisiert werden. Sie liegen darin, daß Alternsprozesse und letztlich der Tod durch Interventionen und rehabilitative Maßnahmen nicht aufgehoben werden können. Eine ‘Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben’ muß auch die Grenzen des menschlichen Handelns - die Irreversibilität -  erkennen und akzeptieren, sonst besteht die Gefahr der Inhumanität und der Verletzung der menschlichen Würde . „Verzicht ist - wird er im Blick auf diese Grenzen geleistet - nicht etwas Negatives, sondern etwas Notwendiges“ . 

 Eine mögliche Gefahr liegt auch in der gesetzlich fixierten ‘Eigenverantwortung’. So heißt es im Pflegeversicherungsgesetz, daß die Pflegebedürftigen an Maßnahmen der medizinischen Rehabilitation und der aktivierenden Pflege mitzuwirken haben, um die Pflegebedürftigkeit zu überwinden, zu mindern oder eine Verschlimmerung zu verhindern. Hier wird aus dem Recht auf Rehabilitation zugleich eine Pflicht zur Rehabilitation. Munder fragt hier: „Was verbirgt sich möglicherweise hinter dieser Pflicht zur Mitwirkung? Ist es eine Haltung, die den Wert des Menschen mißt an dem Ausmaß seiner Fähigkeit zur Reaktivierung, Rehabilitation, Resozialisation, Reintegration und ähnlichem? Wie wird dann umgegangen mit dem hochaltrigen Menschen, dessen körperliche und seelische Kraft nicht mehr ausreicht, um zu kämpfen (...)?“ . 

 Eine Gefahr des Mißbrauchs des rehabilitativen Gedankens liegt schließlich auch dort vor, wo Rehabilitation mehr an den Bedürfnissen der Umwelt ausgerichtet wird, d.h. an den Belangen und Interessen der Angehörigen und der professionellen Helfer (z.B. im Sinne einer „Pflegeleichtigkeit“ ). Hier bedarf es einer kritischen und reflexiven Betrachtung der Ziele, die mit den jeweiligen individuellen Rehabilitationsmaßnahmen verfolgt werden. Rehabilitative Bemühungen müssen  primär die Lebensqualität und die Kompetenz des Betroffenen im Auge haben. 

3. 8 Wissenschaftliche Fundierung

 Eine neue soziale Altenarbeit erfordert eine vermehrte wissenschaftliche Fundierung. „Die bisherige soziale Altenarbeit zeichnet sich durch einen weitgehenden Mangel an theoretischen Grundlagen und empirischer Forschung aus“ . Theorieentwicklung und empirische Forschung müssen neue Ansätze begleiten, um Veränderungen der Altersphase und Strukturen, Anforderungen und Potentiale von Altenarbeit zu erfassen. Alte, veränderte und neue Bedürfnisstrukturen und Bedarfslagen gilt es aufzuzeigen. Maßnahmen, Dienste und Einrichtungen der sozialen Altenarbeit müssen kritisch überprüft werden. 

 

4. Konkretisierung von Grundprinzipien sozialer Altenarbeit hinsichtlich therapeutischer Ansätze in der Arbeit mit dementiell erkrankten alten Menschen

 Die dargelegten Anforderungen an die heutige und zukünftige soziale Altenarbeit bieten Kriterien, anhand derer therapeutische Ansätze in der Arbeit mit dementiell erkrankten alten Menschen kritisch hinterfragt werden können. Dabei kann m.E. nicht nur auf die von Otto und Schweppe für das ‘schwere Alter’ formulierten, sondern auch auf die anderen Grundprinzipien zurückgegriffen werden. Auch das mit Krankheit verbundene Alter muß von der geforderten Neuformulierung sozialer Altenarbeit profitieren. Als wesentlich erscheinen dabei folgende Punkte: 

· die Berücksichtigung der Individualität des einzelnen, 
· die Orientierung an der subjektiven Perspektive des je Betroffenen und seinen Bedürfnissen, 
· das Einbeziehen des lebensgeschichtlichen Gewordenseins und des je gegebenen Kontextes, 
· eine Orientierung an Kompetenzen und Potentialen, 
· umfassende, lebensweltbezogene Zielvorstellungen, 
· die Beachtung der Selbst- und Mitbestimmung, 
· und schließlich eine wissenschaftliche Fundierung durch empirische Forschung. 

Was dies für die von einer dementiellen Erkrankung Betroffenen und ihre therapeutische Unterstützung heißen kann, soll im folgenden zu skizzieren versucht werden. 

Grundsätzlicher Ausgangspunkt sozialer Altenarbeit muß die Heterogenität der Altenbevölkerung, die Binnendifferenzierung des Alters sein. Unterschiedliche Biographien, Lebenslagen und -stile, Interessen, Bedürfnisse und Bedarfslagen führen im Prozeß des Alterns zu einer zunehmenden Differenzierung. Starre Definitionen von Zielgruppen sind aufgrund der erheblichen interindividuellen Unterschiede wenig sinnvoll. Genauso wenig wie es den alten Menschen gibt, gibt es den dementiell Erkrankten. Trotz angebbarer durchschnittlicher, prinzipieller Verläufe dementieller Erkrankungen und allgemeiner diagnostischer Kriterien sind die interindividuellen Unterschiede erheblich. Der dementielle Prozeß ist von Person zu Person sehr verschieden ausgestaltet. So wird die Krankheit vom einzelnen jeweils unterschiedlich erfahren und verarbeitet. Hierbei  spielen - wie  in  Kapitel  II.3.7.4  ausführlich  dargelegt wurde - die Persönlichkeit des einzelnen, seine Biographie und die jeweiligen Umfeldbedingungen eine Rolle. Die individuelle Bezugnahme auf jeden einzelnen dementiell erkrankten Menschen in seiner jeweiligen Situation ist deshalb besonders bedeutsam. Dies heißt, daß nicht allein die viel zu grobe Diagnose ‘Demenz’ zum Ausgangspunkt therapeutischer Bemühungen genommen werden kann. Sie kann zwar als grundlegende Basis betrachtet werden, ist aber allein unzureichend. Maßstab therapeutischer Ansätze sollte vielmehr der jeweilige Mensch mit seiner subjektiven Perspektive und Sichtweise (d.h. die Art und Weise, wie der einzelne seine Erkrankung und seine gesamte Situation erlebt) und jeweiligen Bedürfnislagen sein. Diese Orientierung an der Person heißt auch, diesbezügliche Veränderungen im Verlauf der Erkrankung, also den prozessualen Aspekt, zu berücksichtigen. Mit fortschreitender Demenz bzw. bei schwereren Formen dieser Erkrankung wird es allerdings für die Betroffenen zunehmend schwieriger, sich ihrem Umfeld verständlich zu machen und ihre Perspektive und Bedürfnisse selbst zu artikulieren. Das Umfeld wird damit im Rahmen der therapeutischen Begleitung dann vor die Aufgabe gestellt, durch empathische Einfühlung und aufmerksame Beobachtung zu versuchen, die Sichtweise des einzelnen trotzdem so weit wie möglich zu verstehen (insofern dies überhaupt annähernd aus der Perspektive des ‘Gesunden’ machbar ist) und seine individuellen Bedürfnisse zu entschlüsseln. Bis zu einem gewissen Grad ist man m.E. hierbei letztlich auch immer auf Interpretationen angewiesen. 

Hilfreich bzw. notwendig für ein möglichst gutes Verständnis des einzelnen und eine Orientierung an der Person ist eine umfassende, ganzheitliche Betrachtung. Dies bedeutet zunächst, daß der alte Mensch, auch der an einer Demenz erkrankte, als Körper-Seele-Geist-Einheit zu sehen ist. Den Betroffenen als Ganzheit zu verstehen, heißt, nicht nur seine geistige Leistungsfähigkeit bzw. diesbezügliche Einschränkungen - wie es bei dementiell erkrankten Menschen leicht geschieht -, sondern vielmehr beispielsweise auch - damit zusammenhängend - seine Emotionen, sein Erleben und Erfahren von Sinn, seine Identität etc. miteinzubeziehen. Wenn eine umfassende therapeutische Unterstützung als erstrebenswert angesehen wird, muß über die Veränderungen kognitiver Fähigkeiten im Zuge einer dementiellen Erkrankung hinausgegangen und müssen ebenso andere Dimensionen des Daseins Betroffener stärker berücksichtigt werden. 
Zudem gilt es, den dementiell erkrankten alten Menschen in seinem jeweiligen aktuell gegebenen und subjektiv erlebten Kontext zu betrachten und dies in der therapeutischen Begleitung zu berücksichtigen. Hierbei spielen insbesondere interpersonelle Beziehungen im engeren Lebensbereich zu Familienangehörigen oder auch zu Mitarbeitern und Mitbewohnern in einer Institution etc. eine wichtige Rolle. Eine dementielle Erkrankung hat vielfältige Auswirkungen nicht nur auf den direkt Betroffenen selbst, sondern auch auf sein Umfeld. Welche Konsequenzen die dementielle Erkrankung z.B. auf die (pflegenden) Angehörigen und ihr psychisches wie physisches Wohlbefinden und soziales Leben hat bzw. haben kann, ist bereits angesprochen worden (vgl. Kap. II.3.7.1). Gleichzeitig wirken sich Umfeldbedingungen auch auf den dementiell Erkrankten aus. Problematische Umweltgegebenheiten können negative Folgen für das Wohlbefinden, die Kompetenz und das Verhalten des Betroffenen haben. So haben beispielsweise Verhaltensweisen der sozialen Umwelt wie Entmündigung, Kontrolle, Überfürsorglichkeit, Gleichgültigkeit, eine negative Erwartungshaltung, aber auch Unter- wie Überforderung durch die personelle wie auch dingliche Umwelt potentiell negative Konsequenzen für das Wohlbefinden des dementiell Erkrankten und können sich in als in der Regel problematisch etikettiertem Verhalten äußern (vgl. Kap. II.3.7.4). Vor allem Verhaltensweisen und Deutungen der personellen Umwelt, aber auch institutionelle Strukturen sind deshalb immer hinsichtlich ihrer Wirkung auf den Menschen mit dementieller Erkrankung zu reflektieren und in die therapeutische Arbeit miteinzubeziehen. 
Schließlich ist im Rahmen einer ganzheitlichen Betrachtung immer auch das lebensgeschichtliche Gewordensein des einzelnen, d.h. die jeweilige biographische Vergangenheit und auch deren historische Hintergründe (wie geschichtliche Gegebenheiten, Wert- und Normvorstellungen, etc.) zu beachten. Altern ist Teil der Biographie: im Laufe des Lebens entwickelte Einstellungen, Interaktions- und Lebensstile und Formen der Auseinandersetzung mit Aufgaben und Belastungen, aber auch Gewohnheiten beeinflussen mit großer Kontinuität das Erleben und Verhalten im Alter. So wird auch die Auseinandersetzung mit einer dementiellen Erkrankung geprägt von lebenslang entwickelten Coping-Strategien der Betroffenen. Die je individuelle Verarbeitung und Erfahrung der Demenz verleihen dem dementiellen Prozeß das individuelle Gepräge, das es zu berücksichtigen gilt. Auch sollten therapeutische Ansätze in ihren Maßnahmen vor diesem Hintergrund der Lebenslaufperspektive Einstellungen und Lebensstil des dementiell erkrankten alten Menschen akzeptieren und respektieren. 

Ein ganzheitliches Verständnis meint aber noch mehr. Im Rahmen einer Neuformulierung sozialer Altenarbeit sollen Orientierungen an pauschalisierenden, eindimensionalen Altersbildern, wie insbesondere im Rahmen eines einseitigen Defizitmodells, vermieden werden. Statt dessen ist eine ganzheitliche Perspektive anzustreben, die Altern als einen komplexen Prozeß von sowohl Verlusten, Schwächen und ‘Verfall’ als auch von Gewinnen, Stärken und  Wachstum betrachtet. Gefordert ist ein differenziertes Verständnis vom Altern. Dies bedeutet auch, Demenz nicht nur einheitlich als Verlust, Abbau etc. zu sehen und dementiell erkrankte Menschen in nivellierender und generalisierender Sichtweise als inkompetent, hilfs- und pflegebedürftig zu verstehen und darauf mit einer kompletten ‘Entsorgung’ zu reagieren. Dies wird leicht durch Beschreibungen dementieller Erkrankungen und ihrer Symptome - wie z.B. im Diagnostischen und Statistischen Manual (vgl. Kap. II.3.2) -  nahegelegt. Vielmehr müssen auch bei Menschen, die von einer dementiellen Krankheit betroffen sind, bzw. vielleicht insbesondere bei diesen Menschen, neben Beeinträchtigungen auch vorhandene Kompetenzen und Ressourcen wahrgenommen und neben Grenzen durch die Irreversibilität der Erkrankung auch (unausgeschöpfte) Potentiale erkannt und berücksichtigt werden. So ist beispielsweise davon auszugehen, daß die Gefühlswelt dementiell erkrankter alter Menschen mit ihren emotionalen Empfindungen, Bedürfnissen und der gefühlsmäßigen Sensibilität für die Einstellungen und Emotionen anderer Menschen (sehr lange) erhalten bleibt. Neben solchen allgemeinen, für alle Betroffenen zu reklamierenden Kompetenzen bzw. Möglichkeiten spielen hierbei besonders auch je individuelle Kompetenzen bzw. Potentiale eine wichtige Rolle, die es herauszufinden und zu entdecken gilt. 

Bei den Kompetenzen und Potentialen dementiell Erkrankter bestehen Anknüpfungspunkte für Aktivierung und Stimulation. Wie beschrieben (vgl. Kap. II.3.7.3) kann von einer Bedrohung der Identität im Rahmen einer dementiellen Erkrankung ausgegangen werden. Bedeutsame Tätigkeiten können plötzlich nicht mehr ausgeführt werden. Eine Diskreditierung des Selbst, da eigene und fremde Erwartungen nicht mehr erfüllt werden können, und soziale Isolation können die Folgen sein. Aufgrund eigener Einschränkungen kann sich der Betroffene leicht nur noch als Last für andere empfinden. Hinzu kommt eine Verlust des Selbstwissens. Aktivitäten, die Potentiale und vorhandene Kompetenzen der jeweiligen Person aufgreifen und zu fördern bzw. auszuschöpfen versuchen, können Betroffenen helfen, sich durch das eigene Tätigsein selbst zu erfahren und Selbst-Bewußtsein, Selbstwertgefühl und letztlich auch Sinn in der Erkrankung aufrechtzuerhalten und zu fördern. Daneben können auch z.B. Alltagskompetenzen objektiv erhalten und/oder verbessert werden mit dem Ziel möglichst großer Selbständigkeit und Unabhängigkeit. Zurückgegriffen werden kann beispielsweise auf biographisch tief verankerte Tätigkeiten (wie u.a. Aktivitäten des täglichen Lebens oder des berufliches Engagements,...), aber auch an noch vorhandenes Wissen und Erfahrungen aus dem gelebten Leben. Wesentlich ist hierbei, sich auf dem schmalen Grat zwischen Unter- und Überforderung zu bewegen, um nicht Gegenteiliges zu bewirken, indem den Betroffenen z.B. durch eine Überforderung ihre Defizite vor Augen geführt werden. Entscheidend ist zudem der Bezug der Aktivitäten zur jeweiligen Person und ihrer Biographie. Nicht irgendeine aufgegriffene Beschäftigung bringt Befriedigung, Selbstwert- und Sinnerleben für den dementiell erkrankten alten Menschen; vielmehr sind positive Auswirkungen vor allem dann zu erwarten, wenn für die Tätigkeiten Ansatzpunkte und Bereitschaft aus dem Lebenslauf vorhanden ist. Bei der Orientierung an vorhandenen Potentialen und Kompetenzen dementiell erkrankter alter Menschen geht es - so kann festgehalten werden - vorwiegend um deren persönliche ‘Nutzung’. Gesellschaftliche ‘Produktivität’ kann bei hinsichtlich einer Überforderung so verletzlichen Personen nicht das Ziel sein. 

Umfassende, lebensweltbezogene Zielvorstellungen der Kompetenz und Lebensqualität können sinnvolle Orientierungslinie für therapeutische Maßnahmen in der Arbeit mit dementiell erkrankten alten Menschen sein. Lebensqualität umfaßt neben objektiven Aspekten (wie beispielsweise sozialer Partizipation) auch das subjektive Erleben und Befinden der Menschen. Ebenso beinhaltet die Zielvorstellung der Kompetenz objektive wie subjektive Komponenten. Mit diesen Zielvorstellungen wird der Bezug hergestellt zum dementiell erkrankten Menschen und seiner Perspektive, seinen Bedürfnissen, Kompetenzen und Potentialen, d.h. zur Orientierung an der Person. Lebensqualität und Kompetenz richten sich auf die objektiv gegebene und subjektiv erlebte Qualität der gesamten Lebenssituation der Betroffenen. Sie können herangezogen werden, um Zielsetzungen der therapeutischen Ansätze kritisch zu hinterfragen, z.B. nach ihren Auswirkungen auf das subjektive Erleben oder nach ihrer Relevanz bezüglich der Lebensbewältigung des dementiell erkrankten alten Menschen. Gefahren liegen auch dort, wo therapeutische Maßnahmen primär an den Belangen und Interessen der Umwelt ausgerichtet werden und Betroffene lediglich ‘handhabbarer’ gemacht werden sollen. 

Grundsätzliches Prinzip bei der Neuformulierung sozialer Altenarbeit ist schließlich die Selbstbestimmung und Partizipation der Adressaten. Der alte Mensch wird als eigenverantwortliches, selbstbestimmendes Subjekt verstanden, das seine Bedürfnisse selbst formuliert und Maßnahmen und Angebote auch mitgestaltet. Auch in der therapeutischen Begleitung und Unterstützung von Menschen mit dementieller Erkrankung ist dies als Leitlinie zu verfolgen. Im Zuge einer Demenz auftretende Gedächtnisstörungen, die sich auf die Orientierung in verschiedenen Dimensionen auswirken und infolgedessen zu situationalen Fehleinschätzungen, zum Verlaufen etc. führen können, sowie ein infolge von Denkstörungen eingeschränktes Urteils- und (Selbst-)Kritikvermögen und eine beeinträchtigte Entscheidungs- und Einsichtsfähigkeit verführen dazu, Betroffene zu verobjektivieren und ihnen mit einer überwachenden Versorgung zu begegnen. Selbst- und Mitbestimmung dementiell erkrankter alter Menschen zu berücksichtigen, kann heißen, den ‘natürlichen Willen’ so weit wie möglich zu respektieren, aktivierende Tätigkeiten nicht zu Zwangsveranstaltungen zu machen und Betroffenen möglichst große eigene Erlebens- und Aktivitätsspielräume, Wahlfreiheit und Unabhängigkeit zuzugestehen. 

Nicht zuletzt gilt es, neben einer kritischen theoretischen Betrachtung anhand genannter Kriterien, therapeutische Ansätze in der Arbeit mit dementiell erkrankten alten Menschen auch empirisch hinsichtlich ihrer Resultate und Effekte zu überprüfen.


 

 
 
 

IV.  Therapeutische Ansätze in der Arbeit mit dementiell erkrankten alten Menschen

Im nun folgenden Kapitel sollen ausgewählte therapeutische Ansätze in der Arbeit mit dementiell erkrankten alten Menschen dargestellt und vor dem Hintergrund der entwickelten Prinzipien kritisch betrachtet werden. Es wird hierbei der Begriff der Therapie gegenüber dem der Behandlung bevorzugt: letzterer drückt m.E. in negativer Weise eine Verobjektivierung des zu Behandelnden aus. Therapie kann sowohl als kausale Heilung, aber auch in einem weiten Verständnis in seiner ursprünglichen, aus dem Griechischen entlehnten Bedeutung, die ‘beistehen’, ‘helfen’ und auch ‘dienen’ meint, verstanden werden . 

Grundsätzlich zu unterscheiden sind nichtmedikamentöse Ansätze verschiedenster Provenienz und medikamentöse Ansätze. Letztere können eine kausale Therapie anstreben oder sich aber auf eine Symptomlinderung oder -beseitigung beziehen. Aus der Darstellung dementieller Syndrome geht bereits hervor, daß das zu wählende therapeutische Vorgehen abhängig von der jeweils zugrundeliegenden Erkrankung ist bzw. davon bestimmt werden sollte. 

1. Medikamentöse Therapie

Viele sekundäre Demenzen sind einer medizinisch-pharmakologischen Therapie zugänglich und zumindest teilweise reversibel (vgl. Kap. II.3.6), wenn eine rechtzeitige und genaue Differentialdiagnose frühzeitige medizinische (internistische oder neurologische) Maßnahmen ermöglicht. 

Der größte Teil dementieller Erkrankungen ist allerdings nach heutigem Wissensstand nicht bzw. nur sehr eingeschränkt medizinisch kausal zu therapieren. Neben medizinisch nicht oder aufgrund einer zu späten Diagnose nicht mehr beeinflußbaren sekundären Demenzen  sind dazu vor allem die sogenannten degenerativen Demenzen (als die größte Untergruppe der primären Demenzen) zu zählen. Bei ihnen ist die Pathogenese (noch) nicht bekannt oder aber trotz des Wissens um die Entstehung nicht medizinisch beeinflußbar . Es gibt zwar eine Reihe von Substanzen, bei denen eine hirnleistungsfördernde Wirkung vermutet wird (z.B. Nootropika); allerdings zeigen sich positive Effekte am ehesten in leichten Stadien, und es läßt sich z.B. bei der Demenz vom Alzheimer-Typ bestenfalls - so Bruder -  „eine Verschiebung der nach unten gerichteten Verlaufskurve der Hirnleistungsfähigkeit um etwa ein Jahr erreichen“ . Auch Mielke und Kessler konstatieren bezüglich der Demenz vom Alzheimer-Typ: „Obwohl erhebliche Fortschritte im Verständnis der Pathogenese der AD gemacht wurden, gibt es bis heute keine kausale Behandlung mit dauerhaftem Erfolg im Sinne einer anhaltenden Besserung kognitiver Defizite. Das heißt man ist weit von einer medikamentösen Behandlung entfernt, die den Krankheitsprozeß (...) aufhalten könnte. Auch eine Therapie, die in die Pathogenese der Erkrankung eingreift, ist selbst hypothetisch nicht in Sicht, da die Entstehungsmechanismen der AD noch nicht soweit aufgeklärt sind“ . Die medizinische Therapie der Multi-Infarkt-Demenz (die zweithäufigste Demenz) ist ebenfalls begrenzt. Die M.I.D. ist bislang lediglich partiell kausal therapierbar: ihre Progressionsrate kann z.B. bei optimaler Einstellung des Blutdrucks und Blutzuckers und anderen Risikofaktoren verlangsamt, und die kognitiven Fähigkeiten können verbessert werden . 

Die Bedeutung medizinisch-pharmakologischer Strategien liegt bei diesen dementiellen Erkrankungen vor allem in der Therapie begleitender behandelbarer Erkrankungen, die den dementiellen Prozeß überlagern und verschlechtern können, und in der Therapie psychischer Symptome. Inwiefern letzteres bei Betrachtung der damit in der Regel verbundenen, oft nicht unbeträchtlichen Nebenwirkungen und vor dem Hintergrund eines umfassenden Verständnisses von Demenz (wie in Kap. II.3.7 skizziert) sinnvoll ist, mag hier dahingestellt bleiben und muß in jedem Fall individuell abgewogen werden. 

Bruder weist allerdings darauf hin, daß trotz der nüchternen Feststellungen bezüglich einer kausalen oder den Krankheitsprozeß entscheidend beeinflussenden Therapie „bei jedem Älteren mit einem nicht auszuräumenden Verdacht einer beginnenden Demenz, insbesondere bei noch leichterer Ausprägung, ein medikamentöser Behandlungsversuch erwogen werden [sollte]“ . Eine (zeitweise) medikamentöse Therapie ist seiner Meinung nach beispielsweise durch zumindest potentielle Placebo-Effekte auf die Leistungsfähigkeit zu rechtfertigen. „Außerdem ist nicht zu unterschätzen, daß selbstfinanzierte Nootropika zu einer Haltung der Aufmerksamkeit und des fürsorglichen Umgangs mit der eigenen Person beitragen können, aus der im Sinne von autosuggestiven Kräften möglicherweise positive Einflüsse auf Stimmung und geistige Frische ausgehen“ . 

2. Nichtmedikamentöse Therapie

Bei dem Großteil dementieller Erkrankungen spielen, den begrenzten medizinischen Möglichkeiten entsprechend, insbesondere nichtmedikamentöse Therapien eine wichtige Rolle. In den vergangenen Jahren ist eine immer weitere Ausdifferenzierung diesbezüglicher therapeutischer Ansätze zu verzeichnen. Neben speziellen Interventionen gewinnen allmählich auch allgemeine psychotherapeutische Verfahren an Bedeutung. Obwohl die von den verschiedenen Therapieverfahren geforderten Fähigkeiten des Klienten (wie z.B. eine ausreichende Ich-Stärke, Motivation, Fähigkeit zur Introspektion, Lernfähigkeit,...) beim dementiell Erkrankten nicht oder nur eingeschränkt vorhanden sind bzw. immer mehr verlorengehen, beschäftigen sich doch zumindest einige Therapeuten zunehmend auch mit der Gruppe dementiell erkrankter alter Menschen. Hierbei spielen vor allem psychodynamische Therapien, Verhaltenstherapien und systemische Ansätze eine wichtige Rolle. Daneben findet auch der kunst- und musiktherapeutische  Umgang mit dieser Zielgruppe immer mehr Interesse . Als spezielle therapeutische Ansätze für Menschen mit einer dementiellen Erkrankung oder auch für ‘Verwirrte’ etc. (die Zielgruppendefinitionen differieren diesbezüglich) sind neben eher pflegerischen Konzepten (wie z.B. dem ‘Dortmunder Modell’ von Göschel) vor allem kognitive Trainings und Gedächtnistrainings verschiedener Art, Selbst-Erhaltungs-Therapie, Validation, Reminiszenztherapie, Milieu-therapie, Realitätsorientierungstraining und ‘Resolution Therapy’ als die bekanntesten zu nennen . 

2. 1  Begründung der Auswahl

Im folgenden möchte ich mich aufgrund des begrenzten Rahmens dieser Arbeit auf die Darstellung zweier Ansätze beschränken. Darstellen möchte ich zum einen die Validation und zum anderen die Milieutherapie; letztere schließt zudem eine Erläuterung des Realitätsorientierungstrainings, das sich als spezifische Form der Milieutherapie verstehen läßt, mit ein. Diese Ansätze erscheinen mir aus verschiedenen Gründen darstellungswürdig. 

So ist laut Müller nach Literaturanfragen in den USA und in Deutschland die Validation eines der prominentesten Verfahren . In Deutschland zeigt sich insbesondere im Pflegebereich ein steigendes Interesse an diesem Ansatz, was sich in einer zunehmenden Anwendungsverbreitung und einem entsprechendem Zulauf zu Fortbildungen und Vorträgen äußert. Die Validation erscheint dabei vor allem aufgrund seines eigenwilligen, nicht unumstrittenen Verständnisses von ‘Verwirrtheit’ bemerkenswert. Zudem stellt die Validation einen individuumsbezogenen, eher psychotherapeutischen Ansatz dar. Damit wird dem Vorwurf von Cotrell und Schulz begegnet,  nichtmedikamentöse Ansätze bezögen sich meist lediglich auf sogenanntes Problemverhalten: „Interventions should be assessed not only for their efficacy in altering problem behaviors but also for their potential impact on the recipient’s quality of life“ . 

Die Milieutherapie stellt demgegenüber einen umfassenden, umweltbezogenen Ansatz dar. Erfahrungsberichte aus Modelleinrichtungen/-stationen beschreiben meist als Grundlage nicht isolierte Interventionen, sondern ein milieutherapeutisches Gesamtkonzept. Besonders die spezifische Akzentuierung der Milieutherapie in Form des Realitätsorientierungstrainings gilt als der klassische Ansatz in der Arbeit mit dementiell erkrankten Menschen schlechthin. Seine Entwicklung - so Müller - „stellte in einer Zeit der Kustodialversorgung eine bahnbrechende Innovation dar“ . Das Realitätsorientierungstraining gab den Anstoß für die Beschäftigung mit einer bis dato vernachlässigten Gruppe. Insbesondere für diesen Ansatz läßt sich bis heute eine große Verbreitung in der Praxis konstatieren. Ebenso wie die Validation ist auch das Realitätsorientierungstraining dabei nicht unumstritten. 

2. 2 Validation

Die Validation ist ein individuums- und biographiebezogen arbeitender therapeutischer Ansatz, dem ein zunehmend großes Interesse entgegengebracht wird. Validation wurde von der US-amerikanischen Sozialarbeiterin Naomi Feil Ende der 60er/Anfang der 70er Jahre aus ihrer praktischen Tätigkeit in einem Altenheim heraus entwickelt. „Ich lernte die Methode der Validation von den Menschen, mit denen ich arbeitete“ . Ausschlaggebend war das von ihr festgestellte Fehlschlagen von Ansätzen wie der Realitätsorientierung und Remotivation bei ‘verwirrten’ alten Menschen . „The residents did not respond to reality orientation, remotivation or insight-oriented group therapy; instead they would withdraw, vegetate and become increasingly hostile when confronted with present reality“ . 

Ihr Ansatz der Validation (zunächst als ‘Fantasy Therapy’ bezeichnet) betont das Einlassen auf phantasievolle und nicht vom logischen Denken geleitete Gefühlsinhalte der ‘verwirrten’ alten Menschen . Kommunikation und ‘Verstehen’ sind zentrale Bestandteile der Validation.  „Validation therapy emphasizes communication with confused elderly people in whatever reality they are in, even though this may not correspond with our ‘here and now’ reality“ . Jemanden zu validieren bedeutet, an seinen Gefühlen teilzunehmen, sie anzuerkennen und als wahr zu bestätigen. Grundlegend ist dabei die Annahme der Einzigartigkeit, Individualität und Würde des ‘verwirrten’ alten  Menschen. 

Validation ist dabei nicht nur als ein pragmatischer aus der praktischen Arbeit entstandener Handlungsansatz zu verstehen, sondern wird von Feil auch theoretisch untermauert. „Validation setzt sich aus allen drei Elementen zusammen: Leitbild - Grundhaltung - Techniken. Eines allein, ohne die beiden anderen, ist nicht Validation. Erst die Kombination aus allen drei macht die Validation von anderen Methoden unterscheidbar (...)“ . Der Validation liegen vor allem Prinzipien, Haltungen und Techniken aus verschiedenen psychologischen ‘Schulen’ zugrunde, insbesondere aus der psychoanalytischen und humanistischen Psychologie, wie die folgende Übersicht verdeutlicht . 

A) Akzeptieren Sie Ihren Patienten, ohne ihn zu beurteilen (Carl Rogers). 
B) Der Therapeut kann weder Einsicht verschaffen  noch das Verhalten ändern, wenn der Patient nicht bereit ist,  sich zu ändern  oder nicht die kognitive Fähigkeit zur Einsicht besitzt (Sigmund Freud). 
C) Verstehen Sie Ihren Patienten als einzigartiges Individuum (Abraham Maslow). 
D) Gefühle, die ausgedrückt und dann von einem vertrauten Zuhörer bestätigt und validiert wurden, werden schwächer, ignorierte oder geleugnete Gefühle stärker. Aus einer nicht beachteten Katze wird ein Tiger (C.G. Jung). 
E) Jedes Lebensstadium hat seine spezifische Aufgabe, die wir zu einem bestimmten Zeitpunkt unseres Lebens lösen müssen. Wir müssen danach streben, diese Aufgabe zu erfüllen und dann zur nächsten schreiten (Erik Erikson). 
F) Eine übergangene Aufgabe meldet sich in einen späteren Stadium wieder (Erik Erikson). 
G) Die Menschen streben nach Gleichgewicht (Homöostase) (S. Zuckerman). 
H) Wenn das Kurzzeitgedächtnis versagt, stellen sehr alte Menschen durch frühe Erinnerungen das Gleichgewicht wieder her. Versagt der Gesichtssinn, sehen sie mit dem inneren Auge; versagt der Gehörsinn, so hören sie Klänge aus der Vergangenheit (Wilder Penfield). 
I) Frühe, gefestigte Erinnerungen überleben bis ins hohe Alter (F.G. Schettler und G.S. Boyd). 
J) Das Gehirn ist nicht der einzige Verhaltensregulator im hohen Alter. Verhalten beruht auf einer Kombination von körperlichen, sozialen und intrapsychischen Veränderungen, die im Laufe des Lebens stattfinden (Adrian Verwoerdt). 
K) Autopsien haben ergeben, daß sehr viele Menschen trotz ernster Beeinträchtigungen des Gehirns relativ orientiert bleiben (Charles Wells). 
L) Es gibt immer einen Grund für das Verhalten von desorientierten, sehr alten Menschen (N. Feil). 
M)  Jeder Menschen ist wertvoll - wie desorientiert er auch sein mag (N. Feil). 
 

Auch in Deutschland entsteht zunehmendes Interesse an diesem therapeutischen Konzept. Eine große Rolle spielt hier allerdings auch die Diplom-Pädagogin Nicole Richard mit ihrem leicht differierenden Ansatz des ‘Integrativen Validierenden Arbeitens’ . 

Der folgenden Darstellung liegen vor allem Feils Ausführungen in ihrem Buch ‘Validation. Ein neuer Weg zum Verständnis alter Menschen’ zugrunde . 

2. 2. 1 Theoretische Grundlagen der Validation

Feil bezieht sich in ihrem Ansatz auf Eriksons Modell des menschlichen Lebenszyklus. Erikson postuliert in seinem Modell acht zentrale universell vorprogrammierte Entwicklungsaufgaben oder Krisen, die das Individuum im Laufe seines Lebens zu durchlaufen hat. Diese Krisen sind notwendige Wendepunkte in der subjektiven Entwicklung. Jedes Lebensalter hat seine spezifische Aufgabe. Die erfolgreiche Bewältigung der vorherigen Lebensaufgabe ist zwar keine notwendige Voraussetzung, um auf die nächsthöhere Stufe zu gelangen; sie erhöht aber die Wahrscheinlichkeit des erfolgreichen Durchlaufens der späteren Stufe, d.h. ob bzw. wie die gerade anstehende Aufgabe bewältigt wird, hängt  davon  ab, wie  bisherige  Aufgaben gelöst  worden  sind. 

Für das höhere Alter postuliert Erikson das Stadium der ‘Integrität versus Verzweiflung’. Hier stellt sich dem alten Menschen die Aufgabe, sein Leben zu resümieren und herauszufinden, wer man war und wo man steht. Ich-Integrität wird erreicht, wenn das eigene Leben akzeptiert werden kann. „Ich mag mich selbst. Trotz meiner unerfüllten Träume, meiner Fehler, meiner Verluste bin ich glücklich, geboren worden zu sein. Ich respektiere mich; ich habe Integrität; ich kann Kompromisse eingehen. Ich kann akzeptieren, was ich bin, was ich war und nicht war“ .  Wenn eine solche Resümierung des eigenen Lebens nicht gelingt, weil frühere Aufgaben nicht (ganz) gelöst wurden, entsteht Verzweiflung. „Gefühle, die ein Leben lang erfolgreich unterdrückt waren, werden in ihrem Verließ stärker. Mit einer Last, die unerträglich wird, gehen wir ins hohe Alter“ . 

An dieser Stelle fügt Feil ein neuntes Stadium hinzu. Sie verweist darauf, daß diese Stufe erst jetzt im Zuge der gestiegenen und noch steigenden Lebenserwartung der Menschen beobachtbar wird. Die alten Menschen, die bis ins hohe Alter unbewältigte Konflikte mit sich tragen, betreten ein letztes Stadium ‘Verarbeiten versus Vegetieren’ - dies sind die ‘verwirrten’ und ‘desorientierten’, hochaltrigen Menschen. „Diese sehr alten Menschen haben mir allmählich gezeigt, daß man im hohen Alter noch eine andere Aufgabe erfüllen muß“ . In diesem Stadium kehren die hochaltrigen Menschen, die keine Integrität erreicht haben und mit ihren ungelösten Konflikten ‘festsitzen’, in die Vergangenheit zurück, um diese zu lösen. „Sie bereiten ihre letzte Reise vor. Sie mustern die schmutzige Wäsche aus, die sich im Lagerhaus der Vergangenheit angesammelt hat“ . Dies ist kein bewußter Rückzug in die Vergangenheit wie im Stadium der ‘Integrität versus Verzweiflung’, sondern wird als das menschliche Bedürfnis beschrieben, in Frieden zu sterben. „Nach Feil haben wir in der Altersverwirrtheit von Menschen jemanden in der letzten Phase seines Lebens vor uns, der auf einzigartige, ganz persönliche Weise Frieden machen will“ . 

Der Rückzug aus der gegenwärtigen Realität in die innere Welt und Vergangenheit wird - so Feil - unterstützt durch körperliche, aber auch soziale Verluste, die oft mit dem hohen Alter einhergehen. So verstärken sensorische Beeinträchtigungen diesen Rückzug. Wenn die Außenwelt gedämpfter wahrgenommen wird oder trüber erscheint, kann dies dazu führen, „mit dem inneren Ohr zu hören“ oder „mit dem inneren Auge [zu] sehen“ .  Das Gehirn kann durch kleine Schlaganfälle oder anderweitig geschädigt werden, was sich negativ auf das Kurzzeitgedächtnis oder das Denkvermögen auswirken und so ebenfalls den Rückzug begünstigen kann. Auch mögliche soziale Verluste im hohen Alter, die alte Menschen der sozialen Anregung und Stimulation berauben, können dazu beitragen: der Tod von nahestehenden Bezugspersonen, Isolation und Einsamkeit, Rollenverluste, Identitätsverlust, Verlust der eigenen Wohnung durch Institutionalisierung etc. „Die Außenwelt verschwimmt. Was draußen passiert, ist nicht mehr von Bedeutung. Es gibt niemanden mehr, der sich um einen kümmert, niemanden, den man liebt; es gibt nichts zu tun“ . 

Der Rückzug der ‘verwirrten’ alten Menschen aus der gegenwärtigen Realität hat nach Feil demnach wichtige Funktionen der Verarbeitung und des Überlebens. Er dient der Bearbei-tung unbewältigter Konflikte aus früheren Lebensphasen. Zudem wird der verlustreichen gegenwärtigen Realität dadurch entgangen. Diese kann anders nicht gemeistert werden, da es den Betroffenen an einem flexiblen Verhaltensrepertoire fehlt. Da die Realität keine Befriedigung der Bedürfnisse (z.B. danach, sich sicher und geliebt zu fühlen oder gebraucht zu werden und produktiv zu sein) (mehr) bietet, stimulieren sich die ‘desorientierten’ alten Menschen durch ihre erhalten gebliebenen Erinnerungen selbst: sie wiederbeleben Bilder, Klänge, Gerüche, Emotionen aus ihrer Vergangenheit. „Mit der Weisheit menschlicher Erfahrung und Intuition kehren sie in die Vergangenheit zurück, um aufzuräumen und ihre Grundbedürfnisse nach Liebe und Identität zu befriedigen“ . 

Das letzte Stadium des ‘Verarbeitens versus Vegetierens’ unterteilt Feil weiter in vier Unterstadien der Desorientierung bzw. „Phasen der Aufarbeitung“ .  Diese werden bestimmt durch psychologische als auch physische Charakteristika. „Jedes Stadium entspricht einem weiteren Rückzug aus der Realität (...)“ . Feil weist darauf hin, sich nicht zu sehr auf diese Kategorien zu fixieren: „(...) manche Personen bewegen sich innerhalb fünf Minuten von einem Stadium zum nächsten, im allgemeinen befinden sie sich aber die meiste Zeit in ein und demselben“ . 

Als grundsätzlich für das Verständnis der ‘desorientierten’, alten Menschen erachtet sie dabei das Verstehen ihrer Symbole. „Um alte Menschen in diesen vier Stadien zu verstehen, müssen wir ihre Symbole verstehen“ . Objekte und Personen der Gegenwart werden - so Feil - von den alten Menschen gebraucht, um frühere Empfindungen auszudrücken. Sie sind dabei Symbole für Dinge oder Menschen, die in der Vergangenheit real existierten; so wird z.B. die lang unterdrückte Wut den Eltern gegenüber auf andere Personen der Gegenwart projiziert und so artikuliert. Beeinträchtigte kognitive Fähigkeiten und sensorische Einschränkungen begünstigen diesen Vorgang. Feils Äußerungen läßt sich entnehmen, daß es neben typischen persönlichen Symbolen auch universelle Symbole gibt. „Diese universellen Symbole werden ohne Unterschied von Rasse, Religion, Kultur oder Geschlecht verwendet“ . So soll beispielsweise Nahrung ‘Liebe’ oder ‘Mutter’ symbolisieren. 

Im ersten Stadium der  - wie Feil formuliert - mangelhaften Orientierung herrscht eine ‘unglückliche Orientierung an der Realität’ vor. Die betroffenen Personen halten an gesellschaftlich vorgeschriebenen Rollen, Regeln und sozialen Verpflichtungen fest - „(...) mit einer Ausnahme. Sie haben das Bedürfnis, alte Konflikte in verkleideter Form zu äußern, indem sie Personen der Gegenwart als Symbole für Personen der Vergangenheit verwenden“ . Gefühle werden in diesem Stadium geleugnet und unter Kontrolle gehalten. Die Betroffenen „projizieren ihre tiefliegenden  Ängste auf andere, um ihr Gleichgewicht aufrechtzuerhalten“ . Wichtig für sie sind Sprache, Verstand und Rationalität. Sie zeichnen sich durch eine klare Kommunikation, den Gebrauch korrekter Worte und vollständiger Sätze und durch das Bewußtsein zu Zeit, Ort und Personen der Gegenwart aus. Menschen in diesem Stadium erschrecken über gelegentliche Ausfälle des Gedächtnisses, fühlen sich durch die eigene Desorientierung bedroht und sind darüber beschämt. Mit Humor oder Konfabulationen wird versucht, Verluste zu überdecken. Ein starkes Streben nach Kontrolle aus Angst vor einem Kontrollverlust zeigt sich auch daran, daß es zu Wut über andere kommt, die sich nicht unter Kontrolle haben, auch am Wunsch, alle Dinge an ihrem Platz zu wissen und am Sammeln und Horten. Körperkontakt, Berührungen und Nähe werden vermieden und zurückgewiesen.  Körperlich drückt sich diese psychische Situation aus durch einen klaren und zielgerichteten Blick, eine steife Haltung und  präzise und gezielte Bewegungen. Oft wird nach Stock, Tasche oder Mantel gegriffen. 

Das zweite Stadium nennt Feil das der Zeitverwirrtheit. „Ein hohes Maß an körperlichen und sozialen Verlusten bringt das Faß zum Überlaufen. (...). Zeitverwirrte Menschen können die Verluste nicht mehr leugnen, sich nicht mehr an die Realität klammern; sie versuchen nicht mehr, sich an eine chronologische Ordnung zu halten und ziehen sich zurück“ . Gefühle werden nun nicht mehr geleugnet. Die Betroffenen kehren zu grundlegenden, universellen Gefühlen zurück (Liebe, Angst vor Trennung, Haß,...). Die Energie wird auf die Lösung unbewältigter Konflikte gerichtet und auf das Aktivieren von Gefühlen des Angenehmen und der Nützlichkeit. Menschen in diesem Stadium kümmern sich nicht mehr um Fakten der gegenwärtigen Realität wie Uhrzeit, Namen und Orte. Um Dinge und Personen der Vergangenheit wiederzubeleben, werden zunehmend Symbole verwendet. „Eine vertraute Bewegung dient als Fahrzeug, lebendige (eidetische) Bilder liefern die PS“ . ‘Zeitverwirrte’ Menschen verlieren die Selbstkontrolle und die Fähigkeit zum sozialen Verhalten. Sie fordern oft die sofortige Befriedigung ihrer Bedürfnisse und halten sich nicht mehr an soziale Konventionen. Zudem ist die Fähigkeit zur verbalen Kommunikation eingeschränkt: die Betroffenen haben eine eigene Sprache, benützen Wortneuschöpfungen. Die zunehmende Ablösung von der gegenwärtigen Realität läßt sich auch an körperlichen Charakteristika ablesen: Die Betroffenen nehmen eine entspanntere Haltung an und zeigen sanfte und langsame Bewegungen. Der Blick ist klar, aber nicht mehr zielgerichtet. 

Im Stadium III der  - so Feil - sich wiederholenden Bewegungen findet ein weiterer Rückzug in vorsprachliche Bewegungen und Klänge statt, um unbewältigte Konflikte zu lösen und Identität wiederzugewinnen. Gefühle, die lebenslang unterdrückt wurden, brechen nun unkontrolliert hervor. Nach Feil ist der alte Mensch nun weise genug, diese Gefühle - wie z.B. Wut, Scham, Schuldgefühle - auszudrücken. Das Denkvermögen und der Wunsch danach sind verschwunden. Der Betroffene lebt nach seinem eigenen Zeitgefühl. Bewegungen halten den alten Menschen am Leben, indem sie ihn in die Vergangenheit transportieren. Sie schaffen Vergnügen, kontrollieren die Angst, mildern Langeweile und sichern die Existenz. Die Sprache wird unverständlich; sie dient nun dem sinnlichen Vergnügen, das durch die Zunge, Zähne und Lippen erzeugte Klänge bereiten. Menschen im dritten Stadium der Desorientiertheit kehren „zu ‘frühen Sprachformen’ zurück“ . Auch die sich wiederholenden Klänge stimulieren, beruhigen und helfen bei der Verarbeitung von Gefühlen. Entspannte Muskeln, graziöse und rhythmische, sich wiederholende Bewegungen und rastloses Auf- und Abgehen kennzeichnen nach Feil Menschen in dieser Phase. Die Augen sind oft geschlossen, oder der Blick ist nicht zielgerichtet. Meist sind die Menschen in diesem Stadium inkontinent. 

Im vierten Stadium schließlich - Feil nennt es das Stadium des Vegetierens - „(...) verschließt sich der alte Mensch völlig von der Außenwelt und gibt das Streben, sein Leben zu verarbeiten, auf. Der eigene Antrieb ist minimal, gerade genug, um zu überleben“ . Die Betroffenen erkennen ihre nahen Angehörigen nicht mehr. Sie zeigen kaum mehr Gefühle, initiieren keine Aktivitäten mehr. „Es gibt kein Mittel, um herauszufinden, ob sie etwas verarbeiten“ . Die Augen sind meist geschlossen, oder der Blick ist leer und ungerichtet. Das Gesicht ist ausdruckslos. Menschen in dieser Phase verhalten sich ruhig, sitzen zusammengesackt oder liegen in embryonaler Stellung. Bis auf häufige Fingerbewegungen sind kaum Bewegungen wahrnehmbar. 

2. 2. 2 Die Zielgruppe der Validation

Bei der Darstellung der grundlegenden entwicklungstheoretischen Annahmen der Validation sind bereits wichtige Merkmale genannt worden, die die Zielgruppe dieses therapeutischen Ansatzes aufweist. Für wen Validation gedacht ist, soll hier noch einmal deutlich herausgestellt werden. Feil nennt folgende Charakteristika der „desorientierten, sehr alten Menschen“ , die die Zielgruppe von Validation darstellen: 

· Diese Menschen haben ein hohes Alter über 80 Jahre (wobei sie sich der Relativität des chronologischen Alters bewußt ist), 
· sie haben ein relativ glückliches Leben geführt, 
· weisen keine geistige Behinderung, keine psychische Störung und kein organisches Trauma auf, 
· haben ernste Krisen ihr ganzes Leben lang geleugnet, 
· halten an überlebten Rollen fest und haben kein flexibles Verhaltensrepertoire, 
· weisen Beeinträchtigungen des Gehirns mit dementsprechenden kognitiven Beeinträch-tigungen  und auch sensorische Einschränkungen auf, 
· haben eine eingeschränkte Bewegungsfähigkeit, eine beeinträchtigte Gefühlskontrolle sowie ein mangelhaftes Kurzzeitgedächtnis, 
· befriedigen ihre Bedürfnisse nach Liebe, nach Identität und danach, ihre Gefühle auszudrücken, durch Körperbewegungen und früh erlernte Bilder, 
· müssen unbewältigte Gefühle ausdrücken, 
· ziehen sich auf die Ebene des Unbewußten zurück, um der schmerzvollen Realität der Gegenwart zu entgehen, 
· befinden sich im Stadium ‘Verarbeiten versus Vegetieren’, 
· rufen bei ihrem Bemühen die Vergangenheit wach, 
· sind bis zum Tod mit ihrer letzten Lebensaufgabe beschäftigt. 

2. 2. 3  Zielvorstellungen

 Die beschriebenen Stadien der Desorientierung skizzieren den fortschreitenden Rückzug des ‘verwirrten’ alten Menschen aus der gegenwärtigen Realität. Validation - so Feil - kann dieses zunehmende Abgleiten in das Vegetieren verhindern, indem Validation die Betroffenen dabei unterstützt,  ihre unbewältigten Konflikte durch das Ausdrücken der damit 

 verbundenen Gefühle zu verarbeiten. „Verdrängte Emotionen müssen auf dieser Suche nach Lösungen befreit werden; sie müssen während dieses letzten Lebensstadiums ans Licht kommen“ . Validation will dem alten, ‘desorientierten’ Menschen Unterstützung bieten bei der Bewältigung seiner letzten Lebensaufgabe, in Frieden zu sterben. Grundlegend ist dabei die Annahme, daß unbeachtete Gefühle stärker, offengelegte Gefühle hingegen, die durch einen vertrauten Zuhörer bestätigt und validiert werden, schwächer werden. „Wirkliches, einfühlsames Zuhören (Validieren) erleichtert die emotionale Last. Ein bestätigtes, geteiltes und validiertes Gefühl kann entschwinden“ . 
 Dabei  geht es  nicht  um  eine kognitive Bewältigung von Konflikten, da die Betroffenen nach Feil die kognitive Fähigkeit zur Einsicht verloren haben. „Sie können ihre Emotionen nicht mehr mit dem Intellekt steuern oder die Gründe für ihre Gefühle herausfinden, um ihr Verhalten zu ändern. Sie haben die Fähigkeit des ‘AHA!’, des plötzlichen Erkennens eingebüßt“ . Zu beachten ist des weiteren, daß der alte Mensch seine unbewältigten Lebensaufgaben niemals vollständig lösen wird, daß er bis zum Tod damit beschäftigt sein wird. Wichtig erscheint ihr, realistische Zielsetzungen für jede einzelne Person festzusetzen. 

 Indem im Rahmen der Validation die Gefühle des Betroffenen zu verstehen versucht, angenommen, akzeptiert und bestätigt werden, soll des weiteren eine Vertrauensbasis geschaffen  und Sicherheit gegeben werden. Angst und Streß sollen so vermindert werden. Angestrebt wird zudem eine Stärkung der Identität und des Selbstwertgefühls des alten Menschen. Validation soll ihm seine Würde zurückgeben bzw. bewahren. Validation soll „(...) Vertrauen her[stellen], das für den alten Menschen Sicherheit bedeutet. Wenn  Menschen sich sicher fühlen, gewinnen sie an Stärke: Die Interaktion nimmt zu, sie beginnen zu sprechen, teilen ihre Gedanken und Gefühle mit, das Selbstwertgefühl und die Würde steigen“ . Auch auf die Stimulanz von „Wohlbehagen und Glück“  zielt Validation: „(...) alle fühlen sich glücklicher, wenn sie anerkannt werden“ . 

 Schließlich nennt Feil als weitere Ziele von Validation die Verbesserung des Gehvermögens und körperlichen Wohlbefindens des alten Menschen und die Reduktion von chemischen wie physikalischen Zwangsmitteln, die lediglich ein weiteres Fortschreiten des Rückzugs fördern. 

2. 2. 4  Die Grundhaltung in der Validation

 Zentraler Bestandteil von Validation sind bestimmte Haltungen und Eigenschaften des Anwenders, „die für eine wirkungsvolle Ausübung von Validation erforderlich sind. Die Techniken sind Nebensache“ . Diese Grundhaltungen leitet Feil aus der klientenzentrierten Gesprächspsychotherapie bzw. Gesprächsführung nach Rogers ab. Er konzeptualisierte die drei therapeutischen Basisvariablen Akzeptanz und Wertschätzung des Klienten und seiner Äußerungen, Echtheit und reales Zugegensein und schließlich einfühlendes Verstehen (gezeigt durch die Verbalisierung emotionaler Erlebnisinhalte) . 

 Als grundlegend erachtet Feil zunächst einmal die Wertschätzung, Akzeptanz und Achtung des alten Menschen und seiner Gefühle. „Der Validations-Anwender (...) urteilt nicht, er akzeptiert und achtet die Weisheit der alten Menschen“ . Er achtet und respektiert den Rückzug  des ‘verwirrten’ alten Menschen als einen wichtigen Prozeß des Verarbeitens. Er versteht die Ziele des alten Menschen, die sich von denen junger Menschen unterscheiden. Nicht das Denken, Produzieren, klare Kommunizieren und die Kontrolle von Zeit und auch Gefühlen etc. werden von ‘desorientierten’, alten Menschen angestrebt; diese wollen sich vielmehr - so Feil - aus der schmerzhaften, verlustreichen Gegenwart zurückziehen, Angenehmes aus der Vergangenheit wiederbeleben, sich selbst stimulieren und dadurch Langeweile lindern und unbewältigte Konflikte durch das Ausdrücken der Gefühle lösen. Interindividuelle Unterschiede, d.h. die Einzigartigkeit eines jeden, sollen dabei grundsätzlich respektiert werden. Desorientierung wird des weiteren von Feil zwar als Regression verstanden, aber sie betont, daß der alte Mensch als Erwachsener zu achten ist. „Der desorientierte Mensch ist kein Kind. Der V/A [Validations-Anwender, U.E.] ist kein Elternteil und verwendet auch keine autoritären Wörter wie ‘soll’ oder ‘muß’. Er bestraft nicht, droht nicht und verhält sich nicht anmaßend“ . Der Validations-Anwender kann ihm auch nicht Gefühle ‘erlauben’ oder ‘verbieten’. 
 Der Validations-Anwender darf sich einerseits nicht vor den Gefühlen des alten Menschen verschließen, noch darf er in Respekt vor der Privatsphäre Gefühle erzwingen und forcieren. „Zu den Zielen der Validationsmethode gehört es weder, diesen Prozeß voranzutreiben noch ihn zu ignorieren. Vielmehr wird den alten Menschen geholfen, ihn eigenständig, in ihrem eigenem Tempo zu erfahren“ . Auch sollen geäußerte Gefühle niemals durch den Validations-Anwender analysiert und beurteilt werden. Achtung und Respekt meint weiterhin, daß den alten Menschen nicht die Realität, die ja nicht seine ist, aufgezwungen werden darf. Der Validations-Anwender „läuft niemals voraus, um ihnen die Realität aufzuzwingen (...)“ . Der Validations-Anwender geht den alten Menschen allerdings auch nicht nach: „ (...) er läuft auch nicht herablassend hinterdrein und gibt vor, mit ihnen einer Meinung zu sein (...)“ . Validation heißt vielmehr, neben und mit den Betroffenen zu gehen, sie zu begleiten und mit ihnen zu teilen, „was immer SIE teilen wollen [Hervorhebung im Original]“ . Dabei ist der Validations-Anwender immer echt und ehrlich. „Desorientierte, sehr alte Menschen erkennen Verstellung. Der Taube wird ein Kichern ’hören’, der Blinde wird ein Grinsen ‘sehen’“ . 

 Mit Einfühlungsvermögen und Empathie versucht der Validations-Anwender, die Welt mit den Augen des ‘verwirrten’, alten Menschen zu sehen und bemüht sich so, Zugang zu dessen persönlicher Realität zu bekommen. Es geht darum, ‘in die Schuhe des anderen zu schlüpfen’. Der Validations-Anwender fühlt sich in das Erleben, in die Gefühle des Betroffenen ein. Er „stimmt sich in den Patienten, in seinen Rhythmus ein, fängt seine verbalen Signale auf und beobachtet die nonverbalen Signale“ . Die wahrgenommenen Gefühle des alten Menschen werden verbalisiert oder non-verbal bestätigt und validiert. Der Validations-Anwender „kleidet Gefühle in Worte, bestätigt sie und gibt dem Menschen seine Würde zurück“ . Der Betroffene kann sich so verstanden und angenommen fühlen. 

2. 2. 5  Validationstechniken

 Auf der Basis der beschriebenen Grundhaltungen  werden die  Techniken  der  Validation - abgestimmt auf das jeweilige Stadium der ‘Verwirrtheit’ - angewendet. Sie haben zum Ziel, eine Beziehung aufzunehmen und die verbale und nonverbale Kommunikation zu fördern. Feil weist darauf hin, daß diese Techniken nicht Rezepte oder Vorschriften für die Herangehensweise darstellen. „Es gibt keine Universalformel, da jeder Mensch anders ist. Jeder V/A [Validations-Anwender, U.E.] muß seine eigene Methode finden, auf sehr alte, desorientierte Menschen einzugehen. Ist er ehrlich, aufrichtig und fürsorglich, kann er desorientierte, sehr alte Menschen nicht verletzen; sie werden ihm verzeihen, wenn er einen Fehler macht“ . 

 Der erste Schritt zur Anwendung von Validation ist das Einschätzen des alten Menschen. Es gilt herauszufinden, in welchem Stadium der ‘Desorientiertheit’ er sich befindet; außerdem muß möglichst viel über die Vergangenheit, die gegenwärtige Situation und die Zukunftsperspektiven der Person erfahren werden. Erst dann kann man „wirklich fruchtbringend arbeiten“ . Dies erfordert eine sorgfältige, neutrale und nicht wertende Beobachtung des Betroffenen, sowie Gespräche mit dem Betroffenen selbst und seinen Angehörigen. 

 Gegenwartsbezogene Fragen helfen, über die Reaktionen der Person das Stadium der ‘Desorientierung’ festzustellen. Die Nichtbeantwortung von gefühlsmäßigen Fragen deutet z.B. auf das erste Stadium der mangelhaften Orientierung hin, während eine ‘zeitverwirrte’ Person nicht auf die gegenwartsbezogenen Fragen antworten und statt dessen über frühere Erfahrungen sprechen wird. Mit auf die Vergangenheit gerichteten Fragen wird versucht, etwas über unvollendete Lebensaufgaben, unterdrückte Emotionen, unerfüllte Bedürfnisse, das Verhalten in Krisensituationen und gegenüber den Verlusten im Alter, frühere Beziehungen, den Beruf, Hobbys und Interessen zu erfahren. Auch die Beobachtung körperlicher Charakteristika (Art der Bewegungen, Blick, etc.) gibt Aufschluß über das Stadium der ‘Desorientierung’. Darüber hinaus sollte das bevorzugte Sinnesorgan des Betroffenen durch Beobachtung der spontanen Augenbewegungen bei Fragen festgestellt werden (hier bezieht sich Feil auf das Neurolinguistische Programmieren). 

 Auf diesen Informationen über den Menschen und den Grad seiner ‘Desorientiertheit’ basieren die Validationstechniken. Die Dauer des jeweiligen Kontakts hängt dabei ab von der Fähigkeit der Person zur Verbalisierung und zur Konzentration und dem Zeitbudget des Validations-Anwenders. Das validierende Gespräch oder die validierende Interaktion sollte dann beendet werden, wenn sich sichtbare Zeichen verminderter Angst zeigen (z.B. bei einem Menschen im ersten Stadium ein regelmäßiger Atem, ein entspanntes Gesicht, etc.). Validation kann nach Feil überall stattfinden; allerdings ist es äußerst wichtig, „daß die Privatsphäre strikt eingehalten wird und eine persönliche Beziehung in einer privaten Umgebung besteht, die auf Vertrauen basiert. Validation kann auch in einem großen Raum mit anderen Menschen stattfinden, es muß aber ein intimer Raum, frei von kritischen Kommentaren oder Beklemmung provozierenden Störungen, geschaffen werden“ . 

 Im Stadium I der ‘mangelhaften Orientierung’ verwendet Feil (fast) ausschließlich verbale Techniken: Fragen nach ‘wer, was, wo, wann, wie’, eine zusammenfassende Wiederholung der Aussage der Person mit deren eigenen Schlüsselwörtern, die Benutzung von Worten, die das bevorzugte Sinnesorgan des Betreffenden ansprechen, Fragen nach dem Extrem (Wann ist es am Schlimmsten?) und nach dem Gegenteil (Gibt es eine Zeit, wo das nicht passiert?) und die Aktivierung von Erinnerungen (durch Worte wie ‘immer’ und ‘niemals’). Hierbei ist zu beachten, daß „Menschen in Stadium I (...) sich vor intimen, vertraulichen Beziehungen zurück[ziehen] und (...) sich durch Gefühle bedroht [fühlen]“ . Berührungen sind in Form von Händeschütteln oder einer sanften Berührung des Arms möglich; darüber hinaus werden sie oft als unangenehm empfunden. 

 Anders ist dies im Stadium II der ‘Zeitverwirrtheit’. Neben den beschriebenen verbalen Techniken wendet Feil hier auch nonverbale an. Sie setzt Berührungen ein, „echten, direkten, längeren“  Augenkontakt und spricht mit „klarer, tiefer, warmer, liebevoller Stimme“ . In diesem Stadium sollen die Emotionen des Betroffenen beachtet werden, die nun frei ausgedrückt werden. Feil empfiehlt, den eigenen Gesichtsausdruck, den Körper, die Stimme und den Atem den Gefühlen des alten Menschen anzupassen und mit Gefühlen auf seine Emotionen zu reagieren, d.h. die Gefühle verbal oder auch non-verbal zu bestätigen und validieren. Der Validations-Anwender soll versuchen, einen Zusammenhang zwischen dem Verhalten des alten Menschen und grundlegenden menschlichen Bedürfnissen zu suchen (dem Bedürfnis, sich sicher und geliebt zu fühlen, nützlich und aktiv zu sein oder spontane Gefühle auszudrücken und gehört zu werden).  Auch die Verwendung von Musik (vor allem bekannte, in der Kindheit erlernte Lieder) erachtet sie als sinnvoll. 

 Im Stadium III der ‘sich wiederholenden Bewegungen’ werden die verbalen Techniken nur noch angewandt, „wenn die Person auf verbaler Ebene kommunizieren kann“ . Dies ist meist nicht mehr der Fall. Die nonverbalen Techniken für Menschen im Stadium der Zeitverwirrtheit werden auch hier verwendet. Feil verweist darauf, daß es von Bedeutung ist, wie und wo der alte Mensch berührt wird. „Frühe emotional gefärbte Erinnerungen sind in den oberen Gehirnregionen für immer eingeprägt. Sie können also eine wichtige Beziehung zu Ihrem Patienten in Stadium III herstellen, wenn sie ihn so berühren, wie er als Kind von einer geliebten Person berührt wurde“ . Darüber hinaus kann in dieser Phase nach Feil durch das Singen bekannter Lieder, durch Gebete, vertraute Gedichte und Kinderreime mit dem alten Menschen kommuniziert werden. Weiter empfiehlt sie das Spiegeln der Körperbewegungen und der Atmung  des alten Menschen: „Ihre Aufgabe ist es, die Ursache für dieses Verhalten zu begreifen, um Ihr Verhalten mit den Bedürfnissen des Menschen nach Liebe, Identität oder Gefühlsäußerungen in Bezug zu setzen“ . 

 Für die Begleitung im vierten Stadium des ‘Vegetierens’ schlägt Feil vor, weiter Berührungen zu verwenden, mit aufrichtiger und fürsorglicher Stimme zu sprechen, Musik einzusetzen und zu versuchen, Blickkontakt herzustellen, was sich in dieser Phase äußerst schwierig gestaltet. Sie verweist auf die große Bedeutung, die dem Wissen und den Informationen über die Person zukommt, „da dies der einzige Anhaltspunkt ist. Die Person zeigt keine emotionalen ‘Affekte’; es gibt keine äußeren Zeichen, die auf das Innenleben verweisen. Wir vertrauen jedoch darauf, daß im inneren etwas vor sich geht“ . 

 Als grundlegend bei all diesen Techniken gilt, den alten Menschen unbelastet und mit Offenheit gegenüberzutreten, d.h. „ohne all das Gepäck, das wir in unserem Alltag mit uns herumschleppen“ . 

2. 2. 6 Validation in Gruppen

 Validation kann nicht nur im Rahmen individueller Validation, sondern auch in Gruppen stattfinden. Hierbei geht es nach Feil insbesondere (neben den bereits dargestellten Zielvorstellungen) in einer Atmosphäre der Geborgenheit auch darum, soziale Rolle zu stimulieren, Interaktion und Kommunikation, ein Wir-Gefühl und soziale Kontrolle zu fördern. „In einer Gruppe schauen Menschen einander an, sitzen nahe beieinander, berühren sich beim Tanzen und Händehalten. Energie verteilt sich im Raum. Die Gruppe beschwört Erinnerungen an Rollen in der Familie, an frühere Gruppenrollen und soziales Verhalten herauf. Die Menschen beginnen zuzuhören und das Sprechvermögen wird besser. Sie sorgen sich um den anderen (...). Sie teilen gemeinsame Probleme (...).Sie gewinnen ihre Würde wieder (...). Sie validieren einander“ . 

 Auch für die Gestaltung von Validationsgruppen gilt, viele Informationen über die potentiellen Teilnehmer zu sammeln. Entscheidend ist, in welchem Stadium sich die betreffenden Personen befinden. Mangelhaft orientierte Personen aus dem ersten Stadium sind nach Feil nicht für Validationsgruppen geeignet. „Mangelhaft orientierte Personen, die Angst vor Gefühlen haben und sich den Verlust ihres Kurzzeitgedächtnisses nicht eingestehen können, gehören nicht in eine Validationsgruppe. Der V/A [Validations-Anwender, U.E.] müßte eine solche verwirrte Person, die oft weint, klagt oder andere Gruppenmitglieder für ihre Fehler verantwortlich macht, in die Schranken weisen“ . Diese Personen können - so Feil - von anders orientierter Gruppenarbeit aber durchaus profitieren. Geeignet sind z.B. eine aufgabenorientierte Gruppenarbeit, eine nicht bevormundende Realitätsorientierungsgruppe oder eine Erinnerungsgruppe. Validationsgruppen sind dementsprechend vor allem für Personen im zweiten und dritten Stadium gedacht. Diese haben meist „wenig Energie und Konzentrationsvermögen für Gespräche unter vier Augen“ . 

 Für jedes Gruppenmitglied gilt es zu überlegen, welches Ziel konkret erreicht werden soll, welche Themen die betreffende Person interessieren dürften, welche Chance sie für eine Beziehung mit anderen hat und welche soziale Rolle zu ihr passen könnte. Dem sozialen Hintergrund entsprechende Rollen sollen den Validationsgruppen Struktur geben und alle Mitglieder miteinbeziehen. Sie sollen ihnen das Gefühl geben, gebraucht zu werden, nützlich zu sein und alte Verhaltensmuster und das Selbstwertgefühl stimulieren. Eine solche Rolle kann beispielsweise die des ‘emotionalen Leiters’ oder auch des ‘Vorsängers’ sein. 

 Die zentralen Aktivitäten in einer Validationsgruppe sind Diskussion, Musik, Bewegung und das Einnehmen von Mahlzeiten. So wird für jedes Gruppentreffen ein Diskussionsthema vom Validations-Anwender ausgewählt. Dies sollten insbesondere Themen sein, die sich auf Gefühle beziehen sowie auf „den Kampf um die eigene Meinung und um die eigene Identität“ . Musik soll die Interaktion stimulieren, den Kreislauf anregen, die Angst vermindern und Wohlbefinden steigern. Bewegungen (z.B. Tanzen) sollen zudem ein Gemeinschaftsgefühl aufbauen. Aktivitäten mit den Händen (z.B. das Kneten eines Teigs) helfen Gefühle auszudrücken und das Selbstwertgefühl zu fördern. Das Einnehmen kleiner Mahlzeiten oder Getränke bedeuten Fürsorge und  sollen erwachsenes und soziales Verhalten auslösen. 

 Obwohl jedes Treffen anders ist (durch das jeweilige Diskussionsthema, eventuell dazu passende Lieder etc.), ist es nach Feil dennoch wichtig, bei der Durchführung der Aktivitäten eine gleichbleibende Reihenfolge beizubehalten, um den Teilnehmern Geborgenheit und Sicherheit zu geben. Hierzu werden bestimmte Rituale wie Begrüßungsrituale oder Abschlußlieder entwickelt. 

2. 2. 7 Voraussetzungen von Validation

 Validations-Anwender kann nach Feil die Person werden, die in der Lage ist, die zentralen Postulate bezüglich der Grundhaltung in der Validation zu erfüllen. Dazu bedarf es nach Feil das Erreichen von Identität und Erwachsenen-Intimität. Der Anwender von Validation hat „sich von der elterlichen Autorität abgenabelt (...) und [kann] sich ohne die Furcht, abgelehnt zu werden, ausdrücken (...)“ . Um sich in das Erleben des ‘verwirrten’, alten Menschen einfühlen zu können, ist es wichtig, daß der Validations-Anwender selbst bereits verschiedene, starke Gefühle erlebt hat. „Wenn Sie Angst, Wut, Eifersucht, Schuld, Kummer und Liebe erfahren haben, können sie an den Gefühlen der desorientierten Menschen teilhaben“ . Der Validations-Anwender ist ein „Super-Erwachsener“  und „Über-mensch“ . Es kann nach Feil nicht von jeder Person erwartet werden, validierend zu arbeiten. Es gibt Menschen, die nicht in der Lage sind, die frei ausgedrückten Gefühle der ‘verwirrten’, alten Menschen zu teilen, und für die dies ein Zuviel an Intensität oder Intimität sein kann. Diese Menschen sollten nicht mit Validation arbeiten. „Menschen, die nur auf verbaler intellektueller Ebene kommunizieren können, werden nicht imstande sein, Validations-Techniken einfühlsam anzuwenden. Sie werden sich dabei sehr unbequem fühlen (...)“ . 

 Feil hebt hervor, daß der Erfolg von Validation - insbesondere der der Validation in Gruppen - maßgeblich von der Unterstützung des Teams und seiner Akzeptanz abhängt. „Individuelle Validation können sie allein praktizieren, nicht aber die Arbeit mit einer Gruppe“ . Mitarbeiter können dem Validations-Anwender helfen, indem sie als Co-Therapeut den Validations-Anwender bei der Gruppenarbeit assistieren und auch emotional unterstützen, indem sie Gruppenteilnehmer in die Gruppenstunde bringen und sie wieder abholen, für entsprechende Rahmenbedingungen sorgen (Erfrischungen, Ausrüstung, Ruhe), aber auch indem sie die Fortschritte der Teilnehmer (mit)beurteilen, und neue Mitglieder und Themen vorschlagen. Alle Abteilungen einer Institution sollen in die Validation miteinbezogen und über diesen Arbeitsansatz aufgeklärt werden. Diejenigen, die vermehrtes Interesse an der Validation haben, können zusammen ein Validationsteam bilden. In diesem Team, das möglichst aus Personen verschiedenster Abteilungen bestehen soll, wird Validation näher erläutert und dann auch durchgeführt. In regelmäßigen Besprechungen werden Fortschritte ausgewertet, Erfahrungen ausgetauscht, Frustrationen ausgedrückt und Einsichten in das eigene Verhalten gewonnen. 

 Auch Angehörige sollen an der Validation beteiligt werden. „Manchmal werden Familienmitglieder protestieren, wenn sie ihren Angehörigen mit einer Puppe im Arm sehen“ . In regelmäßigen „Familien-Workshops“  sollen sie deshalb mit den Prinzipien und Zielen der Validation vertraut gemacht werden, und Fortschritte ihrer desorientierten Verwandten sollen ihnen verdeutlicht werden. Bei Bedarf können ihnen spezifische Techniken zur effizienteren Kommunikation und Verbesserung des Kontakts mit ihren Verwandten gezeigt werden. „Das wird sie zu häufigeren Besuchen motivieren“ . 

2. 2. 8 Kritische Betrachtung

 Ein grundsätzliches Problem bei der Betrachtung der Validation stellt die Frage dar, inwiefern dieser Ansatz in der Begleitung von Menschen mit dementieller Erkrankung Anwendung finden soll. Feils Begrifflichkeiten bringen diesbezüglich einige Verwirrung mit sich.  „This has arisen in part from the idiosyncratic and changing terminology adopted by Feil“ . So bevorzugt Feil den Begriff der ‘Desorientierung’. Es ist jedoch m.E. davon auszugehen, daß sie mit der Zielgruppe der ‘desorientierten, sehr alten Menschen’ Menschen mit dementieller Erkrankung meint. Abhängig vom Alter, vom Verhalten Betroffener und ihren Reaktionen auf Validation unterscheidet Feil eine sogenannte präsenile Demenz (d.h. die Alzheimersche Erkrankung, die zwischen dem 45. und 75. Lebensjahr einsetzt) und eine senile Demenz und erklärt: „Senile Demente dagegen sind jene, die ich als desorientierte, sehr alte Menschen bezeichne“ . Es ist allerdings - bezogen auf die gängige Klassifikation dementieller Erkrankungen (vgl. Kap. II.3.4) - unklar, an wen sich Validation richten soll bzw. warum Feil den Begriff ‘Demenz’ überhaupt einmal benutzt. Sie berücksichtigt Diagnosen in ihren Ausführungen sonst nicht (Gutzmann macht ihr diese „Diagnoseblindheit“ zum Vorwurf ), sondern verbleibt in ihrer Terminologie. 

 Das Konzept der Validation beinhaltet bereits selbst den - aus der Perspektive sozialer Altenarbeit formulierten - Anspruch, der Individualität des einzelnen gerecht werden zu wollen und sich an der subjektiven Perspektive und den jeweiligen Bedürfnissen des ‘desorientierten’, alten Menschen zu orientieren. 
 Aufgrund der angestrebten Achtung der Individualität lehnt Feil auch den Gebrauch der allgemeinen Diagnose ‘Demenz’ ab: „Gerade im Alter unterscheiden sich die Menschen stärker voneinander als in jedem anderen Lebensabschnitt. Desorientierte, sehr alte Menschen unter die Kategorie ‘Demenz’ einzuordnen oder mit dem allgemein bekannten Etikett ‘Demenz vom Alzheimer Typ’ zu versehen, führt oft zu ungeeigneten Behandlungsmethoden“ . Im Rahmen von Validation soll die Individualität des einzelnen geachtet und respektiert werden, d.h. die mit den unbewältigten Konflikten verbundenen Gefühle des einzelnen sollen angenommen und bestätigt werden. Validation will so den ‘desorientierten’, alten Menschen bei seiner ‘letzten Lebensaufgabe’ individuell unterstützen und begleiten. Validation orientiert sich - so Feil - dabei an der subjektiven Perspektive der alten Menschen, d.h. an ihrer Wahrnehmung und Wirklichkeitssicht und an ihren Zielen. „Validation unterstützt den sehr alten Menschen, seine Ziele - nicht unsere - zu erreichen“ . 
 Zu fragen ist allerdings, inwiefern Feil ihrem Anspruch wirklich gerecht zu werden vermag. So lehnt sie die Diagnose ‘Demenz’ ab, legt ihrerseits aber m.E. mit ihrem Versuch der Erklärung und Beschreibung von ‘Desorientierung’ eine einseitige und vereinheitlichende Sichtweise vor. ‘Desorientierung’ hat nach Feils Interpretation ihre Grundlage in der Regression des alten Menschen, der keine Integrität erreicht hat, und seinem Rückzug aus der gegenwärtigen Realität in die Innenwelt, die vor allem von Vergangenem bestimmt wird. Dieser Rückzug dient nach Feil der Befriedigung von Grundbedürfnissen und der Verarbeitung von ‘Unerledigtem’. Dies wird von Feil in Anlehnung an Erikson in den Status einer Entwicklungsaufgabe erhoben. Wird sie mit diesem Deutungsansatz der Individualität des einzelnen alten Menschen gerecht? Vor dem Hintergrund des im Rahmen dieser Arbeit entwickelten Perspektive dementieller Erkrankungen muß dies verneint werden. Dementielle Erkrankungen werden interindividuell sehr unterschiedlich erfahren und ausgestaltet. Das, was Feil als Regression beschreibt, aber auch als eher depressiver Rückzug aufgefaßt werden könnte, ist dabei eine mögliche Erlebens- und Verhaltensweise/-reaktion, die gezeigt werden kann. Feil übersieht insofern in ihrer Konzeptionalisierung von ‘Desorientierung’ die mehr oder minder großen Differenzen zwischen verschiedenen Individuen. Ihre Diagnose kann so als der Individualität des einzelnen unangemessen verstanden werden. „Es gibt nicht die eine Demenz, wie Feil es suggeriert“ . 
 Des weiteren verliert sie mit ihrer Interpretation von ‘Desorientierung’ m.E. ihren Anspruch, sich an der subjektiven Perspektive der Betroffenen und ihren Bedürfnissen zu orientieren, aus dem Auge. Gefühle und damit zusammenhängende Bedürfnisse des einzelnen werden nicht einfach nur angenommen und akzeptiert, sondern vor dem Hintergrund ihrer theoretischen Vorannahmen bezüglich (vermeintlicher) Aufgaben, Ziele und Bedürfnisse alter Menschen interpretiert. Problematisch ist daran vor allem, daß ihr Verständnis von ‘Desorientierung’ die beschriebene Eindimensionalität aufweist und keinen Raum zu lassen scheint für verschiedene Ansätze des Verstehens. So kann die generelle Annahme, daß Erleben und Verhalten der ‘desorientierten’, alten Menschen sich vor allem auf unbewältigte Konflikte und damit verbundene Gefühle zurückführen läßt, hinterfragt werden. Ebenso kann davon ausgegangen werden, daß auch aktuelle Probleme und Konflikte die bedeutendste Rolle spielen können (wie beispielsweise im Ansatz der ‘Resolution Therapy’ postuliert wird).  „Indeed each behaviour may have a reason, but it may not be necessary to go back 50 years to find it (...)“ 
 Der Anspruch eines die Individualität des einzelnen achtenden Vorgehens wird von Feil auch insofern konterkariert, als sie ausgehend von ihrem eindimensionalen Verständnis von ‘Desorientierung’ die alten Menschen kategorisierend in verschiedene Stadien einteilt. Dem ‘desorientierten’, alten Menschen wird hierauf aufbauend mit je stadienspezifischen Validationstechniken begegnet. Bei dieser Kategorisierung geht sie zudem beurteilend und interpretierend vor: Anhand von Verhalten, Äußerungen, Erscheinung und körperlichen Charakteristika wird der alte Mensch eingeschätzt und in ein entsprechendes Stadium der ‘Desorientierung’ eingestuft. Diese Kategorisierung hebt so „ (...) einerseits den Anspruch des individuellen Umgangs mit alten Menschen auf, andererseits sind die Kategorien selbst zweifelhaft, undurchschaubar, willkürlich und enthalten zudem immer auch eine Beurteilung des Dementen, der sich Validation - so Feil - stets zu enthalten habe“ . Der einzelne mit seinen jeweiligen Bedürfnissen und subjektiven Perspektiven gerät damit als Maßstab in den Hintergrund. 
 Problematisch in diesem Sinne sind auch die von Feil als universell bezeichneten Symbole, die sie in ihrer Arbeit „mit mangelhaft und desorientierten Menschen auf der ganzen Welt“  entdeckt haben will. Feil interpretiert die Verwendung der einzelnen Symbole im Hinblick auf damit ihrer Meinung bzw. Erfahrung nach ausgedrückte Gefühle des ‘desorientierten’, alten Menschen. Beispielsweise soll Nahrung für ‘Liebe’ und ‘Mutter’ stehen, ein Schuh soll das weibliche oder männliche Geschlecht symbolisieren und dem In-der-Nase-Bohren wird die Bedeutung des sexuellen Vergnügens zugeschrieben. So führt Feil beispielsweise aus: „Eine Serviette wird zur Erde; eine alte Frau in Stadium II faltet, streichelt, summt und küßt vorsichtig und pedantisch jede Falte. Sie schafft sich selbst einen Platz. (...) Mit Hilfe ihrer Serviette kann sie ihr Bedürfnis nach Wärme, nach Sicherheit, danach, geliebt und umhüllt zu werden, ausdrücken“ . Oder: „Eine Person mit emotionalem Hunger ißt Kreide, um ihr Bedürfnis nach Liebe zu stillen“ . Die Annahme solcher allgemeinen, generellen und vor allem überinterpretativ erscheinenden Symbole versperrt ihr m.E. einen offenen und individuellen Zugang zum alten Menschen. 
 Validation, die bereits an sich selbst den Anspruch eines individuellen, an den jeweiligen Bedürfnissen und Perspektiven orientierten Umgangs mit ‘desorientierten’, alten Menschen hat, wird diesem jedoch bei näherer Betrachtung nicht gerecht. In diesem Sinne positiv zu bewerten ist die Grundhaltung der Validation, nach der dem alten Menschen mit Akzeptanz, Respekt, Empathie und Ehrlichkeit gegenübergetreten und seine Individualität, seine Wahrnehmung und seine Gefühle geachtet und angenommen werden sollen. Dieser an sich positiven Grundhaltung stehen allerdings ein einseitiges Verständnis von ‘Desorientierung’, Kategorisierungen und Interpretationen gegenüber, die diesem Anspruch widersprechen. 

 Mit der Bevorzugung des Begriffs der ‘Desorientierung’ verbindet Feil eine umfassende, ganzheitliche Sichtweise des alten Menschen. ‘Desorientierung’ ergibt sich nach ihrem Verständnis aus einer Kombination von körperlichen, psychischen und sozialen Faktoren. Eine Hirnschädigung allein erachtet sie als unzureichend, um das Verhalten des Betroffenen zu erklären. Sie verweist dabei auf Erkenntnisse, denen zufolge Menschen trotz ernster Schädigungen des Gehirns orientiert bleiben, andere wiederum trotz lediglich geringgradiger zerebraler Beeinträchtigungen „große Orientierungsprobleme“  haben. 
 In positiv zu bewertender Weise bezieht Feil neben körperlichen Aspekten (wie Hirnschädigungen, aber auch sensorischen Beeinträchtigungen etc.) Persönlichkeit und Biographie des einzelnen (d.h. seine Art mit Aufgaben, Krisen und Belastungen umzugehen) und auch Umweltgegebenheiten in ihre Betrachtung von ‘Desorientierung’ mit ein und geht damit in wünschenswerter Weise über eine rein biomedizinische Sichtweise hinaus. 
 Durch die Berücksichtigung auch sich ungünstig auswirkender Umweltbedingungen wohnt Validation diesbezüglich potentiell ein kritischer Ansatz inne. Soziale Verluste wie beispielsweise Rollenverluste, die Aufgabe der eigenen Wohnung oder die Abnahme sozialer Anregung werden im Rahmen der Validation als den Rückzug begünstigende Faktoren verstanden. ‘Desorientierung’ ist so mehr oder minder mitbestimmt durch Aspekte in der Umwelt. Allerdings legt Feil den Schwerpunkt ihrer Betrachtung auf die biographische Perspektive, d.h. als hauptsächliche Ursache für ‘Desorientierung’ im Alter gelten unbewältigte Lebensaufgaben und Konflikte, die es dem Betroffenen nicht möglich machen, - wie sie formuliert - mit den ‘Schlägen des Alters’ fertig zu werden. So nimmt Feil den kritischen Ansatz bezüglich mitverursachender Umweltfaktoren nicht bzw. nur ungenügend in ihr Konzept der validierenden Begleitung auf. Ihr therapeutischer Ansatz bleibt individuums-, biographie- und gefühlsbezogen und blendet Milieufaktoren weitgehend aus. Damit steht Validation in der Gefahr, zu individuumszentriert und zu psychologisierend vorzugehen. Lediglich in den Validationsgruppen wird dieser Ansatz erweitert. In den Gruppenstunden mit Aktivitäten wie Musik, Diskussionen, Bewegung und Mahlzeiten wird die Stimulanz von sozialen Rollen, von Interaktion und Kommunikation und sozialem Verhalten angestrebt. Die Betroffenen sollen hier das Gefühl haben, gebraucht zu werden, alte Verhaltensmuster sollen stimuliert werden, Wohlbehagen soll ausgelöst und ein Gemeinschaftsgefühl geschaffen werden. Neben der Problematik einer etwas ‘künstlich’ anmutenden Atmosphäre dieser Gruppen - zu denken ist hier z.B. an die von Feil vorgesehenen Rollen des ‘Vorsängers’, der ‘Begrüßungsperson’ oder des ‘emotionalen Leiters’ - die einer Normalisierung entgegensteht, bleibt dieser Ansatz in zweifelhafter Weise auf zeitlich begrenzte Gruppenstunden beschränkt. Auch institutionelle Rahmenbedingungen wären vor diesem Hintergrund kritisch zu beleuchten, z.B. inwiefern sie möglicherweise durch eine deaktivierende, komplette Versorgung der Bewohner ‘Desorientierung’ verstärken oder mitverursachen. Obwohl Validation aus der langjährigen Arbeit Feils in einem Altenheim entwickelt worden ist - wie sie immer wieder betont -, führt sie ihre Überlegungen hier nur ungenügend aus. 
 Eine andere Schwierigkeit besteht m.E. in der Kehrseite ihres umfassenden Verständnisses von ‘Desorientierung’: in ihrer Darstellung der von ihr als präsenil bezeichneten Demenz, die sie in Abhängigkeit vom Alter und Verhalten der Betroffenen von der senilen Demenz (also der ‘Desorientierung’) unterschieden haben will, und die „typologisch dem Alzheimerschen Modell“  entspricht. Zunächst vermag die von Feil vorgenommene Trennung so nicht zu überzeugen. Sie stellt als Begründung einfach in den Raum: „Ihr Verhalten [das der ‘senilen Dementen’, d.h. der ‘Desorientierten’, U.E.], ihre Sprache, ihr Gang und der Ausdruck ihrer menschlichen Bedürfnisse sind anders“ . Abgesehen davon, kann ihre Sichtweise der präsenilen Demenz problematisiert werden. So äußert sie sich bezüglich einer therapeutischen Einflußnahme auf Menschen mit präseniler Demenz resignativ und nihilistisch. Sie geht von einer progressiven Verschlechterung des Zustandes „bis ins Stadium des Vegetierens“  auch bei Anwendung von Validation aus. Auch zeigen sich ihrer Ansicht nach kaum Reaktionen auf Validation. Dabei ist es doch Feil, die erklärt: „Gebrauche Augen und Ohren, schreibe niemanden ab ausschließlich wegen einer medizinischen Diagnose“ . Während sie sich zudem darum bemüht, ‘Desorientierung’ verstehbar und nachvollziehbar zu machen (wenn auch auf ihre eindimensionale Art und Weise), scheint sie im Menschen mit präseniler Demenz lediglich ein unberechenbares, unkalkulierbares Wesen zu sehen, wenn sie schreibt: „Für einen Augenblick kann Validation etwas soziale Interaktion ermöglichen, im nächsten Moment kann der Patient aber wieder gewalttätig werden, abirren oder sich grundlos zurückziehen“ . 

 Unterschiede in der Betrachtungsweise der beiden Demenzformen zeigen sich auch daran, daß Feil die präsenile Demenz vor allem einseitig als einen Prozeß zunehmender Verluste und Beeinträchtigungen aufzufassen scheint. Demgegenüber läßt sich ihren Ausführungen bezüglich der ‘Desorientierung’ eine ganzheitlichere bzw. differenziertere Sichtweise entnehmen, in dem Sinne, daß neben vorhandenen Beeinträchtigungen oder Schwächen auch Kompetenzen und Ressourcen der Betroffenen wahrgenommen werden. Der ‘desorientierte’, alte Mensch zeichnet sich nach Feil zum einen dadurch aus, 
· daß er beim Resümee des eigenen Lebens keine Integrität erreicht, 
· daß Konflikte und Krisen unbewältigt geblieben sind, 
· daß er an überlebten Rollen festhält und diesbezüglich keine Flexibilität aufweist, 
· und daß er nicht in der Lage ist, mit auftretenden körperlichen und sozialen Verlusterfahrungen umzugehen. 
 Dieser einerseits defizitgeprägten Auffassung vom ‘desorientierten’, alten Menschen stellt Feil zum anderen aber auch vorhandene Ressourcen gegenüber. Konstitutiv für ihr Verständnis vom von ‘Desorientierung’ Betroffenen ist die Annahme, daß diese unbewußt die ‘Weisheit’ und ‘Intuition’ besitzen, sich aus der gegenwärtigen Realität zurückzuziehen, um so Unbewältigtes zu verarbeiten, der unbefriedigenden und schmerzlichen Gegenwart zu entgehen und die eigenen Bedürfnisse selbst zu stillen. Das heißt, dem ‘verwirrten’, alten Menschen wird zugestanden, selbst am besten zu wissen, was für ihn gut ist, und es wird darauf vertraut, daß er über die nötigen psychischen Ressourcen verfügt. Validation stellt lediglich eine unterstützende und begleitende Maßnahme dar. 
 Neben diesen psychischen Ressourcen geht Feil auch von weiteren, noch vorhandenen Kompetenzen ‘desorientierter’, alter Menschen aus. Im Rahmen von Validationsgruppen spielen Aktivitäten wie das Singen von bekannten Liedern, das Spielen von Instrumenten, Tanzen, Bewegungsspiele, das Einnehmen von Mahlzeiten, Arbeiten mit den Händen wie Malen oder das Kneten eines Teiges, aber auch Diskussionen über gefühlsbezogene Themen eine Rolle. Damit geht sie implizit davon aus, daß ‘desorientierten’, alten Menschen entsprechende Kompetenzen zur Verfügung stehen, an die im Rahmen der Aktivitäten angeknüpft werden kann. Bei der Auswahl der konkreten Aktivitäten bezieht Feil dabei den je individuellen, aber ebenso den gemeinsamen biographischen Hintergrund der Gruppenteilnehmer mit ein (z.B. bei der Auswahl der Diskussionsthemen oder auch der Musik). Zielvorstellungen, die sie mit den Tätigkeiten verbindet, sind vor allem eine positive Wirkung auf die Kommunikation und Interaktion zwischen den alten Menschen und auf ihr Wohlbefinden und Selbstwertgefühl, d.h. auf die subjektiv erlebte Lebensqualität und das Kompetenzerleben der Teilnehmer. Vor allem strebt sie so eine Aktivierung und Stimulierung auf emotionaler (wie auch bei der individuellen Validation), aber auch sozialer Ebene an. Auf eine kognitive Stimulierung zielt Feil mit ihrem Ansatz nicht. Vor diesem Hintergrund sind die heftigen Vorwürfe von Clees und Eierdanz zu verstehen. Sie halten der Validation vor: „Ihr [der Validation, U.E.] ist immanent, durch Unterforderung, die ebenso schädlich wie eine Überforderung sein kann, Apathie und Depressionen zu begünstigen und damit letztlich zu einem weiteren Abbau der Hirnfunktionen beizutragen. Älteren Menschen jegliche kognitive Lebensäußerungen per se abzusprechen und letztlich Entwicklungschancen nicht nachzuspüren und ungenutzt zu lassen bzw. zu ignorieren, ist eine Mißachtung der Würde und Individualität dementer Menschen. Validation beschneidet Lebensperspektiven und ist letztlich nichts anderes als eine verbrämte Form der Aufbewahrung dementer alter Menschen. Mehr noch: in der Begrifflichkeit Johan Galtungs wäre Validation eine Form von Gewalt: ‘Gewalt liegt dann vor, wenn Menschen so beeinflußt werden, daß ihre aktuelle somatische und geistige Verwirklichung geringer ist als ihre potentielle Verwirklichung’“ . Diesen Vorwürfen ist zu entgegnen, daß Feil zwar eine kognitive Stimulierung nicht als Zielvorstellung verfolgt (sondern dies höchstens als einen möglichen Nebeneffekt von Validation betrachtet), m.E. jedoch davon ausgegangen werden kann, daß die empfohlenen Tätigkeiten im Rahmen der Gruppenarbeit die Teilnehmer nicht nur emotional und sozial, sondern auch kognitiv stimulieren, und Validation damit den Menschen in seiner Ganzheit anspricht. 
 Problematisch ist allerdings, daß sie diesen durchaus positiven Ansatz der an die Kompetenzen der ‘desorientierten’, alten Menschen anknüpfenden Stimulierung und Aktivierung nur auf die validierende Gruppenarbeit beschränkt. Die Validationsgruppen stellen  - wie bereits weiter oben kritisch bemerkt - einen nur zeitlich begrenzten Rahmen dar. Eine Ausweitung auf das Milieu einer Institution wird von ihr nicht in die Betrachtung miteinbezogen (z.B. im Sinne einer Förderung alltagsnaher Kompetenzen mit dem Ziel einer möglichst großen Selbständigkeit). Im Falle eines sonst eher von einer Unterforderung und kompletten Versorgung geprägten Alltag in der Institution, kann Validation dann wirklich zu einer ‘Aufbewahrung’ dementiell erkrankter alten Menschen werden, die deren Lebensperspektiven beschneidet. 

 Die Selbst- und Mitbestimmung der Adressaten - ein wesentliches Grundprinzip sozialer Altenarbeit - berücksichtigt Feil in ihrem Ansatz der Validation m.E. insofern, als sie den ‘desorientierten’, alten Menschen den Rückzug in die Innenwelt zugesteht. Sie versteht diesen Rückzug als einen notwendigen Verarbeitungs- und Selbststimulierungsprozeß, der von diesen alten Menschen ‘intuitiv’ und in ihrer ‘Weisheit’, d.h. selbst gewählt wird. Eine Orientierung an der Realität lehnt sie aus diesem Grund ab. Diese wird - so Feil - auch von den alten Menschen selbst zurückgewiesen oder ignoriert. „Bei Validation ist das Realitätsbewußtsein häufig ein Nebeneffekt, keineswegs aber das Ziel“ . Auch im Rahmen von Validation soll ein Rückzug in das ‘Vegetieren’ vermieden werden. Allerdings versteht Feil Validation lediglich als eine Begleitung und eine Unterstützung des ‘desorientierten’, alten Menschen bei seiner ‘letzten Lebensaufgabe’, d.h. Validation will (und kann) den alten Menschen nicht von dem von ihm gewählten Weg abbringen. Inwiefern indes dieser Rückzug aus der gegenwärtigen Realität vor dem Hintergrund der entwicklungspsychologischen Grundannahmen Feils noch als selbstbestimmt oder doch eher als biographisch determiniert zu betrachten ist, mag dahingestellt bleiben. 
 Im Hinblick auf die zu wahrende Selbstbestimmung ist zu problematisieren, daß es mögliche negative, ablehnende Reaktionen ‘desorientierter’, alter Menschen auf Validation nicht zu geben scheint. So finden sich hinsichtlich der Freiwilligkeit der Teilnahme an Validationsgruppen und den damit zusammenhängenden Rollen und Aktivitäten keine Äußerungen. Auffällige Verhaltensweisen (wie Schreien oder Stampfen) von - wie Feil formuliert - „schwierigen Teilnehmern“  werden in problematischer Weise nicht als möglicherweise ablehnende Haltung der Gruppenstunde gegenüber, sondern vor dem Hintergrund der theoretischen Annahmen der Validation im Hinblick auf die Biographie (die unbewältigten Konflikte) des Betreffenden interpretiert. Auch im Rahmen individueller Validation werden Reaktionen der ‘desorientierten’, alten Menschen wie Wut, Zurückweichen, Weggehen, Ignorieren usw. lediglich als Reaktion auf falsch angewendete Validationstechniken, nicht aber als mögliche grundlegende Ablehnung gegenüber der Validationstherapie aufgefaßt. 
 Darüber hinaus bieten Validationsgruppen kaum Möglichkeiten der Mitbestimmung der ‘desorientierten’, alten Menschen, z.B. was die Auswahl der Diskussionsthemen oder der Musik anbelangt. „Anders als eine Gruppe für orientierte Menschen ist eine Validations-Gruppe klar strukturiert. Der V/A [Validations-Anwender, U.E.] führt die Gruppe vom Beginn zur Mitte ans Ende“ . Die stark vorstrukturierte Gruppenstunde soll so ein Gefühl der Sicherheit geben. Zur Selbst- und Mitbestimmung der alten Menschen in der Institution des Altenheims allgemein finden sich bei Feil aufgrund ihres Ausblendens von Milieu-faktoren keine Aussagen. 

 Eine Betrachtung der Literatur zeigt, daß nur eine sehr geringe Anzahl von evaluativen Untersuchungen zur Validation vorliegt.  Holden und Woods konstatieren: „Although there are a number of anecdotal reports attesting to the effectiveness of validation therapy (...), there are very few published studies documenting its effects“ . 
Feil selbst beruft sich auf bemerkenswerte Erfolge ihres Ansatzes. „Desorientierte, sehr alte Menschen reagieren auf Validation. Die Veränderungen im Verhalten erfolgen langsam und fluktuieren von Tag zu Tag, es findet aber eine anhaltende Veränderung statt“ . Als positive Veränderungen infolge von Validation zählt sie auf: 
· sichtbare Resultate wie eine aufrechtere Sitzhaltung, geöffnete Augen, eine verstärkte soziale Kontrolle, weniger Schreien, Unruhe und Schlagen, sinkende Aggressionen, eine mögliche Reduktion von chemischen und physikalischen Zwangsmaßnahmen, ein gesteigertes verbales und nonverbales Ausdrucksvermögen und eine Verbesserung des Gehvermögens; 
· daneben verweist Feil auf nicht-sichtbare Resultate wie die Lösung unbewältigter Lebensaufgaben, eine Verminderung von Angst, ein gesteigertes Selbstwertgefühl, die Akzeptanz vertrauter Rollen in Validationsgruppen, eine zunehmende Wahrnehmung der Realität und das Zurückkehren des Sinns für Humor. 
 Damit scheint Validation genau das zu bewirken, was auch angestrebt wird. Feil stützt sich dabei vor allem auf ihre eigenen Erfahrungen aus der praktischen Arbeit und auf eine von ihr durchgeführte Studie aus dem Jahr 1971. An überzeugender empirischer Fundierung dieser Ergebnisse fehlt es aber weitgehend. Feil selbst nennt verschiedene Untersuchungen aus den USA und Frankreich, ohne diese jedoch genauer bezüglich ihres Vorgehens zu beschreiben, so daß deren Resultate m.E. mit Vorsicht zu betrachten sind. Als Ergebnisse dieser Studien werden zunächst als positiv bewertete Verhaltensänderungen auf seiten der ‘desorientierten’, alten Menschen beschrieben wie ein weniger aggressives Verhalten, Verbesserungen der Sprache, ein seltenerer Rückzug nach innen, gesteigerte positive Interaktionen, eine größere Lösungsrate ihrer Konflikte, Reduzierung von Streß und Mißtrauen und ein vermehrtes Vertrauen zum Personal. Auch bezüglich der Mitarbeiter der Alten- und Pflegeheime werden positive Veränderungen geschildert: ein größeres Vertrauen zu den alten Menschen, keine Frustrationserlebnisse wie bei anderen therapeutischen Verfahren und ein stärkeres Bewußtsein hinsichtlich der emotionalen Bedürfnisse der alten Menschen. 
 Andernorts beschriebene Untersuchungen zeigen weitere, z.T. differierende Ergebnisse . Allerdings ist hier einschränkend zu bemerken, daß sich die mir bekannten Studien vor allem auf Validation in Gruppen beziehen. Im folgenden soll zwei Untersuchungen erläutert werden. 
 Die Studie von Robb et al.  aus dem Jahr 1986 untersuchte sechsunddreißig mittel bis schwer desorientierte, über 60jährige Männer; ausgeschlossen wurden Menschen mit primär-degenerativen Demenzen. Die Teilnehmer wurden per Zufall der Experimental- und der Kontrollgruppe zugeordnet. Letztere erhielt keine Therapie, sondern lediglich Aufmerksamkeit. Über neun Monate fanden zweimal wöchentlich Sitzungen statt. Während der gesamten Studie kam es zu fünfzehn ‘dropouts’. Es zeigten sich im Vergleich zum vorherigen Status der Personen und im Vergleich zur Kontrollgruppe keine signifikanten Effekte von Validation auf kognitive Parameter, auf die Affekte oder das Sozialverhalten. 
 In die Studie von Morton und Bleathman  aus dem Jahr 1991 wurden lediglich fünf dementiell erkrankte alte Menschen einbezogen; drei der Teilnehmer nahmen bis zum Ende der Untersuchung teil.  Zehn Wochen vor Beginn der Therapie in Validationsgruppen wurden Verhalten, Stimmung und Interaktionen dieser Personen beobachtet und aufgezeichnet. Diese Messungen wurden während der zwanzigwöchigen Therapie und noch zehn Wochen nach Beendigung der Validationsgruppen (während  der Anwendung von Reminiszenztherapie) wiederholt. Die Gruppensitzungen wurden einmal in der Woche für je eine Stunde abgehalten. Zwei Personen zeigten während der Therapie mit Validation gesteigerte verbale Interaktionen, die in der Phase der Reminiszenzarbeit wieder abnahmen. Bei der dritten Person zeigte sich das genau umgekehrte Muster. Nach Holden und Woods ist „the most remarkable finding of the study (...) the contrast between how little these residents interacted - during any phase - and the depth of interaction apparent during the group sessions (...)“ . Es ist indes nicht klar, ob dies das Resultat von Validation oder allein des Gruppenkontextes ist. 
 Abschließend bleibt festzuhalten, daß vor dem Hintergrund zu spärlicher empirischer Studien mit z.T. sehr geringer Teilnehmerzahl eine Bewertung nicht möglich erscheint 

2. 3 Milieutherapie

 Die Milieutherapie (als eine Unterform soziotherapeutischer Verfahren) zielt nach Radebold auf eine Verbesserung des gesamten therapeutischen Milieus insbesondere im (Langzeit-) institutionellen Bereich ab (so in Alten- und Pflegeheimen oder stationären und teilstationären gerontopsychiatrischen Einrichtungen) . Damit wird nicht am einzelnen alten Menschen angesetzt, sondern an seinem Umfeld. Die Milieutherapie richtet sich dabei sowohl auf die dingliche Umwelt als auch auf die soziale Umgebung im Sinne einer Veränderung bzw. Verbesserung der „sozialen und interpersonalen Atmosphäre“ . Nach Radebold „umfaßt [sie] die bauliche und räumliche Gestaltung der Umgebung des Kranken, die Strukturierung seines Tagesablaufes, sowie die gegebenenfalls erforderlichen Veränderungen der Einstellung und der Verhaltensweisen der professionellen und ehrenamtlichen Mitarbeiter einschließlich ihrer Kooperation“ . 

 Ausgehend von dieser allgemeinen Definition von Milieutherapie soll im folgenden versucht werden, Grundannahmen, Zielvorstellungen, Zielgruppe, Komponenten und Merkmale dieses Ansatzes in der Arbeit mit dementiell erkrankten alten Menschen zu skizzieren. Zugrundegelegt wurde Literatur, die sich explizit mit der Gestaltung eines therapeutischen Milieus in diesem umfassenden Verständnis beschäftigt. Unberücksichtigt bleiben Betreuungsansätze, die lediglich einzelne Elemente der Milieutherapie enthalten, und sich zudem nicht als primär milieutherapeutisch verstehen. Auch einzelne, eng umschriebene Interventionsmaßnahmen, die sich auf Veränderungen in der Umgebung richten, sollen in diesem beschränkten Rahmen nicht miteinbezogen werden. Diesbezüglich verweise ich zum einen auf die zusammenfassende Darstellung der aus dem Pflegebereich entstandenen Ansätze durch Müller, zum anderen auf Holden und Woods, die einen Überblick geben über verschiedene Interventionen in der räumlichen wie sozialen Umwelt . 

2. 3. 1  Theoretischer Bezugsrahmen

 Die Ausgangspunkte bzw. theoretischen Bezugsrahmen der milieutherapeutischen Überlegungen in der betrachteten Literatur sind - soweit sie überhaupt erwähnt werden - unterschiedlich. So wird zum einen von Wächtler et al. eine Orientierung an bzw. zumindest eine Anregung durch frühe Berichte über realitätsorientierende Programme sowie Erfahrungen aus einem tagesstrukturierenden Ansatz formuliert . Zum anderen wird bei Lind und Heeg (zumindest z.T.) Bezug genommen auf den Ansatz von Lawton . Für alle Autoren gilt, daß sie ihre theoretischen Hintergründe nicht weiter ausführen. Im folgenden sollen der Ansatz von Lawton und der tagesstrukturierende Ansatz von Göschel (‘Dortmunder Modell’) in ihren Grundlagen dargelegt werden, um ein besseres Verständnis zu ermöglichen. Das Realitätsorientierungstraining soll am Ende dieses Kapitels ausführlicher abgehandelt werden, da es selbst als eine spezifische Form der Milieutherapie verstanden werden kann und ihm zudem aufgrund seiner weiten Verbreitung eine große Bedeutung zukommt. 

 Der Betreuungsansatz nach Göschel ist aus der praktischen Arbeit in einem Altenpflegeheim hervorgegangen . Er stellt ein „aus der Not entstandenes Provisorium“  dar. Aus der Unzufriedenheit mit der problematischen Pflege- und Betreuungssituation in der Institution heraus - insbesondere bezüglich der verwirrten und psychisch veränderten Bewohner - entwickelte sich aus Teamabsprachen und Probeläufen nach und nach ein tages-strukturierender Ansatz. Alzheimerkranke, Korsakowkranke, schizophren und paranoid Erkrankte werden zusammen und gesondert von den anderen Bewohnern während des Tages betreut; einige Aktivitäten finden gemeinsam mit den ‘Nichtverwirrten’ statt.  Ziele, die mit diesem Ansatz verfolgt werden, sind ein an den Prinzipien der Normalisierung orientiertes Leben ohne Überforderung, eine Aktivierung der Betroffenen, die Förderung von Orientierung und eine möglichst große Selbständigkeit. Vorhandene Fähigkeiten sollen optimal genutzt werden. Welche Tätigkeiten für den einzelnen in Frage kommen, wird abhängig gemacht von früheren Lebensgewohnheiten. In der Regel sind dies hauswirtschaftliche Tätigkeiten entsprechend der vorherrschenden weiblichen Klientel. Die Strukturierung des Tages wird vor allem durch die Mahlzeiten bestimmt. Auf Fixierungen, Sedierungen und verschlossene Türen soll im Rahmen dieses Ansatzes verzichtet werden. 

 Lawton beschreibt das Zusammenwirken bzw. die Transaktion von persönlichen Ressourcen und Umweltmerkmalen für eine gelungene Anpassung an Umweltanforderungen. Die Kern-aussage des Umweltanforderungs-Kompetenz-Modells ist, daß durch altersbedingte Verände-rungen die Umweltkompetenz alter Menschen abnehmen kann, was zur Folge hat, daß der auf Umwelteinflüsse zurückführbare Teil des Verhaltens und Erlebens zunimmt . Unter Umweltkompetenz werden die Fähigkeiten und Fertigkeiten des Individuums zur Bewältigung von Umweltanforderungen verstanden. Umweltkompetenz beinhaltet dementsprechend eine breite Spanne von biologischen, wahrnehmungsbezogenen, kognitiven, motorischen und sozialen Kapazitäten und  Ressourcen . „Dieser je intraindividuellen Bedingungskonstellation stehen die ‘Außenbedingungen’ physische Umgebung und sozialer Kontext gegenüber“ . Dieser je bestimmten Umwelt wohnt eine Anforderungsstruktur inne. Der auf das Individuum ausgeübte Aufforderungsdruck ist im Idealfall auf die Umweltkompetenz der jeweiligen Person abgestimmt. Abbildung 6 verdeutlicht diese Grundzüge des Ansatzes (hierbei ist zu berücksichtigen, daß Lawton sehr wohl die Prozeßhaftigkeit und Dynamik dieser Vorgänge betont, die sich einer zwangsläufig statischen Darstellung im Grunde entziehen ). 
 Die in der Abbildung ersichtliche Diagonale zeigt ein Gleichgewicht zwischen Umweltkompetenz und Umweltanforderungen. „Erst auf dieser Diagonale wird Umwelt als Störgröße nicht mehr wahrgenommen. Erst dort können die tatsächlichen Aufgaben unter individuell optimalen Bedingungen in Angriff genommen werden“ . Zur  Ordinate hin, auf der die persönliche Kompetenz des Menschen abgetragen ist, schließt  sich  eine  Zone maximalen  Komforts  an,  zur Abszisse hin, auf der der Anforderungsdruck der Umwelt abgetragen  ist,  die  des  maximalen  Leistungspotentials. Jenseits der optimalen Homöostase kann demnach ein etwas stärkerer Anforderungscharakter die Leistung des  Menschen optimieren bzw. können etwas schwächere Umweltanforderungen Entspannung und Komfort bedeuten. Mit der optimalen Anpassung weitgehend identisch liegt hier auch nach Lawton der Bereich positiver Affekte im Sinne von Lebenszufriedenheit . Jenseits dieses Bereiches der Anpassung - also bei Über- oder Unterschreitung der Kompetenzen durch die Umweltanforderungen - liegen Unter- und Überforderung des Individuums: Deprivation oder Distreß einhergehend mit negativen Affekten. 


Abb. 6: Graphische Darstellung des Umweltanforderungs-Kompetenz-Modell nach Lawton

 Die Abbildung zeigt deutlich, daß es sich bei der Passung zwischen individuellen Ressourcen und Umweltanforderungen um kein lineares Verhältnis handelt: je geringer die Kompetenz, desto kleiner ist der Adaptationsspielraum. Gemäß der ‘environmental-docility-Hypothese’ (der Umweltgefügigkeits-Hypothese) von Lawton kommt der Umwelt eine um so größere Bedeutung für das Erleben und Verhalten zu, je geringer das Kompetenzniveau der Person, d.h. „für Menschen mit eingeschränktem Kompetenz-Niveau (...) [ist] die Umgebung in besonderem Umfang als kritische Größe aufzufassen“ . Interventionen, die sich aus diesen Grundannahmen ableiten lassen, können sich sowohl auf die Stärkung individueller Ressourcen als auch auf eine Veränderung der Umweltanforderungen beziehen. Im Rahmen milieutherapeutischer Ansätze ist letzteres der Fall. 

 Es wird davon ausgegangen, daß die von Lawton postulierte abnehmende Kompetenz alter Menschen insbesondere auf Personen mit einer dementiellen Erkrankung mit entsprechend damit verbundenen (fortschreitenden) kognitiven Beeinträchtigungen zutrifft . Die mit der Demenz verbundenen Beeinträchtigungen - so Lind und Heeg -  „führen bei dem Dementen zu einer starken Einschränkung seiner Umweltkompetenz. (...). Demente alte Menschen können sich am wenigsten über negative Umweltbedingungen hinwegsetzen“ . Vor diesem Hintergrund der verringerten Umweltkompetenz und damit vermehrten Vulnerabilität gewinnt die Gestaltung der dinglichen wie sozialen  Umwelt des dementiell erkrankten Menschen an Bedeutung. 

2. 3. 2 Die Zielgruppe der Milieutherapie

 Als explizite Zielgruppe von Milieutherapie werden in der betrachteten Literatur Menschen mit dementieller Erkrankung dargestellt. Der Terminus ‘Demenz’ wird dabei allerdings in der Regel nicht genauer spezifiziert. Eine Ausnahme bilden Cleary et al., die sich auf die Demenz vom Alzheimer-Typ und verwandte Demenzformen, d.h. die primären Demenzen, beziehen. Es kann m.E. davon ausgegangen werden, daß sich die Milieutherapie an alle Menschen richtet, die an einer Demenz erkrankt sind, die einer medizinischen Therapie nicht zugänglich ist (vgl. Kap. IV.1). 

2. 3. 3  Zielvorstellungen

 Im Rahmen von Milieutherapie wird darauf abgezielt, die Behinderung im Zuge einer dementiellen Erkrankung durch eine Anpassung des Lebensraumes an die Bedürfnisse der Betroffenen auszugleichen. Es wird die Schaffung einer „ergänzende[n] Lebenswelt“  angestrebt, einer Umwelt, die die Beeinträchtigungen der dementiell erkrankten alten Menschen - ihre verringerte Umweltkompetenz -  zu kompensieren versucht. So formulieren Wächtler et al.: „Das Milieu für schwer Demenzkranke muß die wahrscheinlichen Störungen des Erlebens und des Verhaltens sowie die gestörte Wahrnehmungs- und Anpassungsfähigkeit der Betroffenen berücksichtigen und sie zu [sic!] kompensieren helfen“ . Verlorengegangene Binnenstrukturen sollen durch entsprechende Außenstrukturen ausgeglichen werden . 

 Der Umgebung kommt dabei vor allem eine ‘prothetische‘ Funktion zu, d.h. sie soll die Betroffenen mit ihren durch die dementielle Erkrankung eingeschränkten Bewältigungs- und Verarbeitungskapazitäten vor einer Überforderung durch Umweltgegebenheiten schützen. Dies gilt es durch den Abbau potentieller Belastungs-, also Überforderungsquellen zu erreichen . Eine nach diesem Prinzip gestaltete Umgebung dient der Schaffung und Bereitstellung von Sicherheit. Damit ist zum einen die Ermöglichung eines Gefühls der Sicherheit und Geborgenheit gemeint, d.h. die Schaffung einer dementsprechenden Atmosphäre. Emotionale und Verhaltensstörungen, die als Dekompensation im Zuge von Überforderung verstanden werden, sollen so gebessert werden. Wichtigstes Gestaltungsprinzip der Milieustrukturen ist hierbei Stetigkeit, Beständigkeit und Kontinuität. Darüber hinaus wird auch die Schaffung von körperlicher Sicherheit und Unfallsicherheit angestrebt . 
 Durch eine in diesem Sinn ‘prothetische’ Gestaltung der Umwelt wird die Ermöglichung einer weitgehend selbständigen Lebensführung und eines möglichst hohen Maßes an Autonomie für den dementiell erkrankten alten Menschen beabsichtigt . „Ebenso wie dies bei körperlichen Funktionsbeeinträchtigungen die Regel ist, müssen auch kognitive Behinderungen durch Prothesen ausgeglichen werden, um ein hohes Maß an individueller Selbständigkeit zu erreichen“ . 
 Über die beschriebene ‘prothetische’ Schutzfunktion des Milieus hinaus wird die Bedeutung der Aktivierung, Anregung und Stimulation durch die Milieustrukturen betont. „Sie müssen schützende oder prothetische Elemente und anregende oder therapeutische Elemente aufweisen“ . Neben einer Überforderung gilt es ebenso eine Unterforderung zu vermeiden; auch eine Unterstimulation wirkt sich ungünstig auf das Erleben und Verhalten der Betroffenen aus . 
 In einem Sicherheit gebenden und Autonomie ermöglichenden Milieu soll dem dementiell erkrankten alten Menschen dazu verholfen werden, „ein menschenwürdiges und seinen Bedürfnissen und Fähigkeiten entsprechendes Leben“  zu führen. Vorhandene Kompeten-zen der dementiell erkrankten alten Menschen werden gestützt und gestärkt . Dabei wird die Schaffung einer an den Prinzipien der Normalisierung orientierten Situation beab-sichtigt . Aktivierung, Anregung und Kompetenzförderung geben die Möglichkeit zur Selbstbestätigung und Steigerung des Selbstwertgefühls . 
 In einem solchen Milieu, das sowohl vor einer Überforderung schützt, aber gleichzeitig auch fördert, soll insgesamt eine Verbesserung der Lebensqualität, vermehrte Zufriedenheit und Wohlbefinden der dementiell erkrankten alten Menschen erreicht werden . 

2. 3. 4  Komponenten der Milieutherapie

 Die drei Kernelemente der Milieutherapie sind bereits in der Definition von Milieutherapie genannt worden: Veränderungen in der sozialen Umgebung, die Strukturierung des Tagesablaufs und die Gestaltung der dinglich-räumlichen Umwelt. Sie sollen im folgenden näher erläutert werden. 
2. 3. 4. 1 Die soziale Umgebung
 Zentrales Moment im Rahmen milieutherapeutischer Arbeit ist die soziale Umgebung des dementiell erkrankten Menschen: „Gemeint sind damit insbesondere die Bindeglieder, die gewissermaßen den ‘Kitt zwischen den Fugen’ der äußeren Gegebenheiten und des Stationsprogramms darstellen und die die therapeutischen Einzelelemente zu einem lebendigen Ganzen zusammenwachsen lassen. Diese Arbeit ist Aufgabe des Teams (...)“ . 

 Als wichtig gilt die Beteiligung und enge Zusammenarbeit des gesamten Personals bei der Planung und auch Durchführung milieutherapeutischer Maßnahmen. Milieutherapie kann und soll nicht auf bestimmte Berufsgruppen beschränkt bleiben. So läßt sich dadurch auch Motivation fördern und die Gefahr einer Spaltung vermeiden in z.B. ‘gute, therapeutische’ Arbeit und ‘schlechte Pflege’ bzw. in diejenigen, die ‘die Arbeit machen’ und diejenigen, die sich um die alten Menschen ‘kümmern’ . Betont wird die Notwendigkeit eines einheitlichen Konzepts, an dem sich alle Mitarbeiter orientieren können und sollen. Nur so erscheint ein therapeutisches Milieu möglich . „Wichtig ist dabei, daß alle Kontaktpersonen des Patienten sich untereinander abstimmen, da sich der therapeutische Effekt erst dann einstellt, wenn sich ein ‘therapeutisches Milieu’ unter Einbeziehung aller entwickelt hat“ . 

 Den Kern der Arbeit bildet ein Bezugspersonensystem. Die Begleitung des Betroffenen soll von möglichst festen Bezugspersonen geleistet werden . Wird dies schon als allgemein sinnvoll und erstrebenswert erachtet in der Begleitung und Pflege alter Menschen, so muß dies insbesondere für dementiell Erkrankte gelten. „Es muß für einen orientierungs- und gedächtnisgeschwächten Menschen beunruhigend sein, immer wieder verschiedene Menschen, die er nicht sicher zuordnen kann, nahe an sich herankommen zu lassen, häufig sogar in seinem intimsten Bereich. Es gehört zu den größten Problemen, moderne Erfordernisse der Arbeitsorganisation mit dem Bedürfnis nach Beziehungskonstanz Demenzkranker zu vereinbaren“ . 

 Zwischen Mitarbeiter und altem Menschen soll sich eine persönliche Beziehung entwickeln (können). Feste Bezugspersonen gelten als Voraussetzung für die Entwicklung von Vertrauen und damit für Geborgenheit und Sicherheitsempfinden. Grundlegend für die Entwicklung einer Beziehung ist eine bestimmte Grundhaltung der Mitarbeiter dem dementiell Erkrankten gegenüber. Diese sollte von Respekt, Partnerschaftlichkeit und Akzeptanz geprägt sein. Wichtig sind des weiteren ein einfühlsamer, empathischer, verstehender Umgang, Ruhe und Geduld und eine Sensibilität für die Bedürfnisse des einzelnen. Resignativen oder nihilistischen Einstellungen des Personals gilt es entgegenzuwirken . „Ideal wäre es, wenn die Patienten nur auf solche Menschen träfen, die glauben, daß es sich um sie lohnt“ . 

 Als weiterer entscheidender Faktor für die Entwicklung einer Beziehung wird die  Kenntnis der Biographie des Betroffenen hervorgehoben . Das Wissen um beispielsweise Interaktionsstile des Betroffenen, seine Bewältigungs- und Verarbeitungsweisen, wichtige lebensgeschichtliche Ereignisse etc. dient der Sensibilisierung der Mitarbeiter. Sie sollen so ein „möglichst vollständiges Bild der Persönlichkeit des dementiell Erkrankten erhalten können und so vom stereotypen Fremdbild ‘dement, abgebaut, kommunikationsunfähig, schwerstpflegebedürftig’ wegkommen“ . Eine biographische Orientierung soll einer generalisierenden Haltung des Personals  entgegenwirken. Des weiteren ermöglicht die biographische Orientierung mehr Verständnis für - wie Lind formuliert - „seltsame Verhaltensweisen und Tätigkeitsroutinen dementiell Erkrankter“ . 

 Neben einem Zugang zur individuellen Situation des einzelnen Betroffenen durch eine biographische Orientierung ist die Fähigkeit der Mitarbeiter zur Kommunikation maßgeblich für die Entwicklung einer Beziehung. Sowohl die Art und Weise der verbalen Verständigung als auch die Berücksichtigung der nonverbalen Kommunikation ist hier von großer Bedeutung. Störungen der Sprache und des Sprachverständnisses im Zuge einer dementiellen Erkrankung machen einen Kommunikationsstil nötig, der auf diese Beeinträchtigungen abgestimmt ist. Für eine solche adäquate Kommunikation wird empfohlen, deutlich und langsam und in einfachen Sätzen zu sprechen und den Betroffenen - respektvoll - mit seinem Namen anzureden. Die verbale Kommunikation soll ergänzt werden durch Augenkontakt, Berührungen, Lächeln und unterstützende Gesten (‘touching is talking’). Nonverbale Kommunikation dient dabei sowohl der Verdeutlichung und Unterstützung des Verbalteils, als auch der sozialen und emotionalen Stützung und Stärkung und soll Ruhe und Sicherheit vermitteln . „Streicheln und Berühren - in anderen Therapiebereichen verpönt - haben in der Arbeit mit Verwirrten wichtige kommunikative Funktion“ . 

 Wesentliches Moment in der sozialen Umgebung des dementiell erkrankten alten Menschen ist schließlich eine notwendige Flexibilität, d.h. eine immer wieder neu herzustellende Abstimmung des Handelns auf den einzelnen. Diese Abstimmung des Anforderungsprofils auf den einzelnen und sein gegenwärtiges Kompetenzprofil wird vor dem Hintergrund der Dynamik der Krankheitsverläufe (mit entsprechenden Schwankungen in der Symptomatik) nötig, um Unter- und Überforderungen zu vermeiden. „Konkret heißt dies auch, täglich die Meßlatte der zu erwartenden Leistungen neu festzulegen“ . 

 Um das Genannte verwirklichen zu können müssen - so wird betont - bestimmte Voraussetzungen erfüllt werden. Neben dem Wohlbefinden der dementiell erkrankten alten Menschen muß ebenso das der Mitarbeiter mitberücksichtigt werden. Ein schlechtes Arbeitsmilieu wirkt sich negativ auf das Wohn- und Lebensmilieu der dementiell Erkrankten aus. Ermöglichung von Einflußnahme, Mitgestaltung und Mitbestimmung aller Mitarbeiter wirkt sich förderlich auf ihre Motivation und Zufriedenheit aus. Daneben spielen strukturelle Gegebenheiten eine wichtige Rolle: wie u.a. ein ausreichender Personalschlüssel, eine nicht zu große Anzahl dementiell Erkrankter, die ausschließlich freiwillige Mitarbeit in diesem Bereich, genügend Freizeitausgleich und Rückzugsmöglichkeiten. Die Arbeitsbedingungen sollen es ermöglichen, sich arbeitszufrieden zu erleben . 
 Auch regelmäßige Fortbildungen, Teambesprechungen und Supervision werden als unerläßlich betrachtet : Diese sind notwendig für die psychische Gesundheit der Mitarbeiter und für deren fachliche Kompetenz (z.B. was die Zusammenarbeit, die Reflexion des eigenen Verhaltens und der eigenen Einstellungen, die Beziehungsfähigkeit etc. anbelangt). Dementsprechend „tragen [sie] entscheidend zur Veränderung des therapeutischen Milieus bei“ . 

 Verschiedentlich wird schließlich die Notwendigkeit der Einbeziehung der Angehörigen betont . Durch eine Integration der Angehörigen soll ein Bruch im bisherigen Beziehungsgefüge vermieden werden. Angehörige werden in ihren Kontakten zu den dementiell Erkrankten gefördert und unterstützt. Ihnen werden bei Bedarf Informationen über dementielle Erkrankungen an die Hand gegeben, und sie werden bei eigenen Problemen beraten. Neben einer Vermittlung spezifischer dementenorientierter Interaktions- und Kommunikationsstile an die Angehörigen wird ebenso umgekehrt das Lernen professioneller Betreuer von den individuellen Umgangsweisen der Angehörigen betont. Schließlich wird angestrebt, Angehörige als Co-Therapeuten und ehrenamtliche Mitarbeiter bei der Durchführung psychosozialer Angebote miteinzubeziehen. Durch die institutionalisierte Einbindung der Angehörigen in die jeweilige Einrichtung soll dieser ein offener und gemeinwesennaher Charakter gegeben werden. 

2. 3. 4. 2 Die Tagesstrukturierung
 Der zweite Eckpfeiler der Milieutherapie ist die Tagesstrukturierung. Hierbei wird davon ausgegangen, daß es den Betroffenen im Zuge ihrer dementiellen Erkrankung nur schwer möglich ist, die Zeit selbst planend und willentlich zu gestalten und sich sinnvoll zu beschäftigen. „Die durch die Hirnleistungseinbußen hervorgerufenen Orientierungs-störungen bezüglich Raum, Zeit, Personen und Situationen erschweren die sinnvolle und befriedigende Eigenbeschäftigung und Zeitgestaltung (...)“ . Aus diesem Grund wird eine von außen an den Betroffenen herangetragene Struktur für notwendig erachtet. Konkret bedeutet dies, daß dem dementiell Erkrankten „ein Handlungs- und Aktivierungsprogramm an die Hand gegeben werden [sollte], das im wesentlichen eine Über- wie auch Unterstimulierung in sensorischen und sozialen Bereichen mit der Gefahr der psychophysischen Dekompensation vermeidet“ . Die dargebotenen Reize müssen im Rahmen des Streßbewältigungsvermögens liegen. Dabei gilt es auch, die geringe Aufmerksamkeits- und Konzentrationsspanne dementiell Erkrankter zu berücksichtigen . Als sinnvoll wird ein Intervallkonzept betrachtet: Aktivitäten wechseln sich mit Ruhepausen ab, so daß psychische und physische Überreizung und Erschöpfung vermieden wird . Der Zeitplan des so klar strukturierten Tagesablaufs wiederholt sich täglich. Diese Beständigkeit und Konstanz fördert ein Gefühl der Vorhersagbarkeit und Kontrollierbarkeit der Lebensumstände und gibt damit dem dementiell erkrankten Menschen  Sicherheit . 

 Die Aktivierungsangebote im Rahmen der Milieutherapie sollen sowohl den Kompetenzen der Betroffenen entsprechen als auch einen Bezug zur jeweiligen Biographie haben. Hier wird z.B. auf die erhaltene emotionale Ansprechbarkeit dementiell Erkrankter verwiesen, die „gefühlsbetonte Gruppenangebote“  sinnvoll erscheinen läßt. Auch oft lange erhaltene Handlungsroutinen wie vertraute Aktivitäten des alltäglichen Lebens können ausgeführt bzw. (re)aktiviert und gefördert werden und Möglichkeiten zu Bestätigung, Anerkennung und einer Steigerung des Selbstwertgefühls und damit des Wohlbefindens bieten . Diese Aktivitäten entsprechen zudem dem Anspruch eines „dem normalen Leben angepaßt[en]“ , quasi „natürlichen“  Tagesablauf. Aber auch Gewohnheiten und Vorlieben spielen hier eine Rolle und  können z.T. noch lange ausgeübt werden und Befriedigung durch sinnvoll erlebte Beschäftigung geben. Hierdurch wird  ferner  ein Bezug hergestellt zur Individualität des einzelnen. Die Berücksichtigung der Biographie, des bisherigen Lebensstils und  Lebensrhythmus des jeweiligen Menschen gilt als wichtiger Aspekt der Tagesstrukturierung . „Durch die Verankerung dieser individuellen Formen der Lebensgestaltung in die Außenstruktur der Pflege und Betreuung (...) [wird] die Kontinuität der alltagsnahen Lebensbezüge bis zu einem bestimmten Ausmaß aufrechterhalten (...)“ . Dies schafft Vertrautheit und gibt Sicherheit. 

 Betont wird des weiteren der Gruppenbezug von Aktivitäten im Rahmen der Tagesstrukturierung: „Der dementiell Erkrankte verfügt auch im fortgeschrittenen Stadium noch über gut erhaltene soziale Kompetenzen und hat dementsprechend das Bedürfnis nach sozialen Kontakten“ . Mit Hilfe von Gruppenangeboten (neben individueller ‘Beschäftigung’) wird soziale Isolation vermieden und die Voraussetzung geschaffen für gegenseitige Bestätigung und Wertschätzung der Betroffenen und für die Erfahrung eines Wir-Gefühls . Wichtige Bedingung ist allerdings die begrenzte Teilnehmerzahl dieser Gruppen: in Kleingruppen sollen „streßverursachende Situationen sozialer Massierung“  und eine daraus resultierende Überstimulierung und Überforderung vermieden werden. 

 Grundsätzlich ist bezüglich der Aktivitäten nicht zuletzt - so wird hervorgehoben - die freiwillige Teilnahme des dementiell erkrankten Menschen zu beachten. „Tagesstrukturierende Angebote sollten der Freiwilligkeit unterliegen und kein Zwangs- oder Pflichtprogramm für die Betroffenen darstellen“ . 

 2. 3. 4. 3 Die dinglich-räumliche Gestaltung
 Auch für das dritte Element der Milieutherapie - der dinglich-räumlichen Gestaltung - gilt, sowohl der schützenden, ‘prothetischen’ als auch der anregenden, stimulierenden Funktion gerecht werden zu müssen. „In der Verflechtung beider Strategien zu einer dementenspezifischen Raumstruktur liegt der Schlüssel für die Gestaltung (...)“ . 

 Eine einfache Raumstruktur, große Fenster und Glastüren und kleine Wohngruppen, Stationen etc. schaffen ein überschaubares räumliches Milieu für die dementiell erkrankten alten Menschen . Diese Überschaubarkeit erleichtert zudem eine bessere Übersicht des Personals über die räumlichen Gegebenheiten, d.h. über den Aufenthalts- und Bewegungsbereich der dementiell erkrankten alten Menschen. Hiermit soll eine vermehrte (Unfall-) Sicherheit erreicht werden - z.B. durch eine gute Kontrollmöglichkeit  der Ausgänge. Die sollen nicht völlig verschlossen werden, um personenzentriert den Aktionsradius eines jeden einzelnen flexibel handhaben zu können . 

 Ausreichende barrierefreie Wege, die ein geringes Selbstgefährdungspotential aufweisen, bieten eine sichere Möglichkeit für Bewegung . „Ständiges Hin- und Hergehen stellt ein vorherrschendes Handlungs- und Aktivitätsmuster der Dementen dar. Dieses Bedürfnis sollte nicht unterdrückt werden, sondern die räumliche Konzeption sollte diese Aktivität ermöglichen“ . Wächtler et al. heben hervor, daß Bewegung „für viele Demenzkranke die einzige Tätigkeit [bedeutet], die sie selbständig und aus eigenem Antrieb kompetent ausführen können“ . Die Betroffenen können sich hier als autonom erleben . Überforderungssituationen gilt es zu vermeiden. Als problematisch erweisen sich z.B. komplizierte Wegstrukturen, aber auch Flurenden;  auf diese kann  von den Betroffenen nicht situationsangemessen reagiert werden und infolgedessen kommt es leicht zu ‘Dekompensationen’ wie Verirren oder  Inkontinenz an diesen Orten. Dem kann u.a. durch Endlos-Flure begegnet werden . 
 Verschiedentlich wird der Zugang zu einem eingefriedeten Außenbereich als empfehlenswert eingeschätzt . „Eine Anbindung der Station an ein angrenzendes Freigelände (z.B. eingefriedeter Gartenteil, Atrium) erweitert durch den direkten Natur- und Außenbezug den Lebensbereich entscheidend“ . Naturbezug kann ebenso innerhalb der Einrichtung durch Pflanzen und Kleintiere hergestellt werden und gilt als ein „besonders wichtiges Stimulierungselement“ . Allerdings bestehen - zumindest bezüglich eines angeschlossenen Außenbereichs - ebenso zweifelnde  Stimmen: „Es scheint, daß Demenzkranke das Verlassen der schützenden Station als bedrohlich empfinden können und deshalb lieber im Raum bleiben bzw. Terrasse und Garten nur in Begleitung von kompetent erlebten Personen aufsuchen mögen“ . 

 Des weiteren wird angestrebt, dem dementiell erkrankten alten Menschen in einem überschaubaren Rahmen Gefühle der Sicherheit, Geborgenheit und des Heimisch-Seins zu ermöglichen . Um dies zu erreichen, wird Raum für individuelle und wohnliche Gestaltung gegeben. Familienähnliche kleine Wohngruppen, eine lebensgeschichtlich/biographisch orientierte Einrichtung und Möblierung mit altvertrauten Gebrauchsgegenständen soll Vertrautheit und Kontinuität schaffen . Private Räume geben die Möglichkeit sich zurückzuziehen. Sie vermeiden zudem eine gegenseitige Beeinträchtigung der dementiell Erkrankten . 

 Um die eingeschränkte Kompetenz zur Regulierung bzw. Kontrolle von Reizüberflutung zu vermeiden, wird die Umwelt sowohl akustisch als auch visuell entsprechend gestaltet. Empfohlen wird eine ausreichende, nicht blendende, möglichst natürliche Beleuchtung, denn - wie Lind und Heeg betonen -  „Dunkelheit und Zwielicht führen zu Verwirrung, Angst und Fehlverhalten“ . Bei der farblichen Gestaltung der Räumlichkeiten sollen allzu bunte Farben zugunsten von Pastellfarben vermieden werden . Auf Muster u.ä. (vor allem im Boden) gilt es zu verzichten; diese können zu Verkennungen führen und z.B. als Hindernisse wahrgenommen werden . Bezüglich der Anwendung von Bildern und Spiegeln gehen die Meinungen auseinander. So wird z.T. von ihnen abgeraten, um Verkennungen, Halluzinationen, wahnhafte Verzerrungen etc. zu vermeiden; plädiert wird anstelle dessen für einfach gestaltete Wandbehänge . Andernorts werden sie als stimulierendes und anregendes Element begrüßt . Einer akustischen Überreizung soll durch Ausschluß von hohen Geräuschpegeln und verschiedenen Reizquellen wie z.B. Radio, Telefon oder Fernsehen entgegengesteuert werden . Beschrieben wird der konstruktive Einfluß von Musik . Mit Hilfe von Musik können erwünschte vorherrschende Stimmungen verstärkt und unterstützt werden oder bestimmte emotionale Verfassungen einfach nur aufgegriffen und abgebildet werden. Musik kann des weiteren beruhigen, aber auch animieren und aktivieren. „Wichtig ist, daß die Musik beiläufig und unaufdringlich eingebracht wird (...)“ . Gewarnt wird vor einer ständigen, überfordernden und reizenden ‘Dauerberieselung’. 

 Die räumliche Umgebung des dementiell erkrankten alten Menschen soll neben der schützenden eine ebenso anregende Funktion haben, um Unterstimulierung zu vermeiden. Bereits genannt wurden diesbezüglich die Bedeutung des Naturbezugs und der Musik. Allgemein ist im räumlichen Milieu sowohl Anregung zur Eigenbeschäftigung als auch zu Gruppenaktivitäten zu geben. „Eine raum-ökologische und milieutherapeutische Aufgabe besteht nunmehr in der gezielten Darbietung von Beschäftigungsmöglichkeiten, die den Bedürfnissen und Wünschen dieser Klientel angepaßt sind“ . Elemente mit hohem Vertrautheits- und auch Aufforderungscharakter (z.B. Regale mit Wäsche und Küchenutensilien, Kleintiere, Fenster mit interessanten Ausblicken) sollen „Anregungen zum Beobachten, Agieren und Tasten“  geben, Kompetenzen aktivieren und fördern und selbstbestimmtes Handeln ermöglichen . Die räumliche Umgebung muß die Voraussetzungen für die Aufnahme sozialer Kontakte und die freiwillige Teilnahme an Gruppenbeschäftigungen bieten. Erreicht werden soll dies durch großzügige interaktionsfördernde Kontakt- und Gemeinschaftszonen und durch Einblick erlaubende große Fenster und Glastüren in den Gruppen- und Gemeinschaftsräumen . 

 Als grundlegend für die Verwirklichung des beschriebenen therapeutischen Milieus für dementiell erkrankte alte Menschen wird verschiedentlich die räumliche Segregation der Betroffenen in speziellen Wohngruppen/’Abteilungen’/’Alzheimer Units’ etc. erachtet . Begründet wird dies damit, daß ein Integrationskonzept zu „Einbußen der Lebensqualität“   bei beiden Gruppen, d.h. den ‘geistig Rüstigen’ und den ‘Dementen’, und zu Überforderungssituationen des Pflegepersonals führt. Die ‘geistig Rüstigen’ leiden bei einer dementengerechten Milieugestaltung unter sich negativ auswirkender Unterstimulierung und des weiteren unter dem „Zwang zur ständigen Auseinandersetzung mit den krankheitstypischen Verhaltensauffälligkeiten der Dementen“ . Dementiell Erkrankte werden umgekehrt in einer integrativen Station überfordert und  aus „Sicherheitsgründen oder zur Aufrechterhaltung eines geordneten Stationsablaufs“  vermehrt sediert oder fixiert. Verwiesen wird diesbezüglich auf internationale Erfahrungen und Erkenntnisse in der Versorgung dementiell Erkrankter, nach denen sich ein angepaßtes Milieu um so einfacher aufbauen läßt, je gleichartiger eine Gruppe von Bewohnern hinsichtlich Krankheit und Krankheitsstadium ist. Für die dementiell erkrankten alten Menschen bedeutet eine solche homogene Gruppe - so wird betont - eine Erleichterung hinsichtlich des Zugangs und Kontakts zu den anderen Betroffenen. Für das Personal wird eine Erleichterung der Arbeitsbelastung und damit eine vermehrte Arbeitszufriedenheit erwartet, da „nur ein Milieu auf der Station aufgebaut und erhalten werden muß“ . 

2. 3. 5 Das Realitätsorientierungstraining als spezifische Form der Milieutherapie

 Das Realitätsorientierungstraining kann - zumindest in seiner ursprünglichen, umfassenden Version - als eine spezifische Form von Milieutherapie verstanden werden. 

 Das Realitätsorientierungstraining (ROT) wurde ansatzweise bereits 1958 von J. Folsom (später dann unter Mitarbeit von L.R. Taulbee) in den USA entwickelt. „Almost certainly RO existed before then, but at this time a structure and name began to be applied“ . Der Ansatz stützt sich vor allem auf pragmatische Überlegungen und praktische Erfahrungen im Rahmen von Pilotstudien in ‘Veterans’ Administration Hospitals’. Dabei wurden insbesondere die Vorschläge und die Kritik der Mitarbeiter berücksichtigt und in die weitere Entwicklung aufgenommen. Allerdings kann davon ausgegangen werden, daß zumindest implizit sowohl Erkenntnisse aus der kognitiven Psychologie als auch aus verschiedenen psychotherapeutischen Ansätzen wie der Gesprächspsychotherapie und insbesondere der Verhaltenstherapie im Konzept des ROT eine Rolle spielen . 

 Schwierigkeiten bei der Darstellung des Realitätsorientierungstrainings ergeben sich insofern, als sich unter dieser Bezeichnung konkret verschiedene Vorgehensweisen verbergen. „Zusammenfassend mag mit dem Kürzel ROT eher etwas verschleiert, denn erklärt werden“ . Im folgenden soll  versucht werden, das ROT in seiner ursprünglichen, umfassenden Fassung zu erläutern. 

 Die Zielgruppe des ROT sind nach Taulbee und Folsom Menschen mit Orientierungsschwierigkeiten, Verwirrtheit und Gedächtnisverlust unabhängig von Entstehungszusammenhängen, Chronizität und Schweregrad der Störung . Ursprüngliche Grundannahme von Folsom war, daß die Verwirrtheit der von ihm betrachteten Alterspatienten auf den Zerfall familiärer Strukturen und der daraus resultierenden zunehmenden Institutionalisierung in Pflegeheimen zurückzuführen ist . Die beschriebenen Symptome der Zielgruppe lassen das ROT für „alle Formen dementieller Alterserkrankungen“  sinnvoll erscheinen. Daneben sind aber ebenso Menschen mit anderen Störungen Zielgruppe dieses Ansatzes: So ist es ebenso angewendet worden bei jüngeren Menschen mit Schädel-Hirnverletzungen, bei Personen mit Lernschwierigkeiten und auch bei chronisch psychisch Kranken . „It is appropriate for use with people suffering from the range of dementing conditions, although it is not limited to them“ . 

Primäre Zielsetzung des ROT ist die Verbesserung der zeitlichen, örtlichen und personellen Orientierung und des allgemeinen Gedächtnisses. Des weiteren werden die Erhaltung der persönlichen Identität und ein vermehrtes emotionales Wohlbefinden der Betroffenen angestrebt. Selbständigkeit und soziale Kompetenz sollen gefördert werden;  Kommunikation soll ermutigt und soziale Kontakte sollen aufgebaut und unterstützt werden. Nicht zuletzt wird mit dem ROT ein positiver Einfluß auf die Arbeitszufriedenheit des Personals bezweckt . 

 Das ROT besteht gewöhnlich aus drei Komponenten : 
· einem Einstellungs-Training des Personals (‘attitude therapy’), 
· dem 24-Stunden-ROT (‘informal RO’, ‘basic approach’) 
· und schließlich strukturierten Gruppensitzungen (‘classroom RO’, ‘formal RO’, ‘intensive RO’). 
 Das ROT in dieser umfassenden, alle drei Komponenten beinhaltenden Form stellt damit zumindest konzeptionell einen umfassenden milieutherapeutischen Ansatz dar, wenngleich eine entsprechende Umsetzung in die Praxis nicht immer gegeben ist. Im Rahmen des ROT wird dabei in gewisser Weise ein sowohl schützendes, ‘prothetisches’ als auch ein aktivierendes, anregendes Milieu zu schaffen versucht. Im folgenden sollen die einzelnen Elemente näher erläutert werden. 

 Dem Einsatz des ROT hat ein sorgfältiges Training des Personals vorauszugehen. Zu Anfang ist es wichtig, durch Vorträge, Fortbildungen und Exkursionen das Personal für eine aktive Beteiligung zu motivieren und vorzubereiten. Dabei sollen sowohl Grundgedanken, Prinzipien, Ziele und Grenzen des ROT vermittelt werden als auch auf die konkrete praktische Durchführung und Einbettung in das bestehende Setting vorbereitet werden . Es wird betont, „daß mit einer rein technischen Anwendung des ROT  kaum der gewünschte Erfolg zu erzielen ist“ . Für die Wirksamkeit entscheidend ist die Schaffung eines therapeutischen Stationsklimas. Neben Einstellungen wie ‘kind firmness’, ‘active friendliness’, ‘passive friendliness’, ‘matter of fact’ und ‘no demand’ wird die Bedeutung von Empathie und Wärme und einer positiven Erwartungshaltung bezüglich der Leistungsfähigkeit des Betroffenen hervorgehoben . „Alle am ROT Beteiligten benötigen die Überzeugung, daß auch verwirrte Menschen gezielt unterstützt werden können, sie müssen über Geduld und die erforderliche Ausdauer verfügen“ . Zudem bedarf es des Respekts dem dementiell erkrankten alten Menschen gegenüber; der Betroffene ist als Erwachsener zu achten. „Without this respect, no communication takes place and RO becomes a pointless exercise“ . Als grundlegend wird zudem eine gute Kenntnis des einzelnen betrachtet. „Schließlich ist es für die Betreuenden wichtig, genügend Informationen über den Kranken zu besitzen. Dazu gehören Kenntnisse wie Wohnort, Alter, Familienumstände, persönliche Vorlieben und Abneigungen sowie Ereignisse aus jüngster Vergangenheit, die für den Patienten von Belang sind“ . Maßgeblich ist schließlich die Konsistenz des Personals: „Wichtig ist, daß diese Haltung von allen Personen ausgeht, die mit dem Patienten in Kontakt stehen“ . Als unerläßlich gilt die enge Zusammenarbeit aller Mitarbeiter der jeweiligen Station bzw. Einrichtung. Dies sollen regelmäßige Teamsitzungen gewährleisten; sie bieten zudem die Möglichkeit, die therapeutische Gesamtkonzeption und auch einzelne ’Fälle’ zu diskutieren . 

 Das 24-Stunden-ROT ist „(...) das Kernstück von ROT (...)“ . Es zielt darauf ab, den Alltag der dementiell erkrankten alten Menschen ‘rund um die Uhr’ so zu gestalten, daß ihre Orientierungsfähigkeit unterstützt wird. „Sehr wichtig ist es, den gesamten Institutions- bzw. Stationsalltag unter dem Gesichtspunkt der Reorientierung zu gestalten, und zwar sowohl in Bezug auf interpersonell-interaktive Komponenten als auch auf umgebungsbezogene Komponenten“ . Das 24-Stunden-ROT soll - wie Stuhlmann ausführt - „dem verwirrten alten Menschen ermöglichen, seine Individualität als Erwachsener, seine Würde und Selbstachtung sowie seine Unabhängigkeit weitgehend zu erhalten (...)“ . 

 Das 24-Stunden-ROT ist ein kontinuierlicher Prozeß, in dem das Personal während aller Interaktionen verbale Realitätsinformationen gibt. Natürlich anfallende Gespräche bieten die Möglichkeit zur Reorientierung in allen Modalitäten. Dem Betroffenen werden Informationen bezüglich Zeit, Ort und Personen gegeben, Handlungen und Vorgänge werden kommentiert und erklärt und auf Fragen wird genau und richtig geantwortet . „Durch namentliche Anrede, sinngemäße Wiederholungen und Aufmerksammachen auf Jahreszeit, Wochentag, Uhrzeit, Wetter usw. wird das Realitätsbewußtsein des dementen Patienten unterstützt“ . Auch Vergangenes kann gezielt dazu verwendet werden, eine Kommunikation in Gang zu bringen und den Bezug zur gegenwärtigen Realität herzustellen . Als wichtig wird hervorgehoben, dem Betroffenen Erfolgserlebnisse zu vermitteln, indem z.B. Fragen so gestellt werden, daß der Person eine Antwort möglich ist. „Eine Konversation, der er nicht folgen kann, würde ihm sein Unvermögen vor Augen führen und Angst auslösen“ . Orientierte Äußerungen und Verhaltensweisen werden positiv verstärkt (z.B. durch Aufmerksamkeit), gegebenenfalls auch einzelne richtige Teilschritte (‘Shaping’). Verwirrte und unzusammenhängende Äußerungen oder desorientiertes Verhalten werden vorsichtig korrigiert, wenn es um weniger wichtige oder sensible Aspekte geht . Bei empfindlicheren Bereichen - so betonen Haag und Bayen -  „kann eine direkte Konfrontation mit der Realität große Unsicherheit, Angst oder Trauer auslösen“ . Hier wird alternativ empfohlen, den Betroffenen abzulenken oder auf das Gefühl einzugehen, das hinter der Äußerung stehen könnte, und dies anzuerkennen . Nicht zuletzt soll das Personal die dementiell erkrankten alten Menschen auf verschiedene Arten anregen (z.B. durch Stimulierung möglichst vieler Sinne) und motivieren und zur Kontaktaufnahme ermutigen . 

 Die Umgebung wird im Zuge des 24-Stunden-ROT so überschaubar, anregend und angenehm (im Sinne von wohnlich) gestaltet wie möglich. Entscheidend ist, daß die Räume mit Hinweisen, Zeichen, Schildern oder Farben gekennzeichnet werden, um den Betroffenen die räumliche Orientierung in ihrer Umgebung zu erleichtern. Zur Unterstützung der zeitlichen Orientierung dienen Uhren und Kalender. Namensschilder erleichtern die persönliche Kommunikation. Wichtig ist, daß die Orientierungshilfen deutlich und in hinreichender Größe angebracht werden, damit eventuelle sensorische Beeinträchtigungen ausgeglichen werden . Zudem müssen die Betroffenen „systematisch auf diese Orientierungshilfen hingewiesen und in ihrem Gebrauch trainiert werden“ . Orientierend wirkt des weiteren eine regelmäßige Strukturierung des Alltags durch immer wiederkehrende Zeiten und Routinen . Zusätzlich werden stimulierende Materialien (wie beispielsweise Zeitschriften, Fotos, Radio, Spiele etc.)  zur Verfügung gestellt, die das Interesse wecken und  Anregungen bieten können . 

 Das dritte Element des ROT - die Gruppensitzungen - sind lediglich zur Intensivierung und Ergänzung der Milieuumgestaltung für stärker desorientierte Personen vorgesehen . „RO classes, or intensive sessions, are a supplement to 24 hour RO but in some centres these have been used in isolation“ . Hierbei treffen sich bis zu täglich kleine Gruppen von drei bis sechs Personen für einen bestimmten Zeitraum (dreißig bis sechzig Minuten) unter der Leitung von einem oder zwei Mitarbeitern. Die Gruppensitzungen finden dabei stets zur selben Zeit, am selben Ort und in derselben Zusammensetzung statt. Die Gruppenleiter sollen sich vor allem durch eine positive Haltung und Flexibilität auszeichnen. „Group leaders do not require particular professional expertise, and qualities such as enthusiasm and a positive, flexible and creative approach are more important“ . Dennoch wird ein spezifisches Training als notwendig erachtet. Auch sollte für noch unerfahrene Gruppenleiter die Möglichkeit zur regelmäßigen Supervision gegeben sein . 

 In den Gruppensitzungen werden Orientierungsitems eingeübt und in einer empathisch-unterstützenden Atmosphäre verstärkt . Die Arbeit in den Gruppen ist dabei in verschiedene Schwierigkeitsgrade aufgeteilt, die sich nach dem Schweregrad der Beeinträchtigungen der dementiell Erkrankten richten. „Das Leistungsniveau der Gruppenmitglieder sollte so homogen sein, daß niemand über- oder unterfordert wird“ . Unterschieden werden Basisgruppen (‘basic level’), Standardgruppen (‘standard  level’) und  Fortgeschrittenengruppen (‘advanced   level’) . Für alle drei Gruppenarten gelten folgende übergreifende Zielvorstellungen : Durch Verzicht auf Demonstration der Schwierigkeiten und durch Geben von Hinweisen und Fingerzeigen sollen  den Gruppenmitgliedern Erfolgserlebnisse vermittelt und ihnen damit ein größeres Selbstvertrauen gegeben werden. Interesse und Anteilnahme an der Umwelt sollen geweckt und der Bezug zur Wirklichkeit gefördert werden. Schließlich wird den Betroffenen in der Gruppenarbeit ermöglicht, soziale Kontakte aufzunehmen und mit anderen in Beziehung zu treten. Kommunikation soll unterstützt und sozialer Rückzug verhindert werden. 

 Basisgruppen setzten sich aus Personen zusammen, bei denen ein deutlicher intellektueller Abbau zu verzeichnen ist. Der Schwerpunkt liegt hier auf aktuellen Informationen und Materialien zur Orientierung (z.B. hinsichtlich der Namen der Teilnehmer, des Tages, Monats, Jahres, Wetters). Wesentliches Hilfsmittel insbesondere für diese Gruppen ist die sogenannte Realitäts-Orientierungs-Tafel: Sie enthält die wichtigsten Informationen über den Ort und die Zeit und soll den Gruppenmitgliedern Übungsmöglichkeiten mittels abnehmbarer Magnetbuchstaben bieten. In den Standardgruppen für mäßig desorientierte Personen, die mehr Interesse an ihrer Umwelt zeigen, wird weniger Aufmerksamkeit auf die Vermittlung grundlegender orientierender Informationen verwendet. Das Aktivitäts- und Gesprächsspektrum ist hier breiter. „The standard group uses sensory stimulation and past/present discussion to develop interpersonal relationships and learning“ . In den fortgeschritten Gruppen schließlich, die sich an Personen mit leichter kognitiver Beeinträchtigung richten, tritt der ‘Therapeut’ als Gruppenleiter zurück; er hat hier eine mehr beratende und assistierende Funktion. Es können verschiedene alltagsnahe Aktivitäten (wie Kochen, Einkaufen, etc.) unternommen werden. Holden und Woods weisen darauf hin, daß „(...) the groups, in fact, became virtually indistiguishable from other forms of group work“ . Angestrebte Zielvorstellungen in den fortgeschrittenen Gruppen sind die Erhaltung der vorhandenen kognitiven Leistungsfähigkeit durch Stimulation sowie eine möglichst große Unabhängigkeit und Selbstbestimmung. 
 Die konkrete Gestaltung der Gruppenstunden ist letztlich immer auch von den Interessen der Teilnehmer und von den Fähigkeiten und dem Ideenreichtum des Leiters abhängig. Betont wird, daß die Vermittlung orientierender Grundinformationen sich nicht auf „ein monotones Frage- und Antwortspiel“ reduzieren darf, sondern in „eine Reihe interessanter und abwechslungsreicher Tätigkeiten gekleidet werden [sollte]“ . Zudem wird empfohlen, einen ‘schulmäßigen Paukstil’ zu vermeiden und einen für die Teilnehmer erkennbaren Sinnzusammenhang zwischen den durchgeführten Übungen und ihrem Lebensalltag herzustellen . 

2. 3. 6 Kritische Betrachtung

 Die Milieutherapie verfolgt das Ziel, schützende und zugleich anregende Umweltbedingungen zu schaffen und dadurch die durch die Demenz entstehenden Beeinträchtigungen zu kompensieren. Grundlage der Milieutherapie ist demnach, die im Rahmen einer Demenz im allgemeinen zu erwartenden Symptome zu berücksichtigen und durch entsprechende Gestaltung der Umwelt auszugleichen. Aus den allgemein erwartbaren Störungen der Wahrnehmung, des Gedächtnisses, der Orientierung, des Erlebens und Verhaltens usw. werden als notwendig erachtete Merkmale eines ‘dementengerechten’ Milieus abgeleitet (wie beispielsweise das Bezugspersonensystem, eine bestimmte Art der Kommunikation, eine entsprechende akustische und visuelle Gestaltung, die Strukturierung des Tages etc.). 

 Darüber hinaus berücksichtigt die Milieutherapie aber auch die je individuellen Bedürfnisse des einzelnen an einer Demenz erkrankten Menschen und seine je subjektive Perspektive. So wird von den Mitarbeitern Empathie und Sensibilität für die Bedürfnisse des einzelnen erwartet. Grundlegend ist die Bezugnahme auf Persönlichkeit und Biographie, d.h. auf die jeweiligen Interaktionsstile, auf die Art und Weise, mit Belastungen umzugehen, auf wichtige lebensgeschichtliche Ereignisse, aber auch auf den Lebensstil und -rhythmus und Gewohnheiten und Vorlieben. Die Mitarbeiter sollen sich so ein vollständigeres und differenzierteres Bild vom dementiell erkrankten alten Menschen machen und eine Beziehung zu ihm aufbauen können. Durch die Kenntnis der Biographie soll ein vermehrtes Verständnis für Verhaltensweisen des einzelnen ermöglicht werden. Die Berücksichtigung von Persönlichkeit und Biographie des einzelnen ist die entscheidende Grundlage für die gesamte Gestaltung der Begleitung und Unterstützung und eine von den Betroffenen als sinnvoll erlebte Aktivierung. Damit wird eine wünschenswerte Kontinuität zum bisherigen Leben des Betroffenen geschaffen. 
 Grundsätzlich baut die Milieutherapie demnach auf den mit der Demenz im allgemeinen verbundenen Beeinträchtigungen auf, aus denen Bedürfnisse der Betroffenen abgeleitet werden. Die konkrete Ausgestaltung bezieht aber immer auch in positiv zu bewertender Weise Situation, Perspektive und Bedürfnisse des Individuums mit ein. 
 
 

 Neben dem immer wieder betonten Bezug auf die Biographie des dementiell erkrankten alten Menschen ist die umfassende Berücksichtigung von Umweltfaktoren konstitutives Merkmal der Milieutherapie. Von primärem Interesse ist dabei der Einfluß der Umwelt auf den von der Demenz Betroffenen. Auffälligkeiten des Erlebens und Verhaltens werden als maßgeblich durch Unter- und Überforderung durch Umweltgegebenheiten (mit-)verursacht betrachtet. Damit liegt der Milieutherapie in wünschenswerter Weise ein umfassendes Verständnis von Demenz zugrunde. Die milieutherapeutische Gestaltung soll dementsprechend Unter- und Überforderung vermeiden und ein Klima schaffen, in dem möglichst wenig Belastungen ausgelöst werden. Bruder spricht diesbezüglich von einer nicht einfach zu erreichenden „Mischung aus beruhigender Reizabschirmung und freundlicher Stimulation“ . 
 Bezüglich der personellen Umwelt wird dabei nicht nur der engere Lebensbereich in die Betrachtung miteinbezogen, sondern ebenso institutionelle und gesellschaftliche Voraussetzungen. Diese beeinflussen und durchdringen die interpersonellen Beziehungen und wirken sich so mittelbar auf die therapeutische Begleitung der dementiell erkrankten alten Menschen und den Erfolg der Therapie aus. Dementsprechend werden im Rahmen der Milieutherapie Fortbildungen, Teambesprechungen und Supervision als unbedingt notwendig für die psychische Gesundheit der Mitarbeiter und auch bzw. damit zusammenhängend für ihre fachliche Kompetenz erachtet. Des weiteren werden Arbeitsbedingungen gefordert, die es den Mitarbeitern ermöglichen, sich arbeitszufrieden zu erleben. Angesprochen werden diesbezüglich die Mitbestimmung aller Mitarbeiter, ein ausreichender Personalschlüssel, die ausschließlich freiwillige Arbeit in diesem Bereich, genügend Freizeitausgleich und Rückzugsmöglichkeiten. Damit geht die Milieutherapie in  positiv  zu  bewertender  Weise  über  das  unmittelbare  therapeutische Setting hinaus. 
 Auch die Angehörigen der dementiell erkrankten alten Menschen werden in der Milieutherapie berücksichtigt. Zunächst wird dabei an die Auswirkungen der Erkrankung auf die Angehörigen gedacht; diese sollen bei Bedarf Beratung und Unterstützung erhalten. Des weiteren soll der Kontakt zwischen Angehörigen und dementiell Erkrankten gefördert werden, und Angehörige sollen als ehrenamtliche Mitarbeiter bzw. Co-Therapeuten mit in die Milieutherapie einbezogen werden. Abgesehen davon, daß m.E. sicherlich Sinn und Möglichkeiten für eine solche Beteiligung individuell vor dem Hintergrund der jeweiligen Beziehungen abzuschätzen sind, wird hierdurch richtungsweisend eine Öffnung der Institutionen angestrebt. 
 In die Betrachtung miteinbezogen werden schließlich auch die ‘geistig rüstigen’ Mitbewohner dementiell erkrankter alter Menschen in Altenheimen. So wird teilweise eine Segregation von Menschen mit dementieller Erkrankung in speziellen Wohngruppen als grundlegend für die Entwicklung eines therapeutischen Milieus erachtet. Dies wird sowohl mit den Bedürfnissen der dementiell Erkrankten als auch der geistig Gesunden gerechtfertigt. Ein integratives Wohnkonzept wird als zu Einbußen hinsichtlich der Lebensqualität auf beiden Seiten führend abgelehnt. Die ‘geistig Rüstigen’ leiden - so wird betont - im Falle einer Integration unter einer Unterstimulierung und auch dem Zwang zur Auseinandersetzung mit Auffälligkeiten der dementiell Erkrankten; diese wiederum würden in einer integrativen Station überfordert. 
 Diese geforderte Segregation bedarf m.E. einer kritischen Reflexion. Mit Dierbach kann festgestellt werden, daß manches an diesen Überlegungen berechtigt ist . So kann es für geistig gesunde alte Menschen schwer zu ertragen sein, mit den möglichen eigenen Behinderungen der Zukunft ständig konfrontiert zu werden. Bruder weist zudem darauf hin, daß es „unrealistisch [ist], von geistig gesunden Pflegebedürftigen eine Solidaritäts- bzw. Anpassungsleistung zu erwarten, zu der sie in ihrem gesamten früheren Leben in der Regel nicht gezwungen und auch nicht bereit waren“ . Vor dem Hintergrund der Ängste nicht-dementer Mitbewohner, auch ‘so zu werden’, bzw. der Probleme, sich mit Unruhe, Desorientiertheit und anderen als problematisch erlebten Verhaltensweisen dementiell Erkrankter auseinandersetzen zu müssen, kann ein integratives Wohnkonzept in Frage gestellt werden. Aber auch im Hinblick auf die selbst von der Demenz Betroffenen erscheint ein besonderer therapeutischer Rahmen insofern sinnvoll, als hier die Gefahr einer Überforderung weniger gegeben ist und eine spezifische Begleitung dieser Menschen ermöglicht werden kann. Auch scheinen sich - wie Kortus anführt - Menschen mit gleichartigen Krankheitsbildern besser zu verstehen . Allerdings sind auch Gegenargumente zu berücksichtigen. Gefahren einer ‘Demenzstation’ liegen beispielsweise dort - dies zeigen insbesondere Erfahrungen aus der stationären Gerontopsychiatrie -, wo sie zur ‘Abschiebestation’ sowohl für als ‘störend’ und ‘aufwendig’ in Betreuung und Pflege erlebte Menschen mit dementieller Erkrankung als auch für unliebsame oder unqualifizierte Mitarbeiter wird. Des weiteren kann die Gefahr einer Überlastung „gutwilliger, aber ungeeigneter Mitarbeiter mit ungezügeltem ‘Helfersyndrom’ (...) oft auf solchen Stationen beobachtet [werden]“ . Zudem kann mit Dierbach gefragt werden: „Aber wo ist die Grenze zu setzen, wann jemand um der anderen willen aus der gewohnten Umgebung zu entfernen ist? Denn nicht alle sind bereits bei Einzug in ein Pflegeheim hochgradig dement oder bleiben vom Tag der Aufnahme an geistig gesund. Welche psychologische Rückwirkung würde es auf die geistig Gesunden haben, wenn die Betreuung Dementer hinter ‘verschlossenen’ Türen stattfände? Welche Schwellenängste würden hier produziert?“ . 
 Vor dem skizzierten Hintergrund erscheint m.E. ein teilintegratives Konzept sinnvoll, das ausgehend von einer spezifischen Tagesbetreuung für dementiell erkrankte alte Menschen auch ein gemeinsames Leben aller Bewohner vorsieht. Auch Dierbach erklärt: „Uns scheint eine offene, einsehbare, intensive Tagesbetreuung der Dementen (...) die bessere Alternative. Eine solche Tagesbetreuung sorgt dafür, daß Verwirrte nicht mehr hilflos herumirren und ihre Mitbewohner über Gebühr stören. Gleichzeitig kann jeder heute noch geistig Gesunde sehen, wie in seinem Heim Menschen begleitet werden, die dement geworden sind. Das muß nicht nur Angst vor der Erkrankung machen, sondern kann auch ein Gefühl der Sicherheit und des Vertrauens schaffen“ . 

 Ganzheitlichkeit meint, wie weiter oben ausgeführt, noch mehr als die Berücksichtigung des Kontextes und der Biographie. Gefordert ist zudem eine ganzheitliche Sichtweise im Sinne einer gleichzeitigen Berücksichtigung von sowohl Beeinträchtigungen als auch Kompetenzen. Die Milieutherapie bezieht sich z.T. auf den Ansatz von Lawton und nimmt an, daß die von ihm postulierte abnehmende Umweltkompetenz alter Menschen insbesondere auf Personen mit einer dementiellen Erkrankung zutrifft. Ausgangspunkt von Milieutherapie ist damit - zumindest teilweise - zunächst einmal primär eine defizitäre Sichtweise von Menschen mit dementieller Erkrankung. Es wird davon ausgegangen, daß mit einer Demenz mehr oder minder schwere Beeinträchtigungen verbunden sind, die es erforderlich machen, die Umwelt entsprechend anzupassen. 
 Allerdings werden auch mögliche Kompetenzen der Betroffenen angesprochen. Hervorgehoben wird u.a. die (lange) erhaltene emotionale Ansprechbarkeit von Menschen mit dementieller Erkrankung, dann die oft noch lange vorhandenen Handlungsroutinen wie beispielsweise Aktivitäten des alltäglichen Lebens oder je individuelle tief verankerte Gewohnheiten und Vorlieben wie z.B. Hobbys. Diese fortbestehenden Kompetenzen werden als Anknüpfungspunkte für Aktivierungsangebote im Rahmen der Tagesstrukturierung verstanden. Kompetenzen sollen gefördert und (re)aktivert werden, um dementiell Erkrankten auf diese Weise zu Gefühlen der Bestätigung, der Anerkennung und des Selbstwerts zu verhelfen. Betont wird die Bedeutung von vom einzelnen wirklich sinnvoll erlebten Tätigkeiten. Milieutherapie liefert damit einen Ansatz, den - wie Bruder formuliert - „Circulus vitiosus der Demenz aus Hirnleistungseinschränkung, geschwächtem Planungs- und Entscheidungsvermögen, Inaktivität und Mangel an Selbsterfahrung“  zu durch-brechen. 

 Selbstbestimmung und Partizipation der Adressaten - als entscheidendes Prinzip sozialer Altenarbeit - müssen auch in der therapeutischen Begleitung dementiell erkrankter Menschen Leitlinie des Handelns sein. Im Rahmen von Milieutherapie wird dieser Forderung insofern gerecht zu werden versucht, als Partnerschaftlichkeit in der Beziehung zwischen Mitarbeiter und dem dementiell erkrankten alten Menschen und Respekt ihm gegenüber als grundlegende Haltung formuliert werden. Ziel von Milieutherapie ist darüber hinaus, in einer als möglichst sicher zu gestaltenden Umwelt dem Betroffenen ein möglichst hohes Maß an Autonomie, d.h. selbständiger Lebensführung zu ermöglichen. Damit wird Raum gegeben für selbstbestimmtes Handeln dementiell erkrankter alter Menschen. So soll beispielsweise durch entsprechende architektonische Gestaltung Spielraum gegeben werden für Bewegung, die nach Wächtler et al. für viele dementiell Erkrankte eine der wenigen Tätigkeiten darstellt, die selbständig und aus eigenem Antrieb ausgeführt werden können. Des weiteren sollen Anregungen zur selbstbestimmten Eigenbeschäftigung gegeben werden. Hinsichtlich angeleiteter Aktivitäten wird die freiwillige Teilnahme der dementiell erkrankten alten Menschen betont; Zwangs- und Pflichtprogramme werden abgelehnt. Diese grundsätzlich als positiv zu bewertenden Ansprüche und Zielvorstellungen der Milieutherapie bedürfen m.E. einer genaueren Betrachtung. 
 Im Rahmen von Milieutherapie wird versucht, die Selbst- und Mitbestimmung der Betroffenen - d.h. ihren Willen - zu respektieren und in der therapeutischen Arbeit zu berücksichtigen. Was aber heißt, den Willen eines Menschen zu respektieren, der in seiner Willens- und Entscheidungsfähigkeit beeinträchtigt ist? Darauf wird in der betrachteten Literatur zur Milieutherapie nicht näher eingegangen. Wie Bruder ausführt, taucht hier „das Problem des angemessenen Umgangs mit Widerständen des alten Menschen gegen Aktivierungsbemühungen bzw. das Problem der Willens- und Entscheidungsfähigkeit bei seniler Demenz“  auf. Der ‘natürliche’ Wille eines dementiell erkrankten alten Menschen mit starken geistigen Einbußen und mangelndem Antrieb stellt sich oft als bloße Ablehnung therapeutischer Angebote dar. Die Kraft, eigene innere Widerstände gegen an sich als notwendig erkannte Tätigkeiten zu überwinden, kann beeinträchtigt sein. Auch kann hier eine Rolle spielen, daß der Betreffende nicht mehr in der Lage ist, Situationen im voraus einzuschätzen, d.h. zu ermessen, was auf ihn zukommen mag, und daraufhin Angebote abzulehnen oder ihnen zuzustimmen. Bloße Aufforderungen oder Fragen können vor diesem Hintergrund als unzureichend betrachtet werden. „Oft verbirgt sich hinter einer scheinbaren Haltung von Respekt nämlich nur Bequemlichkeit“ . Hier kann die Frage weiterhelfen, was der jeweilige Betroffene früher - mit noch erhaltener Willenskraft und der Fähigkeit vernünftig abzuwägen - von sich selbst erwartet hätte. Als entscheidend kann zudem gelten, den dementiell erkrankten alten Menschen zu den entsprechenden Tätigkeiten, die er (zunächst) abwehrt, weiter zu motivieren versuchen. Läßt sich der Betreffende zu einer Teilnahme ‘überzeugen’, kann dann in der jeweiligen konkreten Situation seine Reaktion beobachtet und sein Wohlbefinden eingeschätzt werden. Eine solche Motivierung kann dabei aufgrund der kognitiven Einbußen immer wieder von neuem erforderlich sein. Bruder weist jedoch darauf hin, daß - insbesondere bei Gruppenaktivitäten - aus Fremdantrieb auch Eigenantrieb werden kann. „Anstöße von außen, die zunächst abwehrend oder nur widerwillig befolgt werden, können nach einiger Zeit verinnerlicht werden und zum eigenen Antrieb werden, bis sie schließlich aus sich selbst heraus auch bei antriebsgeschwächten Demenzkranken noch eine zeitlang fortleben“ . 
 Festzuhalten bleibt m.E., daß die therapeutische Aktivierung dementiell Erkrankter sich immer auf einer Gratwanderung zwischen Selbst- und Fremdbestimmung befindet. Letzten Endes muß sie trotz der bestehenden Schwierigkeiten aufgrund der kognitiven Einbußen wirklich ein Angebot bleiben, dem Betroffene sich auch entziehen dürfen. Die Notwendigkeit der Reflexion einer motivierenden bzw. ‘nachdrücklichen Aktivierung’ ist dabei zu betonen. Angesichts der großen Vulnerabilität von Menschen mit dementieller Erkrankung gilt es Entscheidungen immer wieder im Hinblick auf die Selbstbestimmung kritisch zu überprüfen. 

 Als ebenso schwierig stellt sich die Gratwanderung milieutherapeutischen Vorgehens zwischen Sicherheit und Autonomie dar. Zielvorstellung der Milieutherapie ist, in einem Sicherheit gebenden Rahmen dementiell erkrankten alten Menschen ein möglichst selbständiges, unabhängiges und damit auch selbstbestimmtes Leben zu ermöglichen. Wie Wahl (in einem allgemeineren Zusammenhang) formuliert, ist die „überzeugende Herstellung einer guten Mischung von Sicherheit und Autonomie im Sinne eines ‘Soviel Sicherheit wie nötig, soviel Autonomie wie möglich’ (...) kein leichtes Unterfangen und vor allem eine Aufgabe, die immer wieder neu hergestellt und bearbeitet werden muß“ . Gerade bei Menschen mit dementieller Erkrankung besteht die Gefahr einer Überbetonung des Sicherheitsdenkens. Milieutherapeutisches Vorgehen muß sich dessen bewußt sein, und darauf bedacht sein, das Bemühen um die (oft körperliche) Sicherheit nicht in eine die Selbständigkeit und Selbstbestimmung einschränkende Überwachung umschlagen zu lassen. Das heißt auch, Risiken zu akzeptieren und einzugehen. Bruder führt hierzu aus: „Überall dort, wo einem dement eingeschränktem alten Menschen noch gewisse eigene Erlebens- und Aktivitätsspielräume bewahrt werden (etwa selbständige Spaziergänge außerhalb des Hauses), ist klar zu sehen, daß dies mit einem gewissen Risiko verbunden ist, welches sicher über dem durchschnittlichen Lebensrisiko geistig uneingeschränkter Menschen liegt. Die beruhigende Sicherheit kustodialer Versorgung läßt sich nicht zugleich mit dem schönen Gefühl des Gewährenlassens genießen“ . 

 Hervorzuheben ist schließlich, daß Milieutherapie in wünschenswerter Weise eine Verbesserung des ganzen Milieus, und damit der gesamten Lebenssituation dementiell erkrankter alter Menschen in Institutionen anstrebt. Objektive Bedingungen sollen positiv verändert werden: so sollen beispielsweise der Alltag in der Institution ‘normalisiert’, soziale Interaktionen zwischen den Bewohnern untereinander, zwischen den dementiell erkrankten Menschen und dem Personal bzw. auch den Angehörigen gefördert und die Umwelt kompensierend gestaltet werden. Durch eine solche Optimierung der Lebensbedingungen sollen sich die Betroffenen möglichst wohl, zufrieden und sicher fühlen und als kompetent erleben können. Damit orientiert sich Milieutherapie in wünschenswerter Weise an der umfassenden Zielvorstellung der Lebensqualität. 

 In der Praxis scheinen sich milieutherapeutische Interventionen zu bewähren. So liegen beispielsweise Erfahrungen aus einer psychiatrischen Klinik vor, nach denen ein therapeutisches Vorgehen, das zumindest Teile der hier beschriebenen Milieutherapie beinhaltet (konstante Bezugspersonen und eine Tagesstrukturierung), verschiedene positive Resultate zeigt . So wird eine Entängstigung dementiell erkrankter Menschen beschrieben, durch die eine Reduktion von Psychopharmaka von bis zu 80 % erreicht werden kann. Durch diese beiden Erfolge verbessern sich zudem in der Regel auch die kognitiven Fähigkeiten der Betroffenen. Zudem wird eine gesteigerte Motivation zum Leben beobachtet, die vor allem auf eine vermehrt erfahrene Bestätigung, Anerkennung und subjektiv erlebte eigene Kompetenz zurückgeführt wird. Des weiteren wird betont, daß Beobachtungen den Schluß zulassen, das Fortschreiten der Erkrankung könne verlangsamt werden. Nicht zuletzt wird auch die verstärkte Motivation des Personals hervorgehoben. 
 Eine empirische Evaluation umfassenden milieutherapeutischen Vorgehens, wie es im Rahmen dieser Arbeit dargestellt wurde, liegt bislang aber nicht vor. „This may be in part because of the difficulties inherent in examining such complex, interrelated issues“ . Hingegen beziehen sich einige empirische Überprüfungen auf spezielle Züge und Elemente milieutherapeutischer Veränderungen: so auf die Stimulierung dementiell erkrankter alter Menschen (durch z.B. Kinder, Haustiere, Musik), auf einzelne dinglich-räumliche Veränderungen und auf Modifikationen in der sozialen Umgebung. Diese Studien belegen verschiedene positive Auswirkungen. Im folgenden sollen einige Ergebnisse vorgestellt werden. 
 Studien bezüglich einer Stimulation durch die Umwelt demonstrieren positive Reaktionen dementiell erkrankter alter Menschen auf Musik - wie beispielsweise eine Steigerung der Stimmung, des Wohlbefindens und der Interaktion . Diese Ergebnisse konnten dabei - wenn auch bei Untersuchungen mit nur geringer Teilnehmerzahl - auch bei schweren Formen von Demenz beobachtet werden. Neben der Wirkung von Musik wurde ebenso verschiedentlich die stimulative Bedeutung von Haustieren auf dementiell Erkrankte evaluiert. Diesbezüglich stellten beispielsweise Elliot und Milne in ihrer Studie von 1991 und Haughie et al. in ihrer Untersuchung von 1992 fest, daß die Anwesenheit eines Hundes in einer psychiatrischen Einrichtung u.a. eine Zunahme von Interaktion mit sich bringt. 
 Untersuchungen zur Gestaltung der dinglich-räumlichen Umgebung beschäftigen sich bislang zum einen oft mit interaktionsfördernden Merkmalen in Institutionen . „Most attention over the years in empirical studies has been given to arranging the environment in such way as to encourage social interaction: arranging furniture to make communication easier, in small groups around coffee tables rather than around the walls of a large dayroom“ . So führen normalisierte soziale Situationen während der Mahlzeiten, wie z.B. die Studie von Davies und Snaith belegt, zu vermehrter Kommunikation und zur gegenseitigen Hilfe unter den Bewohnern. 
 Ein weiterer Schwerpunkt liegt auf Untersuchungen zur Schaffung von Sicherheit für dementiell erkrankte alte Menschen in Institutionen, womit vor allem die Verhinderung eines unbeaufsichtigten Verlassens der Einrichtung gemeint ist . Mayer und Darby beispielsweise ließen einen mannshohen Spiegel am Ausgang einer Station postieren, und Hussian und Brown brachten am Ausgang auf dem Boden ein Streifenmuster an, daß dementiell Erkrankten als nicht zum Betreten einladender Gitterrost erscheinen sollte. Infolge beider Interventionen reduzierte sich die Frequenz des ‘Weglaufens’. Anhand dieser Studien wird einerseits die Einfachheit solcher ‘Lösungen’ deutlich, andererseits aber auch vor allem die Gefahr der Instrumentalisierung von Umgebungsfaktoren, wenn auch Holden und Woods betonen, daß Diskussionen bezüglich der ethischen Vertretbarkeit solcher und ähnlicher Interventionen „must include the right to be in a safe environment“ . 
 Studien zu Modifikationen in der sozialen Umgebung dementiell erkrankter alter Menschen, d.h. bezüglich der Mitarbeiter von Institutionen, deuten zunächst einmal darauf hin, daß Veränderungen von Einstellungen des Personals schwierig herbeizuführen  sein können . „It can be difficult for staff to accept patients given more control and choices and being allowed to be more independent. So often old pattern of care reemerges. (...) Staff attitudes can be extremely resistant to change, and sources of reinforcement may be complex and subtle“ . Dies wird auch durch praktische Erfahrungen von Wächtler et al. bestätigt . Sie beschreiben bezüglich ihrer Bemühungen um die Umsetzung eines milieutherapeutischen Konzepts in einer gerontopsychiatrischen Station einer Klinik eine starke Abwehrhaltung und massive Widerstände des Pflegepersonals hinsichtlich einer solchen Neuerung. Um so wichtiger erscheinen vor diesem Hintergrund die sorgfältige Aus- und Fortbildung und langfristige, dauerhafte Begleitung und Supervision der Mitarbeiter. 
 Verschiedene Studien liegen zu Veränderungen hinsichtlich des Umgangs mit dementiell Erkrankten vor . Zwei Untersuchungen aus Großbritannien z.B. beschäftigten sich mit der Evaluation der sogenannten ‘Domus-Philosophie’. Hierbei wird die Betonung auf die Bewahrung der Unabhängigkeit der Betroffenen und auf die Förderung und den Erhalt ihrer Kompetenzen gelegt. Die dementiell Erkrankten sollen eine aktive Rolle in der Einrichtung spielen. Dabei wird davon ausgegangen, daß die Institution das Zuhause der Betroffenen darstellt. Das Wohlbefinden der Mitarbeiter wird des weiteren als ebenso wichtig wie das der dementiell erkrankten alten Menschen betrachtet. Die emotionalen und psychischen Bedürfnisse der Bewohner werden zudem als wichtiger eingeschätzt als physische Aspekte der Betreuung. In der Untersuchung von Lindesay et al. im Jahr 1991 zeigten sich im Vergleich zu zwei typischen psychogeriatrischen Langzeiteinrichtungen mit vergleichbaren Bewohnern hinsichtlich kognitiver Einbußen, Alter und Dauer ihrer Institutionalisierung bei den Bewohnern der ‘domus units’ geringere Beeinträchtigungen in der Selbstversorgung und in kommunikativen Fähigkeiten und eine verbesserte Orientierung. Auch ließen sich eine gesteigerte Aktivität und eine vermehrte Interaktion zwischen den dementiell Erkrankten und dem Personal beobachten. Die Mitarbeiter zeigten nicht zuletzt eine höhere Arbeitszufriedenheit. Eine andere Untersuchung  von Dean et al. aus dem Jahr 1993 stützt diese positiven Ergebnisse. Menschen mit dementieller Erkrankung, die zunächst in einer üblichen Langzeiteinrichtung lebten und dann in eine solche ‘domus unit’ einzogen, wiesen ebensolche Verbesserungen auf. Zusätzlich wurden positive Entwicklungen in kognitiven Fähigkeiten und eine qualitative Veränderung hinsichtlich der Interaktionen zwischen Personal und Bewohnern festgestellt. Auch einzelne sehr drastische Erfolge wurden berichtet: „Some dramatic changes were observed; one patient spoke for the first time in 5 years within a week of moving to the domus“ . 
Ein Beispiel für positive Wirkungen von Veränderungen sowohl in der sozialen als auch in der dinglichen Umwelt stellt die schwedische Studie von Brane et al. dar . Das Personal einer Klinik wurde in bezug auf die Implementierung einer individualisierten Betreuung trainiert und unterstützt. Die dementiell Erkrankten sollten ermutigt werden, vermehrt Entscheidungen zu treffen und an Aktivitäten teilzuhaben, und es wurde ihnen mehr Zeit dafür zugestanden - „so that they could go at their own pace“ . Modifikationen der räumlichen Umwelt bezogen sich auf eine stärker häusliche und auch persönliche Gestaltung. Im Vergleich zu einer anderen Klinik brachte eine dreimonatige Interventionsperiode folgende Ergebnisse: Die den beschriebenen Veränderungen ausgesetzten Menschen mit dementieller Erkrankung waren weniger verwirrt, ängstlich und unruhig. Die Stimmung war verbessert, und auch in motorischen Fähigkeiten ließen sich positive Veränderungen erkennen. Einer wiederholten Erhebung nach einem halben Jahr zufolge blieben diese Auswirkungen erhalten. 
 Damit - so läßt sich festhalten - deuten bislang vorliegende evaluative Studien auf durchaus positiv zu bewertende Wirkungen mehr oder minder umfangreicher Modifikationen in der Umwelt. 
 Abschließend soll allerdings nicht unerwähnt bleiben - wie Gutzmann beschreibt -, welche „Probleme es bereiten kann, an verschiedenen ‘Fronten’ gleichzeitig Veränderungen durchzuführen“ , wie eine von Wimo et al. durchgeführte Untersuchung an zwei Gruppen dementiell erkrankter alter Menschen auf zwei gerontopsychiatrischen Stationen demonstriert. Auf einer Abteilung wurde neben einer gewandelten ‘Pflegephilosophie’ ein Selbständigkeitstraining durchgeführt und auch die dingliche Umgebung verändert. Nach zehn Monaten wurde die Experimentalgruppe mit der Gruppe der unverändert gebliebenen Station verglichen. In keinem der erhobenen Parameter fand sich eine Verbesserung der Experimental- gegenüber der Kontrollgruppe. Vielmehr zeigte sich sogar eine Abnahme der Orientierungsfähigkeit der Interventionsgruppe und eine Zunahme ihrer Unruhe. „Die Befunde erinnern nachhaltig daran, daß man sich stets der extrem geringen ‘therapeutischen Breite’ jeglicher Interventionen bei Dementen bewußt sein muß“ . Empfehlenswert können demnach nicht gravierende Milieuveränderungen ‘von heute auf morgen’ sein. Vielmehr ist der Zeitrahmen sehr großzügig zu wählen, um die verringerte Umweltkompetenz dementiell erkrankter alter Menschen nicht zu überfordern. 

 Im Realitätsorientierungstraining (ROT), auf das im folgenden nur vergleichsweise kurz eingegangen werden soll, werden vor allem Aktivierung und Stimulierung und eine positive Erwartungshaltung betont. Es wird gleichzeitig von (kognitiven) Defiziten und diesbezüglichen Kompetenzen und Potentialen ausgegangen, die es zu fördern bzw. auszuschöpfen gilt. Dies ist sicherlich auch vor dem Hintergrund der historischen Entwicklung des ROT zu verstehen. Folsom hatte ursprünglich insbesondere alte Menschen mit einer (reversiblen) psychosozial, durch Institutionaliserung bedingten ‘Verwirrtheit’ im Blick; später dann wurden als Zielgruppe dieses Ansatzes Personen mit Orientierungs- und Gedächtnisproblemen gleich welcher Genese formuliert. Damit erscheint das ROT ebenfalls für dementiell Erkrankte sinnvoll. In wünschenswerter Weise werden so auch die Entwicklungsmöglichkeiten dieses Personenkreises hervorgehoben. Es gilt jedoch dabei immer die für viele dementielle Erkrankungen bestehende Irreversibilität bzw. sogar ihr progressives Fortschreiten und hierdurch gegebene Grenzen zu beachten, um diese Menschen nicht zu überfordern. Die Erwartungen an die zu erreichenden Veränderungen sind deshalb nicht zu hoch anzusetzen. Dies wird m.E. im Rahmen des ROT - zumindest theoretisch - auch berücksichtigt. So erklärt Stuhlmann: „Es ist bereits als Erfolg zu werten, wenn keine Verschlechterung auftritt bzw. das Fortschreiten der Erkrankung verzögert werden kann. Generell geht es also um Veränderungen, die positiver ausfallen als unter Verzicht auf ROT“ . Dabei wird die Bezugnahme auf die je individuellen Fähigkeiten und Einbußen des einzelnen unterstrichen, indem beispielsweise Fragen so gestellt werden, daß der jeweiligen Person eine Antwort möglich ist. „Das Ausmaß der erforderlichen Hilfen hängt vom jeweiligen Patienten ab“ . Defizite sollen mit Rücksicht auf Selbstwert und Würde des dementiell Erkrankten nicht vorgeführt werden. Damit, so wird hier deutlich, bezieht sich das ROT nicht nur auf den kognitiven Status des Betroffenen, sondern auf den dementiell erkrankten Menschen. 

 Als durchaus positiv zu bewerten ist des weiteren die ganzheitliche Perspektive durch Einbeziehen des Milieus und die Berücksichtigung von Persönlichkeit und Biographie des einzelnen. Die Kenntnis von z.B. wichtigen biographischen Ereignissen, Vorlieben und Abneigungen wird betont. Vergangenheit und Erinnerungen des einzelnen dienen als Anknüpfungspunkt für den Bezug zur gegenwärtigen Realität. Konstitutiv für das ROT ist, daß dem sozialen Umfeld und der räumlich-dinglichen Umgebung eine große Bedeutung zukommen. Dabei wird als grundlegende Voraussetzung die Notwendigkeit von Supervision und Fortbildung der Mitarbeiter hervorgehoben. Allerdings werden weitergehende Arbeitsbedingungen nicht genannt, und auch die Angehörigen bleiben in der betrachteten Literatur unerwähnt. 

 Dem wesentlichen Prinzip der Selbstbestimmung der Adressaten wird das ROT insofern gerecht, als durch eine entsprechende kompensatorisch und reorientierend ausgerichtete Umwelt dem dementiell erkrankten alten Menschen ein möglichst hohes Maß an Autonomie ermöglicht werden soll. Diese so geförderte Unabhängigkeit soll den Rahmen für selbstbestimmtes Handeln der Betroffenen bieten. Selbstbestimmung wird indes nicht weiter thematisiert. Unklar ist auch, inwiefern die Teilnahme an den formellen Gruppenstunden freiwillig ist. Während Stuhlmann in seiner Darstellung des ROT als grundlegend ausführt: „Zwei weitere bedeutsame Aspekte (...) liegen darin, den alten Menschen Wahlmöglichkeiten zu bieten und soviel Selbständigkeit wie möglich zuzulassen. Unter Umständen müssen sie dazu ermutigt werden, ihre Wahl zu treffen, besonders wenn eine gewisse Apathie besteht. Bei der Unabhängigkeit gilt dasselbe wie bei der Wahlfreiheit. Selbständigkeit - soweit möglich - auch in kleinen Bereichen ist wichtig für den Selbstwert und stärkt das Selbstvertrauen“ . Schütte hingegen bezweifelt diese Wahlfreiheit und geht davon aus, daß der wesentliche Grundsatz therapeutischer Arbeit, „nämlich die freiwillige Teilnahme der Klienten“  im ROT nicht berücksichtigt wird. 

 Hier deuten sich Schwierigkeiten einer Betrachtung des Realitätsorientierungstrainings an: viele problematische und in der Literatur häufig kritisierte Aspekte des ROT ergeben sich m.E. vor allem aus einer nur beschränkten Umsetzung dieses eigentlich umfassenden milieutherapeutischen Konzeptes und aus einer inadäquaten Anwendung. Dies spielt sicherlich eine wesentliche Rolle dabei, daß das ROT einen sehr umstrittenen Ansatz in der Arbeit mit dementiell erkrankten alten Menschen darstellt. 
 So ist für das eigentliche oder ursprüngliche ROT die Einbeziehung des Kontextes konstitutiv. Der Lebensbereich der dementiell erkrankten alten Menschen soll ihren Orientierungs- und Gedächtniseinbußen entsprechend gestaltet werden. Eine nicht selten vorkommende Implementierung lediglich des formellen ROT, d.h. der Gruppensitzungen, bringt dementsprechend problematische Verkürzungen im Hinblick auf die eigentlich angestrebte Zielsetzung einer Optimierung der Lebensbedingungen mit sich. 
 Darüber hinaus kann ROT in der Praxis - in der Regel unbeabsichtigt - unflexibel, gedankenlos und mechanisch angewendet werden . Ursachen hierfür können in Mißverständnissen, Einstellungen der anwendenden Personen oder auch ihrer ungenügenden bzw. unqualifizierten Aus- oder Fortbildung liegen. In der Literatur wird beispielsweise beschrieben, wie die Realitätsorientierungstafel und reines, ‘schulmäßiges’ Wiederholen orientierender Informationen die Gruppenstunden in negativer Weise dominieren kann, so daß keine echte Interaktion und Kommunikation zustande kommt und Bedürfnisse und Interessen der Teilnehmer unbeachtet bleiben. Auch der Respekt gegenüber den dementiell erkrankten alten Menschen kann aus den Augen verloren werden, wenn es zu erniedrigenden oder entwürdigenden Aufgabenstellungen und Verhaltensweisen der ‘Therapeuten’ kommt. Ebenso kann die subjektive Perspektive der Betroffenen unberücksichtigt bleiben, wenn das ROT nicht einfühlsam angewendet wird. Ein prinzipielles Insistieren auf der gegenwärtigen Realität ruft so möglicherweise ernste emotionale Reaktionen bei dementiell Erkrankten hervor, vor allem wenn es sich um sensible Bereiche handelt. Zu diesbezüglichen Mißverständnissen über die Umsetzung von ROT tragen - zumindest hier in Deutschland - auch für Demonstrationszwecke erstellte Videos bei, die - so Marr - „wenig einfühlsame, konfrontative und fast brutal wirkende Verhaltensweisen von ‘Therapeutinnen’“  zeigen. So wird beispielsweise ein dementiell erkrankter alter Mann mit seinem Spiegelbild konfrontiert und bezüglich seines derzeitigen Alters ‘reorientiert’. Trotzdem der Mann sich nicht erkennt und auch nicht glauben kann, daß er mittlerweile so alt geworden ist, beharrt die ‘Therapeutin’ darauf, bis der Betreffende schließlich zu weinen beginnt. 
 Wenn in der konkreten Umsetzung versäumt wird, dementiell erkrankte Personen als Menschen in ihrer Ganzheit auch mit emotionalen Bedürfnissen zu sehen und eine warme, einfühlsame und respektvolle Grundhaltung zu verwirklichen, treten solche Mißanwendungen von ROT auf. 
 Falsch verstandenes und praktiziertes ROT kann so auch zu negativen Auswirkungen auf das Wohlbefinden führen und damit die im Rahmen des Konzepts in positiver Weise formulierte Zielsetzung einer durch die Verbesserung der Umwelt angestrebte Förderung der subjektiven Lebensqualität  konterkarieren. So berichten beispielsweise sowohl Mac Donald und Settin als auch Baines et al. von einer geringeren Lebenszufriedenheit der Teilnehmer von ROT-Gruppen im Vergleich zu Teilnehmern anderer Gruppenangebote wie z.B. Reminiszenz-gruppen. Diese Ergebnisse müssen nicht unbedingt auf den zweifelhaften Wert des ROT an sich hinweisen, sondern können damit in Zusammenhang stehen, daß den dementiell erkrankten Gruppenteilnehmern ihre Defizite vor Augen geführt wurden, ohne diesbezügliche Auswirkungen auf ihre psychische Situation zu bedenken, oder daß sie über- oder aber auch unterfordert wurden. 

 Auch die Aussagekraft empirischer Evaluationsstudien wird durch die z.T. sehr unterschied-liche konkrete Umsetzung des ROT beeinträchtigt. Hinzu kommt, daß kaum Daten zum ursprünglichen Kern, dem 24-Stunden-ROT vorliegen, und viele Daten sich lediglich auf kognitive Variablen beschränken. Weitere Probleme ergeben sich durch eine erhebliche inhaltliche und methodische Heterogenität der vorliegenden Untersuchungen . Eine zusammenfassende Betrachtung läßt bislang lediglich folgendes erkennen : Als verhältnismäßig gesichert kann die Effektivität des ROT auf eine verbesserte verbale Orientierung gelten, d.h. auf die Fähigkeit dementiell Erkrankter, realitätsgerechte Auskünfte über Person, Zeit und Ort zu geben. Hinsichtlich weiterer kognitiver Veränderungen existieren uneinheitliche Aussagen. Auch in bezug auf generelle Verhaltensänderungen liegen differierende Hinweise vor. Ebenso ist noch ungeklärt, welche Personenkreise, d.h. mit welchen Ausmaßen von Beeinträchtigungen, vom ROT profitieren. Interessant erscheinen Studien, die darauf hindeuten, daß vor allem das 24-Stunden-ROT sich positiv auf generelle Veränderungen hinsichtlich Kommunikation, Verhalten und kognitive Parameter auswirkt. Wird das 24-Stunden-ROT vermehrt auf die konkrete Lebenssituation in der Institution zugeschnitten, zeigen sich zudem Verbesserungen der Orientierung in der Einrichtung bzw. auf der Station. Damit liegen Hinweise vor, die für eine alltägliche Relevanz des ROT auf das Leben der Betroffenen sprechen. 

2. 4  Resümee

 Die Darstellung von Validation und Milieutherapie einschließlich des Realitätsorientierungstrainings zeigt, - trotz übereinstimmender grundlegender Haltungen des Respekts und der Empathie - sehr verschiedenartige nichtmedikamentöse therapeutische Ansätze in der Arbeit mit dementiell erkrankten alten Menschen. 

 Anhand der bislang vorliegenden Evaluationsstudien läßt sich die Qualität dieser therapeutischen Verfahren und eine Überlegenheit der einen oder anderen Therapieform nicht abschätzen. Dies hängt damit zusammen, daß solche Untersuchungen bis heute nur spärlich vorliegen (dies gilt insbesondere für die Validation), und sie aufgrund ihrer Heterogenität kaum generelle Aussagen zulassen. Bedeutsam ist ferner, daß evaluative Studien zwar positive Resultate hinsichtlich verschiedener Kompetenzbereiche demonstrieren (so werden z.B. Verbesserungen kognitiver oder kommunikativer Fähigkeiten oder eine vermehrte Orientierung gemessen), m.E. aber berücksichtigen sie zu selten die subjektive Perspektive der Betroffenen selbst. Das Wohlbefinden und die subjektiv erlebte Lebensqualität der dementiell erkrankten alten Menschen werden nur unzureichend zum Maßstab der Bewertung therapeutischer Ansätze gemacht. 

 Die theoretische, kritische Betrachtung dieser Ansätze vor dem Hintergrund eines umfassenden Verständnisses von Demenz und formulierter Prinzipien sozialer Altenarbeit zeigt, daß die Validation vornehmlich insofern als problematisch zu betrachten ist, als sie Milieufaktoren ausblendet und den eigenen Anspruch eines individuellen Zugangs, der sich an den Perspektiven der Betroffenen orientiert, durch ein eindimensionales Verständnis von ‘Desorientierung’ und durch Kategorisierungen und Interpretationen konterkariert. Positiv zu bewerten ist die für die Validation konstitutive Grundhaltung, nach der dem alten Menschen mit seinen Gefühlen mit Akzeptanz, Respekt und Empathie begegnet werden soll. Allerdings wird dies ansatzweise ebenso im Rahmen der Milieutherapie und sogar des Realitätsorientierungstrainings explizit formuliert. Letzteres zeichnet sich insbesondere durch eine positive Erwartungshaltung gegenüber den Kompetenzen und Potentialen dementiell erkrankter alter Menschen aus. Problematische Aspekte ergeben sich hier vorwiegend aus einer verkürzten und inadäquaten praktischen Umsetzung dieses therapeutischen Ansatzes. 

 Die kritische Betrachtung läßt vor allem die Milieutherapie in ihrer allgemeinen Form als geeignetes therapeutisches Verfahren erscheinen. Milieutherapie zeichnet sich in wünschenswerter Weise dadurch aus, daß 
· sie von einem umfassenden Verständnis von Demenz ausgeht, 
· die Individualität des einzelnen Menschen, seine Bedürfnisse und seine Perspektive zu berücksichtigen sucht, 
· sowohl die Biographie der Betroffenen, als auch ihr Umfeld miteinbezieht (hierbei geht sie über das direkte therapeutische Setting hinaus), 
· kompetenzorientiert ist, 
· dementiell erkrankten alten Menschen Unabhängigkeit und Selbstbestimmung zugesteht 
· und eine qualitative Verbesserung der gesamten Lebenssituation der Betroffenen anstrebt. 

Der hier vor allem zu problematisierende Aspekt - die Segregation dementiell erkrankter alter Menschen - ist m.E. nicht konstitutiv für die Milieutherapie. Möglich ist anstelle dessen auch - wie beschrieben - ein teilintegratives Konzept. Damit bietet die Milieutherapie einen positiv zu bewertenden Ansatz für die Begleitung und Unterstützung von Menschen mit dementieller Erkrankung. 

Milieutherapie in der dargestellten Form ist m.E. nicht als alleiniges Nonplusultra in der Arbeit mit dementiell erkrankten alten Menschen zu verstehen. Milieutherapie kann sehr wohl noch von anderen therapeutischen Verfahren profitieren. Sie stellt eine durchaus positiv zu bewertende Basis dar, die durch Elemente anderer Ansätze erweitert und bereichert werden kann. Ein milieutherapeutisches Gesamtkonzept kann so spezifiziert werden durch Komponenten des Realitätsorientierungstrainings, und auch Aspekte der Validation können in die Milieutherapie eingebettet werden. ROT und Validation erscheinen teilweise, was die interpersonelle Beziehungsebene anbelangt, konkreter und können so eine sinnvolle Ergänzung darstellen. Hierbei gilt es aber, die beschriebenen problematischen Aspekte dieser Ansätze zu beachten. Angebracht können hier sicherlich auch andere, im Rahmen dieser Arbeit unberücksichtigt gebliebene, therapeutische Ansätze sein. Zu denken ist diesbezüglich beispielsweise an allgemeine psychotherapeutische Verfahren. Die Entscheidung, in welche Richtung die Milieutherapie auf diese Weise erweitert werden sollte, kann dabei nur im Hinblick einer Orientierung an der jeweiligen Person, deren Perspektive, Bedürfnissen, Kompetenzen und Potentialen, getroffen werden. Wichtig erscheint dabei, vermehrt auch eine prozessuale Perspektive einzunehmen, d.h. Veränderungen im Verlauf der Erkrankung mitzuberücksichtigen. So mögen verschiedene Vorgehensweisen, wie beispielsweise eine realitätsorientierende oder eine validierende, auch in unterschiedlichen Phasen der Demenz indiziert sein. 

Bezüglich aller dargestellten Ansätze ist abschließend anzumerken, daß die Selbstbestimmung als wesentliches Grundprinzip sozialer Altenarbeit im Hinblick auf Menschen mit dementieller Erkrankung zu wenig differenziert angesprochen und diskutiert wird. Eine Reflexion erscheint aber gerade bei diesem Personenkreis vor dem Hintergrund eingeschränkter Willens- und Entscheidungsfähigkeit notwendig. Gefahren der Verobjektivierung, Fremdbestimmung und Einschränkung Betroffener gilt es wahrzunehmen und entgegenzutreten. Dies gilt nicht nur hinsichtlich therapeutischer Interventionen; auch in bezug auf evaluative Studien ist eine solche Thematisierung vorzunehmen. 
 

V. Abschließende Bemerkungen

Der Großteil dementieller Erkrankungen ist bislang medizinisch nicht kausal behandelbar oder wesentlich im Krankheitsverlauf beeinflußbar. Wesentliche Bedeutung in der Arbeit mit dementiell erkrankten alten Menschen haben dementsprechend nichtmedikamentöse therapeutische Ansätze. 

Eine dementielle Erkrankung trifft die davon Betroffenen in ihrem Kern. Vor allem Gedächtnis- und Orientierungsstörungen, aber auch Aphasie, Apraxie, Agnosie und Beeinträchtigungen beim abstrakten Denken und bei der Planung und Ausführung komplexer Verhaltensweisen wirken sich - so konnte verdeutlicht werden - erheblich auf das Erleben und Verhalten dieser Menschen aus und haben bedeutende Folgen für ihr Leben und ihr Selbstverständnis. Eine Demenz bedroht die Identität der Betroffenen. 
Dabei ist ersichtlich geworden, daß dementielle Prozesse interindividuell sehr unterschiedlich ausgestaltet sind. Vor allem Persönlichkeit und Biographie des dementiell erkrankten Menschen aber ebenso die jeweiligen Umgebungsfaktoren spielen hier eine Rolle. Ein solche umfassende und differenzierte Sichtweise muß als unabdingbar für die therapeutische Begleitung der Betroffenen gelten. 

Die therapeutische Unterstützung muß sich - aus der Perspektive sozialer Altenarbeit - primär an der je betroffenen Person orientieren, d.h. an ihren Bedürfnissen, an ihrer Perspektive, an ihren Beeinträchtigungen und auch Kompetenzen. Dabei sind stets das lebensgeschichtliche Gewordensein und das Umfeld mitzuberücksichtigen. Orientierung an der Person heißt des weiteren, die Selbstbestimmung dementiell erkrankter alter Menschen zu respektieren. 

Im Rahmen dieser Arbeit konnte gezeigt werden, daß  - von den betrachteten Ansätzen -  insbesondere die Milieutherapie in ihrer allgemeinen Form vor diesem Hintergrund eine durchaus positiv zu bewertende Möglichkeit der therapeutischen Begleitung darstellt. Milieutherapie kann allerdings noch von Elementen anderer Ansätze wie der Validation oder dem Realitätsorientierungstraining (unter Beachtung der aufgezeigten problematischen  Aspekte),  die auf der interpersonellen Ebene z.T. konkreter erscheinen, profitieren. Auch weitere, hier unberücksichtigt gebliebene therapeutische Verfahren können sicherlich eine sinnvolle Ergänzung der Milieutherapie darstellen. Diese gilt es, ebenso einer kritischen Betrachtung zu unterziehen. 

Zu fragen ist allerdings, inwiefern das Wissen um solche Therapieansätze überhaupt in die Praxis umgesetzt wird. Bislang - so kann konstatiert werden - zeigt sich eine Diskrepanz zwischen potentiellen Therapiemöglichkeiten und der ‘Regelversorgung’ von dementiell erkrankten alten Menschen. Während vor allem in Projekten, Modelleinrichtungen, gerontopsychiatrischen Zentren etc. mittlerweile in wünschenswerter Weise Ansätze umgesetzt werden, sind „psycho- und soziotherapeutische Maßnahmen (...) weit davon entfernt, zum Standardrepertoire von Institutionen zu zählen“ . 
Diesbezügliche Barrieren, die es zu überwinden gilt, stellen beispielsweise eine unzureichende Aus- und Fortbildung der in diesem Bereich Tätigen, zu wenig Personal und damit zusammenhängend im langzeitinstitutionellen Kontext immer noch vorherrschende Pflegeroutinen dar. Auch eine Pflegeversicherung, die primär auf eine eher körperorientierte Pflege ausgerichtet ist und aktivierende Maßnahmen als selbstverständlichen, nicht extra zu entlohnenden Bestandteil von Pflege betrachtet, spielt hier sicherlich eine bedeutende Rolle. Daneben wird des weiteren das Recht alter Menschen auf rehabilitative Leistungen derzeit „in der Versorgungswirklichkeit eher ‘wegdefiniert’“ denn ausgeschöpft . 

Hinsichtlich der in der Realität gegebenen Situation ist des weiteren zu berücksichtigen, daß zwar viele Betroffene insbesondere in späten Stadien oder bei schweren Formen dementieller Erkrankungen in Pflegeinstitutionen leben (ca. 30-50 % ), der Großteil jedoch von Angehörigen gepflegt und betreut wird. Hinsichtlich der ‘Versorgungsrealität’ jener Menschen ist zu fragen, welche Aspekte therapeutischer Ansätze sinnvoll in den häuslichen Kontext übertragen werden können, und inwiefern vorhandene Therapien - in Kombination mit Entlastungsmöglichkeiten für die betreuenden Angehörigen - so auch die Situation dieser dementiell Erkrankten und ihrer Angehörigen verbessern können. Diese Erkenntnisse müßten dann vermehrt den Betroffenen zugänglich gemacht werden. 

Ein weiteres Problem im Hinblick auf die realiter gegebene ‘Versorgung’ dementiell Erkrankter sind die bislang nur unzureichend gegebenen Möglichkeiten einer Diagnosestellung. „In der Praxis sind die Chancen der Betroffenen auf eine fachgerecht stationär oder ambulant erhobene Diagnostik als gering einzuschätzen“ . Ohne eine umfassende Differentialdiagnostik kann aber kein demenzverursachender Prozeß festgestellt werden. Eine möglichst frühe Abklärung erscheint jedoch zum einen sehr bedeutsam in Anbetracht medizinisch beeinflußbarer oder sogar heilbarer sekundärer Demenzen und auch anderer Erkrankungen, die (gute) Chancen einer ‘Wiederherstellung’ aufweisen (zu nennen sind hier vor allem psychische Störungen und akute Verwirrtheitzustände). Eine genaue Differentialdiagnose erscheint ebenso angesichts einer wünschenswerten frühzeitigen und adäquaten Begleitung und Unterstützung von an einer bislang medizinisch nicht therapierbaren Demenz Betroffenen wichtig. Diese Chancen werden bislang in den meisten Fällen versäumt.


Seitenanfang 22.11.1999

 

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