[AlzheimerForum => Übersicht => Texte für medizinische Fachkreise => Epidemiologie, Risiko- und Schutzfaktoren]
Logo: AlzheimerForum
Logo: Schattauer Verlag

Psychobiologie der Alzheimer- Krankheit:
Wirklichkeitskonstruktion und Beziehungsgestaltung

Hartmut Radebold und Klaus Dörner gewidmet

 

Die Veröffentlichung des Auszuges von Prof. Dr. Joachim Bauer aus dem Buch "Integrierte Medizin" wurde uns freundlicherweise vom Schattauer GmbH - Verlag für Medizin und Naturwissenschaften zur Veröffentlichung gestattet.

Für: "Integrierte Medizin"
(Thure von Uexküll, Werner Geigges, Reinhard Plassmann Hrsg)
Schattauer Verlag Stuttgart

 

Joachim Bauer

"... it is in families in which a member
 is excluded from the process of reality
 construction that symptoms of senile
 dementia, or other pathologies, will be
 promoted" (B. G. Hanson, 1989)

Zusammenfassung (Abstract): Vor dem Hintergrund eines biosemiotischen Verständnisses medizinischer Gesundheit und ihrer Störungen entwirft die vorliegende Arbeit ein psychobiologisches Modell der Alzheimer- Krankheit. Aktuelle neuropathologische Befunde zur Synapsenpathologie der Alzheimer- Krankheit werden in Beziehung gesetzt zu neuesten Erkenntnissen zur neuronalen Plastizität. Neuronale Aktivität, die sich als wichtige Voraussetzung für die Integrität synaptischer Strukturen erwiesen hat, hat Interaktionen des Individuums mit seiner Umwelt zur Voraussetzung. Neuronale Aktivität ergibt sich, biosemiotisch verstanden, aus der lebenslang andauernden Notwendigkeit des Individuums, sich aus seiner Umgebung eine biologisch und sozial passende Umwelt zu konstruieren. Es werden Ergebnisse von biografischen Studien bei Alzheimer- Patienten dargestellt, die zeigen, dass später an Alzheimer erkrankte Personen sich aus der Konstruktion von Umwelt zurückziehen. Dies wird anhand einer Kasuistik veranschaulicht. Aus den hier präsentierten Daten ergeben sich Hinweise auf einen Zusammenhang zwischen biografischer Entwicklung, Beziehungsgestaltung, neuronaler Aktivität, Schädigung synaptischer Strukturen und Krankheitsentstehung.

Klinik und Neuropathologie der Demenzerkrankungen

Jenseits des 40. Lebensjahres auftretende, im Sinne eines Krankheitsprozesses einsetzende Beeinträchtigungen der abstrakten Denkfähigkeit und des Erinnerungsvermögens werden, wenn sie anhaltend und ausgeprägt sind, so dass sie den Betroffenen bei seinen sozialen Kontakten und beruflichen Aufgaben beeinträchtigen, als Demenzerkrankungen bezeichnet. Die Alzheimer-Krankheit ist derzeit in unseren Breiten die häufigste Demenzerkrankung (Übersichten siehe Bauer und Berger, 1993; Bauer, 1994).

Klinisch werden Qualität und Schwere von Demenzsyndromen wie der Alzheimer-Erkrankung mit testbaren Beeinträchtigungen in definierten Teilleistungsbereichen beschrieben. Die wichtigsten dieser sog. "neuropsychologischen Teilleistungsbereiche", die bei der Alzheimer-Krankheit betroffen sind, sind Gedächtnisleistungen, die Fähigkeit zum sprachlichen Ausdruck, die als Praxie bezeichnete Fähigkeit zur Planung und zum Vollzug von Handlungsfolgen und schließlich die als Gnosie bezeichnete Fähigkeit des Bedeutungserkennens, aus welcher sich die Auffassung und das allgemeine Verständnis gegenüber einer Situation ableiten.

Auf einen gemeinsamen Begriff gebracht, geht es bei diesen neuropsychologischen Intelligenzleistungen um die Fähigkeit, sich über Vorgänge in der Welt kommunikativ zu verständigen, mit anderen eine "gemeinsame Wirklichkeit" zu konstruieren. Die Alzheimer- Krankheit bedeutet den Verlust der Fähigkeit zur "Symbolisierung". "Symbolisierung" im psychoanalytischen Sinne meint die innere Repräsentation der Welt und die Fähigkeit zur inneren Vorstellung der in ihr ablaufenden zwischenmenschlichen Prozesse. Im biosemiotischen Sinne, also im Kontext der Zeichenlehre hat "symbolisch" eine etwas (jedoch nicht völlig) andere Bedeutung. Als "symbolisch" bezeichnen wir hier eine Ebene des Zeichenaustausches, die nur vom Menschen erreicht werden kann, nämlich die Integration des ikonischen und indexikalischen Zeichenaustausches in die symbolische Zeichenwelt der Sprache (Näheres dazu siehe unten).

Der klinische Kern der Alzheimer- Krankheit ist, wie dargelegt und anhand einer Kasuistik anschaulich gemacht werden wird, der Verlust der Symbolisierungsfähigkeit sowohl im psychoanalytischen Sinne (im Sinne der Fähigkeit, die Welt innerpsychisch als Vorstellung präsent zu halten und mit diesen Vorstellungen mentale Operationen vorzunehmen), als auch - und dies soll in diesem Beitrag besonders dargelegt werden - im biosemiotischen Sinne also im Sinne der Fähigkeit, durch Austausch symbolischer Zeichen mit anderen Menschen eine gemeinsame Wirklichkeit zu konstruieren).

Neurobiologie: Amyloid und Neurofibrillen

In einem biotechnischen Modell der Krankheitsentstehung, welches die Organismus-Umwelt-Beziehung für den Erhalt von Gesundheit und für die Entstehung von Krankheit außer Acht lässt, ist es das Ziel, den Demenzerkrankungen linear-kausale, ausschließlich physikalisch- (bio-) chemische Ursachen zuzuordnen.

Nachdem Anfang des 20. Jahrhunderts die damals häufigste Demenzerkrankung, die Paralyse, auf die Infektion mit Spirochäten zurückgeführt war, und nachdem eine zweite Gruppe von Demenzerkrankungen, nämlich die vaskulären Demenzerkrankungen, durch strukturelle Veränderungen der Blutgefäße ausreichend erklärt zu sein schien, war es die Hoffnung, auch die Gruppe der primär degenerativen Demenzerkrankungen mit infektiösen, strukturell-neuropathologischen oder biochemischen Veränderungen in Beziehung setzen zu können (Übersicht bei Bauer, 1994).

In dieser Suche nach ausschließlich physikalisch-(bio-) chemischen Krankheitsursachen begegnet uns das bis heute in der Medizin vorherrschende Modell des Organismus als triviale Maschine (von Foerster, 1999). Eine physikalisch- biochemische Ursache der Alzheimer- Krankheit schien gefunden zu sein, als Anfang des 20. Jahrhunderts der Wiener Neuropathologe Emil Redlich als erster im Kortex von Kranken kleine herdchenförmige Ablagerungen ("Drusen") beschrieben hatte, die heute als "Amyloidplaques" bezeichnet werden, und nachdem als erster Aloys Alzheimer Veränderungen innerhalb kortikaler Nervenzellen, die sogenannten Neurofibrillenbündel, gefunden hatte (Alzheimer, 1911; Übersicht bei Bauer, 1994).

Zur Amyloidpathologie und neurofibrillären Degeneration stellte sich jedoch rasch die Frage der Spezifität, die bereits Alzheimer als den kritischen Punkt voll erkannte (Alzheimer, 1911). Es zeigte sich nämlich, dass insbesondere die Amyloidpathologie, aber auch die neurofibrilläre Degeneration eine weder notwendige noch hinreichende Bedingung für die Entwicklung einer Alzheimer´schen Demenzerkrankung ist. Nachdem Aloys Alzheimer auch in den Hirnen zahlreicher nicht dementer Verstorbener z. T. massive Amyloidbeladungen gefunden hatte, schrieb er 1911, "dass die Drusen (Plaques) nicht die Ursache der senilen Demenz, sondern nur eine Begleiterscheinung der senilen Involution des zentralen Nervensystems sind" (Alzheimer, 1911; siehe auch Gellerstedt, 1932/1933 und Rothschild, 1936, 1937; Übersicht bei Bauer, 1994).

Genetisch bedingte Alzheimer- Formen: äußerst selten, epidemiologisch unbedeutend

Genetische Veränderungen an den Genen des Presenilin-1, des Presenilin- 2 und am Amyloidprekursorprotein- Gen lassen sich nur bei etwa 2% (zwei !) aller Alzheimer-Krankheitsfälle nachweisen und wurden in ihrer pathogenetischen bzw. epidemiologischen Bedeutung völlig überschätzt. Die Alzheimer- Krankheit ist in der ganz überwiegenden Zahl der Fälle keine erbliche Erkrankung, was für die Familien, besonders für die Nachkommen von großer Bedeutung ist. Auch dem Polymorphismus des Apolipoprotein- Gens kommt nicht die Bedeutung zu, welche ihm vorübergehend zugeschrieben wurde. Das Vorhandensein der genetischen ApoE-4- Variante ist weder eine notwendige noch eine hinreichende Voraussetzung für die Alzheimer- Krankheit und ist als diagnostischer Marker definitiv ungeeignet (Consensus Statement, JAMA 1995; 274:1627).

Pathologie der Synapse: der beste Marker der Alzheimer- Krankheit

Elektronenmikroskopische Untersuchungen in den 70er und 80er Jahren konnte zeigen, dass - im Vergleich zur Amyloidpathologie und zur neurofibrillären Degeneration - der Verlust von kortikalen Synapsen ein weitaus markanterer, spezifischerer und darüber hinaus ein mit dem Grad der Demenz aufs engste korrelierter Befund bei Alzheimer- Patienten ist (Terry, 1991; Übersicht bei Bauer, 1994 und Masliah, 1995). Synapsen sind die Kontaktstellen zwischen Nervenzellen, an denen mittels Ausschüttung von Botenstoffen, sogenannten Neurotransmittern, der Nachrichtenaustausch zwischen den Nervenzellen stattfindet.

Zur Signalübertragung zwischen zwei Nervenzellen kommt es, wenn die präsynaptische Membran einer Nervenzelle Neurotransmitter- gefüllte Vesikel in den synaptischen Spalt ausschüttet, die ausgeschütteten Transmitter- Moleküle an spezifische Rezeptoren der postsynaptischen Membran der Nachbarzelle binden und aufgrund dieser Bindung ein ("second messenger"-) Signal in der Zielzelle ausgelöst wird. Der Nachrichtenaustausch im synaptischen Spalt ist ein Paradebeispiel für eine biosemiotische Beziehung, also für eine Zeichenverbindung. Durch die spezifische Rezeptorausstattung der postsynaptischen Ziel- Zelle kommt es seitens dieser Zelle als Interpretant zu einer Bedeutungserteilung an den spezifisch passenden Neurotransmitter als Bezeichnetem. Die Zelle konstruiert aus dem Reiz, der sie trifft, ein Zeichen. Die Bedeutungserteilung führt zu einer effektorischen Antwort der Zielzelle, die nun ihrerseits auf ihre neuronale Umgebung zurückwirkt. Es handelt sich um einen semiotischen Regelkreis.

Neuronale Matrix, Umweltkonstruktion und kortikale Repräsentation der Umwelt

Jede der etwa 10 Milliarden Nervenzellen der Hirnrinde steht über Synapsen mit jeweils bis zu 10 000 anderen Nervenzellen in Verbindung. Etwa 100 000 benachbarte Nervenzellen bilden zusammen jeweils eine funktionale Einheit als senkrecht zur Hirnoberfläche stehende Mikro-Säulen, sogenannte "Columns" (Duyckaerts, 1985; Eccles, 1992). In diesen Columns sind die Nervenzellen in spezifischer und besonders dichter Weise synaptisch verschaltet. Die Zufuhr spezifischer Erregungsmuster zu diesen Columns führt zu spezifischen Mustern von Erregungs-Output, d.h. die Columns kodieren Programme.

Nervenzell- Columns sind untereinander - wiederum durch Synapsen - komplex verbunden, so dass Assoziationen von neuronalen Programmen entstehen. Das daraus entstehende kortikale Netzwerk ist die Matrix, in welcher unsere sensorischen und motorischen Leistungen als Handlungs- und Wahrnehmungsprogramme gespeichert sind. Es werden Regeln gespeichert, nach denen eine passende Umwelt konstruiert werden kann. In dieser Matrix können wir uns selbst, unsere Umwelt und die in ihr ablaufenden Prozesse - semiotisch gesehen - konstruieren (psychoanalytisch gesehen, bedeutet diese Matrix die Fähigkeit zur psychischen Repräsentation der Welt).

Neuronale Plastizität: Beziehungen zwischen Funktion und synaptischer Mikrostruktur ("Use it or lose it")

Synaptische Verbindungen zwischen den Nervenzellen der Hirnrinde sind keine festinstallierte Hardware. Synaptische Aktivität hat den Erhalt und die strukturelle Verstärkung der Synapse und der beiden an ihr beteiligten Nervenzellen zur Folge. Fehlende Aktivität kann zur strukturellen Auflösung der synaptischen Verbindung und zur Schädigung der beteiligten Neurone führen. Zwischen den präsynaptischen Endigungen von Nervenzell-Ausläufern besteht ein ständiger, Aktivitäts-abhängiger Wettbewerb um gemeinsame postsynaptische Ziel-Neurone. Dieses Phänomen wird als neuronale Plastizität bezeichnet (Übersichten bei Merzenich, 1990; Swaab, 1991).

Neuronale Plastizität beruht auf einer Reihe von feed- forward - und feed-back- Prozessen, welche im Gefolge neuronaler Aktivität ausgelöst werden (Übersicht bei Bauer, 1994). Neuronale Signal-Aktivität, d.h. die Ausschüttung von Botenstoffen der präsynaptischen Nervenendigung in den synaptischen Spalt führt in beiden beteiligten Zellen zu Veränderungen der Proteinsynthese und zur Ausschüttung von Nervenwachstumsfaktoren. Auf die Zielzelle hochfrequent eintreffende Serien von ankommenden Signalen, auch als tetanische Reizung bezeichnet, führen nicht nur zu einer besonderen strukturellen Verstärkung der postsynaptischen Membran, sondern verändern auch die Ansprechbarkeit der Zielzelle in dem Sinne, dass sie für einen längeren nachfolgenden Zeitraum stärker erregbar bleibt. Diese sogenannte Langzeitpotenzierung ist die Grundlage für die Kodierung von Signalen unterschiedlicher Wertigkeit und für die Gedächtnisbildung.

Psychosoziale Umwelt und neuronale Aktivität: "The social construction of the human brain"

Ausgangspunkt für neuronale Aktivität und damit für die Bildung von Synapsen sind vom Beginn des Lebens an externe, aber auch selbstgenerierte Stimuli, die sich aus der Beziehung des Organismus mit seiner Umwelt ergeben. Dies beginnt bereits intrauterin im zweiten und im dritten Trimenon. Synaptogenese ist das Schlüsselereignis bei allen Lernprozessen. Zahlreiche tierexperimentelle Studien, neuerdings aber auch Beobachtungen am Menschen konnten zeigen, dass Stimulus-Deprivation zu neuroanatomischen und neurofunktionalen Verlusten in der Hirnrinde führt, dass eine stimulus-angereicherte Umwelt dagegen eine vermehrte Zahl von Schaltneuronen, ein höheres Ausmaß der Verzweigung (Arborisation) ihrer Ausläufer und eine höhere Dichte synaptischer Verschaltungen zur Folge hat.

Torsten Wiesel fasste es 1994 im Magazin Science wie folgt zusammen "Genes controlling embryonic development shape the structure of the infant brain; the infant´s experience in the world then fine-tunes the pattern of neural connections underlying the brain´s function. Such fine-tuning must surely continue through adulthood" (Wiesel, 1994). Leon Eisenberg brachte es 1995 im American Journal of Psychiatry auf folgenden Nenner: "The basic ground plan is is laid out in the genome, the precise neuroanatomic details are specified by activity-dependent competition between presynaptic axons for common postsynpatic targets. .... Species-typical environment, including the environment in the uterus, reliably supplies the input needed for the development of the CNS. .... The discovery that the brain is capable of extensive functional reorganization necessitates radical revision of traditional notions of anatomic fixity. ...The cytoarchitectonics of the cerebral cortex are sculpted by input from the social environment. .... Psychopathology arises at the interface between the brain and social experience. ... No less evident is the role of psychosocial factors in Alzheimer´s Disease." (Eisenberg, 1995). Eisenbergs Arbeit trug den Titel "The social construction of the human brain".

Das Biotop neuronaler Aktivität: Die Beziehung zwischen Individuum und Umwelt

Soziale Umgebung ist das Biotop und die Voraussetzung, in welchem neuronale Aktivität möglich wird, sich entwickelt, erhalten bleibt oder abstirbt. Struktur und Funktion sind nicht nur im Gehirn, sondern im gesamten Nervensystem aufs engste verbunden. Neuronale Struktur und Funktion stehen in engstem Zusammenhang mit der Interaktion zwischen Individuum und Umwelt. Die Beziehung zwischen Organismus und Umwelt einerseits und neurobiologische Feinstrukturen andrerseits entwickeln sich gemeinsam und in permanenter wechselseitiger Beeinflussung. Während der intrauterinen und der kindliche Entwicklung nach der Geburt kommt es so zur Entwicklung des Seelischen, zur Entwicklung des Selbst und zur Entwicklung der Intelligenz. Auch nach Abschluss der Entwicklung bleibt die Beziehung zwischen Organismus und Umwelt weiterhin von entscheidender Bedeutung sowohl für die neuronale Funktion und Struktur als auch für die seelische Gesundheit und den Erhalt der Intelligenz. Die Einheit des Überlebens von Organismus und Umwelt beruht auf der permanenten Konstruktions-Aktivität des Nervensystems.

Bezüge zwischen psychosozialer Umwelt, Biografie und neuronaler Funktion bei Alzheimer-Kranken

Lässt sich die Alzheimer-Krankheit vor dem Hintergrund der Erkenntnisse über die neuronale Plastizität als ein psychobiologischer Prozess verstehen, bei dem die Beziehung zwischen Person und Umwelt im Wechselspiel steht mit den neuropsychologischen und neurobiologischen Veränderungen? Wenn dem so wäre, dann wäre - neben medikamentösen Ansätzen - die Einflussnahme auf die Art der Beziehungsgestaltung der Patienten ein wichtiger, vielleicht entscheidender therapeutischer Ansatzpunkt (Bauer, 1995, 1997, 1998). Wenn wir als Therapeuten einen Zugang zum biografischen und damit psychobiologischen Verständnis einer Erkrankung gewinnen wollen, dann müssen wir etwas über die Beziehung zwischen Patient und seiner Umwelt erfahren. Dies bedeutet jedoch, dass wir uns auch der subjektiven Perspektive des Patienten zuwenden müssen. Wir müssen uns auf eine therapeutische Beziehung mit dem Patienten einlassen. Nur dann können wir seine Beziehungsgeschichte erfahren und seine aktuelle Beziehungsgestaltung verstehen.

Wir haben biografische Anamnesen von 21 Alzheimer-Patienten untersucht (Bauer, 1995, 1997, 1998) Wir haben uns dabei in jedem einzelnen Fall Biografie und Beziehungsgeschichte nicht nur vom Patienten selbst schildern lassen, sondern uns - mit Wissen und Billigung des Patienten - von jeweils mindestens zwei Angehörigen deren Beziehung zum Patienten sowie deren Sicht der Beziehungen des Patienten zu Dritten schildern lassen. Die biografischen Anamnesen wurden nach den Methoden der komparativen Kasuistik einer qualitativen Inhaltsanalyse unterzogen (zur Methodik siehe Jüttemann, 1990; Flick, 1991; Mayring, 1993; Brähler, 1996). Mit einigen Patienten im Frühstadium der Alzheimer-Krankheit wurde außerdem über einen längeren Zeitraum eine psychotherapeutische Behandlung durchgeführt (Bauer, 1997).

Kasuistik I: Zur Geschichte der Krankheit eines Patienten

Zunächst soll auf die Geschichte der Krankheit eines Patienten eingegangen werden, der sich in einem sehr frühen Stadium der Erkrankung vorstellte (25 Mini-Mental-State-Punkte) und bei dem nach lege artis durchgeführter Diagnostik der Verdacht einer Alzheimer- Krankheit mit frühem Beginn (d.h. per definitionem, vor dem 65. Lebensjahr) gestellt wurde (die Diagnose hat sich später anhand des weiteren Verlaufs bestätigt). Es soll dargestellt werden, wie die Erkrankung in besonderer Weise in die lebensgeschichtliche Entwicklung eingebettet ist und wie sich die Situation des Patienten während einer mit ihm über einen begrenzten Zeitraum durchgeführten psychotherapeutischen Arbeit entwickelte.

Zur Erstvorstellung kam der 58 Jahre alte Patient ohne Begleitung. Oft wisse er Zahlen, z. B. Telefonnummern, Geburtsdaten oder Jahreszahlen nicht mehr. "Ich weiß selten, was für ein Tag heute ist. Die Vergesslichkeit ist mein Problem Nr. 1. Manchmal schwimme ich innerlich. Unsicherheit und Verwirrung, das ist der Kern. Oft sitze ich im Büro und weiß nicht was ich machen soll." Auch mit der Planung und Durchführung von Handlungen habe er Probleme. Vor kurzem sei es ihm nicht gelungen, vor einer Reise das Packen seines Koffers alleine durchzuführen.

Er sei verheiratet, das letzte von drei erwachsenen Kindern habe vor wenigen Monaten das Elterhaus verlassen. Die Ehefrau sei Hausfrau. "Dass die Kinder weg sind, beelendet uns beide. Wir hatten immer ein volles Haus. Jetzt sind wir allein. An seiner Frau störe ihn "ihr ewiges Erinnern: Du musst doch noch dies oder das machen. Immer ihre Aufforderung: mach das, mach das." Wisse er etwas nicht, dann komme von ihr ein "Mensch, weißt Du das denn nicht ....!", dann setze bei ihm eine Reaktion ein "Ich müsste es eigentlich wissen und weiß es nicht. Deine Frau hat Dich mal geheiratet als Du noch flott warst. Ich erlebe meine Frau, dass sie immer stärker wird, und dass ich immer schlapper werde." In einer ähnlichen Situation sei er im Beruf. "Vor jungen Kollegen habe ich einfach Angst. Ich komme dann in eine Art geistige Bewusstlosigkeit." In Sitzungen habe er das Gefühl, den jüngeren Kollegen nicht mehr gewachsen zu sein, aus Angst vor Versagen habe er sich von Sitzungen zurückgezogen. "Ich ziehe mich zurück, andere übernehmen meine Funktion."

Danach befragt, wie er sich die Lösung seiner Probleme vorstelle und was er als Ziel anstrebe, brachte der Patient zwei unterschiedliche Tendenzen zum Ausdruck, nämlich einerseits: "Ich suche nach einem neuen Anfang. Manchmal ist in mir so etwas wie ein Trennungswunsch, noch mal alleine ins Ausland gehen" (der Patient hatte einige Zeit im Ausland verbracht). Andrerseits sagte der Patient: "Oft spiele ich gerne das hilflose Männecken: dann bekomme ich bald eine Frühpensionierung und wäre aus dem Apparat der Firma draußen".

Kasuistik II: Zur Lebensgeschichte des Kranken

Zur biografischen Entwicklung war Folgendes zu erfahren: Der Patient kam Mitte der 30er Jahre als Einzelkind in einer Großstadt zur Welt. Den Vater beschrieb der Patient als "weich und zurückhaltend, ich habe ihn sehr geliebt. Er malte hübsche Bilder, die zart und fein gemalt waren, da war ich stolz auf meinen Vater. Er hat immer treu und untertänig geschafft, er war ein gemütlicher Typ, fast ein Trottel". Die Mutter sei "machtbewusst" gewesen. "Sie kritisierte meinen Vater öfters, weil er ihrer Meinung nach zu lange mit den Kunden sprach". Im Gegensatz zum katholischen Vater sei die Mutter "fanatisch evangelisch, eine strenge Pietistin" gewesen. "Einmal jagte sie den katholischen Pfarrer aus dem Haus".

Wie in der Mehrzahl der von uns untersuchten Alzheimer- Biografien, so fanden wir auch hier traumatisierende Kindheitserlebnisse. Von der Zerstörung der Wohnung durch einen Bombenangriff behielt der damals 9-jährige Knabe dramatische Erinnerungen zurück: Nach dem Angriff sei man aus dem Keller nach oben in die brennende Wohnung geeilt: "Der Sessel brannte lichterloh, mein geliebter Goldfisch im Glas fiel auf den Boden, das schöne Klavier war in Flammen". Es folgte die Ausquartierung aufs Land, der Schulbesuch war längere Zeit unterbrochen. Später machte er die Mittlere Reife. Eine erste Freundschaft mit einem Mädchen war "eine schöne Beziehung: wir haben irgendwo im Park geschmust".

Seine spätere Ehefrau lernte der Patient während seines Aufbaustudiums kennen. "Meine Frau ist intellektuell. Ich brauche eher warmes Wasser. Meine religiösen Wurzeln sind warm und weich. Ich erlebe Gott in Menschen, die Gefühl verströmen. In diesem Milieu kann ich auch frei beten. Meine Frau ist eher wie kaltes Wasser. Während des Aufbaustudiums sei es nach einem "Clash" (so der Patient) zwischen ihr und ihm zu einer zeitweiligen Trennung gekommen, "es ging einfach nicht mehr". Mit Freunden sei er ans Meer gefahren. Da habe er "das befreiende Gefühl gehabt: ich komme ohne sie aus". Dennoch kam es nach Abschluss des Studiums zur Heirat. In den ersten Ehejahren kamen 3 Kinder zur Welt. Die junge Familie verbrachte einige Jahre in Afrika, wo der Patient im Entwicklungsdienst tätig war. Die Begegnung mit der Herzlichkeit der Afrikaner bezeichnete der Patient als die schönsten Erfahrungen seines Lebens, er sprach immer wieder von dieser Zeit.

Kurz nach der Rückkehr von Afrika erlitt die Ehefrau eine Erkrankung, von der sie eine neurologische Behinderung zurückbehielt. Die Ehefrau, mit der zu dritt regelmäßig begleitende Angehörigengespräche geführt wurden (dies ist bei einer Erkrankung wie der Alzheimer- Erkrankung sinnvoll und geboten), sprach diese Behinderung einmal mit großer Bitterkeit an und ließ durchblicken, dass sie sich von ihrem Ehemann seinerzeit nicht ausreichend unterstützt und entwertet fühlte. Es wurde deutlich, dass diese Erfahrung für die Ehefrau der Ausgangspunkt für ein anhaltendes feindseliges Ressentiment geworden sein könnte. In den Jahren vor Ausbruch erster Krankheitssymptome entwickelte sich jedenfalls eine bemerkenswerte Konfliktkonstellation mit einschneidenden Auswirkungen.

Etwa zehn Jahre vor Einsetzen erster diskreter Alzheimer- Symptome sei ein früherer Kollege des Patienten sein Vorgesetzter geworden. Im Gegensatz zum Patienten mit einer eher stillen und spirituellen Veranlagung sei dieser Kollege immer auf Selbstdarstellung, Eloquenz und schnelle Effizienz bedacht gewesen. Der Patient beschrieb die neue Situation so: "Er war ein freundlicher, cleverer und intelligenter Bulldozer. Durch seine Schnelligkeit empfand ich einen Druck. Wenn er mit mir sprach, bekam ich immer öfters panische Angst, weil er so schnell redete und ich es nicht verstand". Dies hatte Folgen: Da der Vorgesetzte z. B. häufig zuhause angerufen habe, habe der Pat. schließlich eine generelle Angst entwickelt, zuhause selbst ans Telefon zu gehen und habe stattdessen seine Frau gebeten, ans Telefon zu gehen.

Da er die Auseinandersetzung mit seinem Vorgesetzten immer stärker an seine Frau delegiert habe, sei seine Frau mit dem Vorgesetzten immer mehr ins Gespräch gekommen und habe schließlich - was er als entmündigend erlebt habe - begonnen, sich mit dem Vorgesetzten über die Probleme des Patienten zu unterhalten. "Das hat mich tief getroffen und verletzt. Darauf bin ich kaum noch zu beruflichen Sitzungen hingegangen. Dadurch wurde es aber immer schlimmer. Ich habe mich selbst aufs Gleis Dummheit geschoben". Die Ehefrau äußerte über diese Zeit: "Sein Interesse am Beruf ließ damals plötzlich nach". Diese Ereignisse lagen etwa sechs bis fünf Jahre bevor erste kognitive Defizite einsetzten.

Ein weiteres für den Patienten einschneidendes Ereignis war der Auszug der beiden letzten Kinder aus dem elterlichen Haushalt, welcher achtzehn und sechs Monate vor der ersten ärztlichen Vorstellung des Patienten bei uns erfolgt war. Der Auszug des letzten Kindes, eines Sohnes, bedeutete für den Patienten den Verlust eines wichtigen Gesprächspartners: "Der Glaube ist kein Thema mit meiner Frau. Aber es war ein Thema mit meinem Sohn. Er ist sehr weich. Mit ihm habe ich Vater-Sohn-Gespräche, darum hänge ich an ihm. Es fällt mir jedes Mal schwer, wenn er nach einem Besuch wieder geht. Seit dem Auszug der Kinder lebten die Eheleute relativ isoliert. Eigene Freunde oder selbstständig ausgeübte Hobbies hatte der Patient nicht. Wenige Monate später hatte sich die Situation des Patienten zugespitzt. Erstmals fielen jetzt Demenz- verdächtige Symptome auf und führten zur ersten ärztlichen Konsultation.

Reflektion: Der Kontext der Krankheitsentstehung

In der Herkunftsfamilie des Patienten ist hinsichtlich der Rollenverteilung zwischen Vater und Mutter vorgezeichnet, was für die spätere Beziehungsgestaltung des Patienten wesentlich wurde. Die Merkmale innerhalb der elterlichen Beziehung waren Dominanz der als kalt erlebten Mutter und Inferiorität des als gefühlvoll erlebten Vaters. Die ikonische Erlebenswelt des Vaters und die - nach Peirce (Peirce, 1991) - indexikalisch (an Zweckmäßigkeit und Effizienz) orientierte Welt der Mutter hat der Patient als Kind nicht als integrierbar, sondern aufgespaltet erlebt. In der inferioren, offenbar aggressionsgehemmten Rolle des Vaters war eine Selbstentwertung angelegt, wie sie in den späteren Beziehungen des Patienten gegenüber seiner Frau ebenfalls sichtbar wird. Die Wirklichkeit der Herkunftsfamilie war durch eine bedrohte kommunikative Passung zwischen Vater und Mutter gekennzeichnet.

Mit der Heirat einer eher kühlen, rationalen Frau kommt es zu einer Wiederholung des inkompatiblen elterlichen Passungsmusters. In der Ehefrau taucht die indexikalische (auf alltagspraktische Zweckmäßigkeit und Effizienz) ausgerichtete Erlebenswelt der Mutter wieder auf, der Patient mit seiner religiös-spirituellen Orientierung wiederholt die ikonische Erlebenswelt des Vaters. Diese Identität des Patienten wird mit der Eheschließung gefährdet und scheint im Verlauf der Ehe verloren gegangen zu sein. Der Konflikt zwischen den Bedürfnissen des Patienten und jenen seiner Frau blieb in den ersten Jahren u. a. dadurch kompensiert, dass der Patient während des Afrikaaufenthaltes der Familie in der afrikanischen Bevölkerung eine Umwelt zur Verfügung hatte, die der eigenen, gefühlsorientierten ikonischen Erlebensweise entsprach.

Die kommunikative Passung fiel für den Patienten nach der Rückkehr aus Afrika weg. Ein Ereignis lässt deutlich werden, dass beim Patienten etwaige aggressive Triebregungen, die der Durchsetzung der eigenen Identität, des eigenen "wahren Selbst" (Auerbach, 1991) hätten dienen können, gehemmt waren und nun offenbar destruktiv wirksam wurden: Der Patient kann nach Rückkehr vom mehrjährigen Afrikaaufenthalt seiner akut erkrankten und dann leicht behinderten Frau offenbar keine hinreichende emotionale Unterstützung gewähren, was dazu führte, dass die Ehefrau ihrerseits ein feindseliges Ressentiment gegen den Partner entwickelte. Dies war umso fataler, als die Rückkehr aus Afrika für den Patienten auch beruflich einen Passungsverlust bedeutete.

Beruflich war der Pat. in einer bürokratischen Organisation tätig und bekam schließlich einen dominanten, ihm einen gehetzten Arbeitstakt abfordernden Vorgesetzten. Eine Selbstbehauptung des Patienten gegenüber diesem Vorgesetzten (wodurch der Pat. seine Umgebung "in Form gebracht" oder zu einer hinreichend "passenden Umwelt" gemacht hätte), hätte ein erhebliches Maß an Konfliktbereitschaft erfordert. Da der Pat. in seiner Ursprungsfamilie am Beispiel des Vaters nur das ("Lösungs" -) Modell von Konfliktvermeidung, Selbstverleugnung und Einnahme einer inferioren Position kennen lernen konnte, reichten die dem Patienten zur Verfügung stehenden Handlungskonzeptionen für eine "In-Form-Bringung" seiner Umwelt nicht hin. Es entstand nun eine anhaltende und nicht mehr beherrschbare Stress- Situation.

In dieser für ihn unlösbaren Situation geriet der Pat. in eine regressive Entwicklung. Er begann, die Aufgabe der Problemlösung an seine alltagspraktisch hochkompetente Ehefrau zu delegieren. Vom Patienten mit der Abwicklung der Kontakte zum Vorgesetzten beauftragt, geriet die Ehefrau in eine Bevormundungsposition. Das elterliche Modell, bei dem die Mutter die Rolle des "ich weiß", der Vater die Position des "ich kann es nicht" einnahm, wird somit erneuert. Die Ehefrau wurde zum stützenden externen Objekt des Patienten, vielleicht sogar zum "Selbstobjekt", allerdings eines "falschen Selbst" (Winnicott, 1983). Zeichentheoretisch gesprochen gelang es nicht, zwischen der ikonischen Erlebenswelt des Patienten und der indexikalisch ausgerichteten Zeichenwelt seiner Frau zu einer gemeinsamen kommunikativen Realitätskonstruktion zu kommen. Realitätskonstruktion bedeutet - neurobiologisch und psychologisch gesehen - geistige, psychische und intellektuelle Aktivität. Da sich in den letzten zehn Ehejahren die Realitätskonstruktion der Ehefrau einseitig durchsetzte, muss ein Nachlassen der geistig- seelisch- intellektuellen Aktivität des Patienten angenommen werden.

Der Demenzerkrankung ging eine längere Vorphase voraus, in welcher das Nicht-Können des Patienten Teil einer Vermeidungsstrategie, eines Rückzuges von Konfliktfeldern war. Der Patient äußerte einmal zu seinem Verhalten in schwierigen Situationen "dann schalte ich ab, dann eliminiere ich den Gedanken, dann denke ich lieber nicht weiter". Auch aggressive Impulse konnten vom Patienten mit dem Nicht-Können zum Ausdruck gebracht werden, wie folgende Beschreibung einer Situation zeigt, nachdem er sich einmal wieder über irgendwelche Vorschriften seiner Frau geärgert habe: "In mir gibt es dann noch einen kleinen Zwerg, dass ich dann sage ich weiß es nicht, obwohl ich es weiß. Ich lass sie dann zur Rache alles machen. Wenn sie mich schon so bevormundet, dann soll sie auch alles machen". Hier steht das kognitive Defizit - funktional gesehen - also im Dienste der Revanche.

Die kognitive Blockierung, die für den Patienten lange Zeit ein Element der Konfliktvermeidung (und zugleich der verdeckten Abreaktion aggressiver Impulse) war, scheint im weiteren Verlauf zu einem malignen Prozess mit schließlich unaufhaltsamer psychobiologischer und neurobiologischer Eigendynamik geworden zu sein. Krankheitsauslösend scheint dabei einerseits die für den Patienten unlösbare berufliche Stress-Situation, andrerseits die Zuspitzung des partnerschaftlichen Konflikts und der Wegfall der unterstützenden Beziehung zum Sohn gewesen zu sein.

Kasuistik III: Zur Geschichte der Arzt- Patienten- Beziehung

Zum ersten Termin kam der Patient alleine, ohne Begleitung seiner Frau, obwohl sie ihn veranlasst hatte sich vorzustellen. Obwohl der engere "Auftrag" seiner Frau darin bestand, ihren Demenzverdacht abzuklären, interessierte ich mich - neben der Durchführung der umfangreichen diagnostischen Maßnahmen - zusätzlich auch für die persönliche Situation des Patienten und ermutigte ihn, seine persönliche Situation zu schildern. Dies führte zum Aufbau einer Vertrauensbeziehung. Es schien, dass ich für den Patienten als Substitut für den fehlenden kommunikativen Resonanzraum wirken konnte mit dem Ziel einer Integration der ikonischen Zeichenwelt des Patienten ("wie fühle ich mich?") und der indexikalisch betonten Welt seiner Frau ("was hat mein Mann für eine Krankheit?"; "mich interessiert nur, ob anatomisch etwas ist").

Beim zweiten Termin erschien der Pat. in Begleitung seiner Frau, die ernst und resolut auftrat. Sie führte für den Patienten oft das Wort. Wenn er sprach, schmunzelte sie manchmal abwertend, mich dabei vielsagend anschauend, als wolle sie mir bedeuten, dass sie wisse, dass man nicht alles für voll nehmen könne was er sage. Ich verhielt mich nach beiden Seiten gleich aufmerksam und ging auf dieses den Patienten abwertende Bündnisangebot nicht ein. Sie äußerte "Mich interessiert nur, ob organisch etwas ist". Zuhause sei "alles in Ordnung". Ich erläuterte der Ehefrau das Procedere der umfassenden organischen Abklärung. Als ich ihr sagte, dass darüber hinaus auch von Bedeutung sei, wie ihr Mann die Situation und seine Beschwerden erlebe, blickte sie ernst und skeptisch drein. Hier wurde deutlich, wie in der Beziehung des Paares in desintegrativer Weise die ikonische Welt des Patienten entwertet und die rein zweckorientierte- indexikalische Zeichenebene der Partnerin zur alleine gültigen geworden war.

Nachdem die Diagnostik eine Bestätigung der Alzheimer- Diagnose im Frühstadium ergeben hatte (auch der weitere Verlauf bestätigte dies später zusätzlich), machte ich dem Patienten - zusätzlich zur medikamentösen Therapie - angesichts seiner geäußerten emotionalen Belastungssituation das Angebot, weitere regelmäßige Gespräche zu führen, was der Pat. gerne annahm. Um der Ehefrau die Zustimmung zu erleichtern, wurde ihr der neurobiologisch günstige Effekt von Belastungsreduktion und Ressourcenaktivierung erläutert. Außerdem wurden, zusätzlich zu den einwöchigen (später zweiwöchigen) Gesprächen mit dem Patienten alleine, niederfrequente (einmal monatliche) Gespräche zu dritt vereinbart.

Übertragung und Beziehungsangebot an den Therapeuten

Gleich bei der ersten Gesprächssitzung wurde eine Grundtendenz des Patienten bei seiner Beziehungsgestaltung deutlich. Er kam etwas aufgeregt, unsicher und zerstreut herein und packte sofort einige Merkzettel aus, anhand derer er sich Punkt für Punkt durch die Stunde helfen wollte. Wie oft in den ersten Sequenzen einer therapeutischen Beziehung, wurde hier ein spezifisches Beziehungsangebot sichtbar. In diesem Falle bestand das Beziehungsangebot darin, sich abzuwerten und in einem stärkeren Maße in Hilflosigkeit zurückzufallen als notwendig. Die Zettel (die vielleicht sogar eine Liste seiner Frau enthalten haben mögen) waren - kommunikativ gesehen - ein indexikalisches Zeichenelement, welches an Stelle seiner eigenen ikonischen Zeichensprache treten sollte. Ich sagte dem Pat. in ermunterndem Ton: Herr XY, ich vertraue eigentlich Ihrem Kopf, lassen Sie doch Ihre Zettel vielleicht einfach einmal weg! Der Pat. lachte und kam tatsächlich sehr gut ohne Zettel zurecht. Er hatte damit eine "Erlaubnis" erlangt, seine eigenen kommunikativen Zeichen gebrauchen und damit zugleich seine Themen deutlich machen zu dürfen.

Nachdem so die kommunikative "Passung" zwischen Arzt und Patient hergestellt war, entwickelte der Patient seine Themen. "Meine Frau ist wie eh und je ein strammes Mädchen. Sie weiß was sie will. Sie kämpft. Sie meint, es geht mir immer schlechter. Vor vier Wochen hat sie eine Lebensversicherung auf mich abgeschlossen (!). Ich habe Druck von meiner Frau und von meinem Vorgesetzten. Der P., mein Sohn, regt sich immer auf, er sagt: Sag mal, Papa, hast Du denn keine eigene Meinung? Der P. ärgert sich, dass mir meine Frau immer Befehle zuruft und ich nicht reagiere. Mein Sohn sagt: Sag doch selber mal was Du willst! Warum fragst Du immer die Mama?" An andrer Stelle kam die Äußerung: "Ich habe die Phantasie, ich miete mir ein Zimmer, um Ruhe von ihren Infiltrationen zu haben. Mir geht es einfach auf den Nerv, wenn sie laufend sagt: Weißt Du das denn nicht mehr?! Jetzt hör mal!"

Einfluss der Therapie auf die Beziehungsgestaltung der Partnerschaft

Die Einstellung des Pat. zu seiner Partnerschaft war, wie sich im weiteren Verlauf herausstellte, jedoch ambivalent. Zunächst überwogen zwar Äußerungen des Ärgers über die in der Ehe erlebte Bevormundung: "Ich will wieder hochkommen. Resignation ist in mir eingetreten. Sie bevormundet mich. Mein Ziel ist es, entschiedener zu werden, meiner Frau Paroli zu bieten". Parallel dazu ging der Pat. im Alltag begrenzte kleine Konflikte mit seiner Ehefrau ein. Nach und nach wurde aber auch deutlich, dass es der Pat. selbst war und ist, der seiner Frau die beklagte Dominanz zuwies. "Ich entscheide ungern. Alles macht meine Sekretärin und meine Frau, beide sehr aktiv, und ich das Bübele dazwischen". An anderer Stelle fiel die bedeutsame Bemerkung: "Ich weiß nicht ob es überhaupt besser werden soll. Wenn ich ehrlich bin, bin ich zufrieden. Ich mache mich gerne klein."

Interessanter Weise konnte der Pat., nachdem er einige Male zuhause begrenzte Konflikte eingegangen war (er hatte sich wiederholt gegen Zurechtweisungen seiner Frau verwahrt), jetzt erstmals auch Sympathiegefühle für seine Frau äußern. Erstmals in den Gesprächen brachte er jetzt auch sein Mitgefühl für ihre Behinderung zum Ausdruck. Er berichtete, dass er seine Frau als überfordert und depressiv erlebe, sie leide auch an Schlafstörungen (darauf im Angehörigengespräch vorsichtig angesprochen, wehrte die Ehefrau jedoch ab und wollte auch ein Angebot, ihr zu einer eigenen therapeutischen Hilfe zu verhelfen, nicht annehmen). Anknüpfend an die Anteilnahme des Pat. gegenüber seiner Frau wurde er von mir zur ehelichen Sexualität befragt. Er teilte mit, intime Begegnungen seien stark zurückgegangen. Er habe Hemmungen und Angst, er könne sich wegen nachlassender Erektionsfähigkeit bei ihr blamieren. Der Pat. wurde ermutigt, sich bei Gelegenheit seiner Frau auch zärtlich zu nähern, was er im Verlauf auch realisierte.

Die Bedeutung des Partners / der Partnerin für den therapeutischen Prozess

In den Angehörigengesprächen zeigte sich die Ehefrau als alerte, agile Frau, die das Heft in der Hand hatte. Obwohl der Pat. ohne Gefährdung alleine zu den Sitzungen gelangen konnte, wollte sie ihn jeweils auf dem Weg begleiten. Dies konnte - mit Hinweis auf das abgesprochene Ressourcen- fördernde Vorgehen - vermieden werden. Äußerungen des Pat. selbst wurden in den Angehörigengesprächen von ihr auch weiterhin häufig mit einer teils schmunzelnden, teils offen hämischen Mimik und vielsagenden Blicken zu mir begleitet, ohne dass sich für ihre Reaktionen aufgrund der tatsächlichen Äußerungen des Patienten eine nachvollziehbare Erklärung fand. Oft fiel sie ihm ins Wort. Ich entschloss mich, die abwertenden Signale der Ehefrau freundlich, aber offen anzusprechen und erläuterte zugleich den dysfunktionalen Effekt auf die eheliche Kommunikation, insbesondere mit Blick auf die dadurch verstärkte Unsicherheit des Ehemannes. Die Ehefrau reagierte kurzfristig etwas erbost, der Pat. war sofort beunruhigt und äußerte, er wolle keinen Streit. Da ich freundlich blieb und mich noch mal auf das eingangs gemeinsam besprochene Anliegen bezog, für eine Ressourcen- aktivierende Kommunikation zu arbeiten, konnte sich die Ehefrau wieder beruhigen.

An diesen Beispielen wurde deutlich, wie bedrohlich die Ehefrau es erlebte, dass ihr Ehemann in der Therapie ein zu seiner ikonischen Zeichenebene passendes Kommunikationsangebot erhielt. Dies wurde offenbar als Gefährdung ihres kommunikativen (indexikalischen) Primats erlebt. Auch ein erhebliches Maß an Neid auf ihn könnte eine Rolle gespielt haben, da die Ehefrau sich in ihrer (pseudo-) autarken Position zwar aktiv isolierte (und Angebote ihr zu helfen ablehnte), unbewusst aber doch einen starken Wunsch nach Zuwendung hatte. Dies wurde nicht zuletzt daran deutlich, dass sie wegen der ihr vor Jahren - anlässlich ihrer Krankheit - versagten liebevollen Unterstützung immer noch haderte.

Widerstand und regressiver Sog der Krankheit

Die regressiven Tendenzen des Patienten gewannen im weiteren Verlauf die Oberhand über seine (möglicherweise biologisch bereits zu sehr limitierten) emanzipativen Möglichkeiten. Der Patient schloss sich schließlich dem Drängen seiner Ehefrau an, sich voll pensionieren zu lassen, obwohl sofort nach Diagnosestellung - unter unserer Vermittlung - mit dem Arbeitgeber ein Arrangement getroffen werden konnte, welches dem Patienten einen geschützten Arbeitsplatz ohne jeden Leistungsdruck garantierte. Die anfängliche Bereitschaft zu häuslichen Konflikten ging zurück. Dass seine Frau, die er wiederholt als "Bombe, die permanent explodiert" beschrieb, ihn weiterhin häufig bevormundete und zurechtwies, schien der Patient zunehmend als unabänderlich hinzunehmen. Er und seine Frau kämen trotzdem gut miteinander aus. Er schätze die häusliche Versorgung durch sie. Wenn sie grolle, ziehe er sich in sein Zimmer im Untergeschoss des Hauses zurück. Die zu Beginn der Sitzungen oft vorhandene depressive Stimmungslage im Zusammenhang mit der häuslichen Situation wich zunehmend einer indifferenten Stimmung.

Das alte eheliche Beziehungsmuster erwies sich als letztlich zu verfestigt, als dass der Patient gegen den erklärten Willen seiner Partnerin (die ihrerseits das Angebot zu begleitender therapeutischer Hilfe ausschlug) weiter Schritte des eingangs versuchten Veränderungsprozesses hätte wagen können. Es schien, als ob das Hineingleiten in die Demenz, trotz der fatalen Aspekte, auf den Patienten eine eigenartige, fast verführerische Attraktion ausübte, einen "regressiven Sog" sowohl im entwicklungspsychologischen als auch im zeichentheoretischen Sinne. Neuropsychologisch zeigte sich nach einer etwa 2-3 jährigen stabilen Plateauphase eine langsam progrediente Verschlechterung der intellektuellen Leistungsniveaus.

Die biosemiotische Sicht der Alzheimer- Krankheit: Passungsverlust und Rückzug von der Konstruktion von Umwelt

Wie sehen die Prozesse aus, welche sich zwischen dem Organismus und seiner Umwelt (als der "Einheit des Überlebens", siehe Bateson, 1985) abspielen? Es handelt sich, sowohl auf der molekularbiologischen Ebene, als auch auf der Ebene der Zellen, der Organsysteme, der Gesamtorganismen sowie auf der interpersonalen Ebene um Zeichenbeziehungen, die wir mit der Sprache der Biosemiotik beschreiben können: Der "Interpret" (Organismus) verwendet Einwirkungen von außen (Signale oder Perturbationen) als "Zeichen" für Objekte oder Vorgänge in seiner Umwelt (Objekte oder Vorgänge sind das "Bezeichnete"). Dadurch erfolgt eine "Bedeutungserteilung", die von dem "Interpretanten" (d. h. dem Bedürfnis) des Interpreten abhängt (Peirce, 1991, 2000; siehe dazu bereits Jakob von Uexküll, 1940).

Gelingt der zirkuläre Austausch zwischen lebendem Organismus und Umwelt im Sinne einer körperlichen oder seelischen Bedürfnisbefriedigung in ausreichender Weise, dann sprechen wir von einer "Passung" zwischen Individuum und Umwelt. "Passungsstörungen" charakterisieren den immer wieder notwendigen Übergang von einer Passung zu einer neuen (mittels Assimilation oder Akkomodation im Sinne von Piaget). Krankheitsprozesse jedoch sind die Folge eines "Passungsverlustes" zwischen Individuum und Umwelt, sei es auf molekular-zellulärer Ebene, auf der Ebene von Organsystemen oder auf der (inter-)personalen Ebene. Passungsstörungen auf einer Ebene können über Aufwärts- und Abwärtseffekte zu Gesundheitsstörungen auf anderen Ebenen führen (siehe auch von Foerster, 1999).

Zur prämorbiden Entwicklung der Kranken: Rückzug aus der Konstruktion von Umwelt

Damit die Beziehung zwischen Individuum und Umgebung und damit Passung gelingen kann, müssen die jeweiligen Umgebungsbedingungen hinreichend sein. Das Individuum muss sich seine Umgebung "passend" machen können, es muss die Umgebung für seine Bedürfnisse "in Form bringen" können. Diese auf die körperliche, seelische und geistige Bedürfnisbefriedigung hinzielende aktive Gestaltung der Umwelt ist mit neuronaler Aktivität verbunden.

Der zentrale Prozess der Alzheimer- Krankheit ist: Das Individuum zieht sich von der Gestaltung seiner Umgebung dauerhaft zurück, weil eine Umwelt- Konstruktion nicht mehr möglich ist. Der Versuch, aus Umgebung eine passende Umwelt zu konstruieren, wird aufgegeben. Davon sind auch neurobiologische Auswirkungen zu erwarten. Dazu passen empirische Studien (z. B. mit in reizarmer Umgebung gehaltenen Tieren, siehe z. B. Renner und Rosenzweig, 1987, Übersicht bei Bauer, 1994). Wie Piaget eindrucksvoll aufzeigte, steht bereits beim Kind die Entwicklung der geistig-intellektuellen Kompetenz und des Seelischen in enger Beziehung zu den Interaktionen zwischen Kind und jeweiligen Umgebungspersonen (Piaget, 1975).

Umkehrung der kindlichen Intelligenz- Entwicklung nach Piaget

Eine im Jahre 1996 von einer amerikanischen Arbeitsgruppe um Matteson und Lichtenstein durchgeführte Untersuchung an Alzheimer-Patienten ergab, dass die intellektuellen Beeinträchtigungen bei der Alzheimer-Krankheit exakt entlang den von Piaget definierten Stufen der intellektuellen Entwicklung des Kindes verlaufen, allerdings in umgekehrter Richtung (Matteson, 1996). Bei über 50 Demenzpatienten wurde mit dem Mini- Mental- State- Test einerseits die Schwere der Demenz bestimmt, andrerseits wurden die gleichen Patienten mit Testinventaren untersucht, mit welchen sich die Entwicklungsstufen nach Piaget bestimmen lassen.

Alzheimer-Patienten mit beginnender Demenz entsprechend einem Mini-Mental- State- Wert von 23 Punkten zeigen testpsychologisch einen Verlust der Fähigkeit für hypothetische Strategien und für abstrakte gedankliche Operationen, wie sie für das nach dem 12. Lebensjahr erreichte Entwicklungsniveau für formale Operationen charakteristisch ist. Die Kompetenz solcher Alzheimer-Patienten im Frühstadium entspricht dem Niveau für konkrete Operationen, welches Piaget für die Phase zwischen 7. und 12. Lebensjahr beschrieben hat.

Ab einem Mini- Mental- State- Testwert von etwa 14 Punkten und weniger, also im mittleren Stadium der Demenz, entspricht die intellektuelle Kompetenz von Alzheimer-Patienten der sogenannten präoperationalen Phase, die Piaget zwischen dem 2. und 7. Lebensjahr ansiedelt. Bei einem Mini- Mental- State- Wert von 2 Punkten und weniger haben die Patienten das sogenannte sensomotorische Anpassungsniveau der ersten beiden Lebensjahre erreicht.

Wechselspiel zwischen geistig- seelischer Entwicklung und den Interaktionen zwischen Individuum und Umwelt

Aus der Studie von Matteson (Matteson, 1996) folgt, dass es für das Verständnis der Situation von Alzheimer-Patienten erforderlich ist, sich mit der Entwicklung des Geistig-Seelischen beim Kind zu befassen, wie sie sich, u. a. aufgrund der brillanten empirischen Untersuchungen durch Daniel N. Stern u. a. uns heute darstellt (Stern, 1998).

In den ersten 4 Lebensmonaten benötigt der Säugling für eine erfolgreiche Beziehungsgestaltung eine Umgebung, die sich seinen Bedürfnissen in hohem Maße aktiv anpasst, damit er sich diese erste Umwelt nach der Geburt passend machen kann. Die in den ersten 4 Monaten zwischen Säugling und Mutter ausgetauschten Zeichen betreffen körperliche Bedürfnisse und Empfindungen, Mimik, Sprachmusik. Die in dieser Zeit ausgetauschten Zeichen werden, nach der zeichen-theoretische Terminologie von Peirce, als "ikonische" Zeichen bezeichnet (Peirce, 1991, 2000). Daniel Stern spricht in dieser Phase von der "amodalen Wahrnehmung" des Säuglings (Stern, 1998). Die Eindrücke der Umgebung werden vom Säugling nach Ähnlichkeiten sortiert.

Bei Piaget findet sich diese Phase als Unterstadium 1-3 der sensomotorischen Anpassungsphase beschrieben, in welcher der Säugling qualitativ ähnliche Ereignisse assoziiert (Piaget, 1975). Der Säugling versucht Bewegungsmuster zu wiederholen, die sich nach dem trial- and- error- Prinzip als nützlich erwiesen haben ("primary circular reaction"), intendierte Bewegungen sind noch nicht möglich. Mit Blick auf die Entwicklung des psychischen Selbst taucht in dieser Phase der frühen Mutter-Kind-Interaktion beim Säugling ein Frühstadium der Selbstwahrnehmung, ein "sense of the emergent self" auf.

Ab dem vierten Monat beginnt der Säugling eine Wahrnehmung für die Verknüpfung von Ereignissen nach Raum und Zeit zu entwickeln. Zeichen können nun zu Vor-Zeichen für nachfolgende Ereignisse werden. In der zeichentheoretischen Terminologie von Peirce sprechen wir hier von "indexikalischen" Zeichen. Im Austausch zwischen Kind und Mutter kommen diese indexikalischen somit zu den ikonischen Zeichen hinzu. Beim Säugling entsteht jetzt eine Wahrnehmung für Kausalität. Er beginnt, sich selbst als Ursache von Veränderungen seiner Umwelt zu erleben. Damit erweitern sich die Möglichkeiten des Säuglings, sich seine Umgebung passend zu machen, sie für seine Bedürfnisse in Form zu bringen.

Nach Piaget kommt es in dieser Phase, in welcher das Verstehen von Kausalität beginnt, zum Beginn intendierter Bewegungen. Er hat diese Phase als Substadium 3-6 der sensomotorischen Anpassungsphase beschrieben. Mit Blick auf die Entwicklung des Selbst kommt es im Zusammenhang mit dem sich nun ausbildenden "sense of agency" beim Säugling zur Entwicklung des Selbstgefühl, das Gefühl des "Körper-Seins" entwickelt sich zum Gefühl des "Körper-Handelns".

Die Entwicklung des "Selbst", frühe Stimuli seiner intellektuellen Entwicklung und die Gefahr des "Falschen Selbst"

Die Entwicklung des Selbstgefühls wird, von Anfang an, vor allem in der Zeit nach den ersten 4 Lebensmonaten dadurch angeregt, dass die Umgebung sich nun immer weniger seinen Bedürfnissen anpasst. Die Umgebung, die Mutter soll lediglich "good enough" sein. Winnicott wies darauf hin, dass die beginnende Fähigkeit des Säuglings, eine nicht vollkommene Umwelt für sich in eine vollkommene zu verwandeln, der Beginn und entscheidende Stimulus seelisch-geistiger Aktivität ist (Winnicott, 1983).

Die Tatsache, dass der Säugling mit begrenzten Frustrationen zurechtkommen muss, markiert nicht nur den Anfang der Entwicklung des Selbst (-gefühls), sondern auch den Beginn der Intelligenzentwicklung. Sind die Umgebungsbedingungen des Säugling allerdings nicht "good enough", dann wird der Säugling zu einem Übermaß an Anpassung gezwungen. Hinsichtlich der Selbstentwicklung kann es, wie von Winnicott beschrieben, zur Entwicklung eines "falschen Selbst" kommen, welches sich nicht mehr ausreichend auch an seinen eigenen Bedürfnissen, sondern nur noch an jenen seiner Umgebung orientieren kann.

Nach der - zeichentheoretisch formuliert - ikonischen Frühphase und der sich daran anschließenden indexikalischen Phase beginnt etwa ab dem 2. Lebensjahr die Symbolbildung. Das Vorstellungsvermögen des Kindes erweitert sich zu einer Innenwelt der Phantasie und des Denkens. Es kommt zum Erwerb der Sprache und zum Erlernen sozial gelernter Bedeutungszusammenhänge. Damit beginnt der Austausch von "symbolischen" Zeichen. Die symbolische Zeichenwelt der Sprache sollte die ikonischen Zeichenwelt der frühen Fühlsphäre und die indexikalische Zeichenwelt mit ihren rational-pragmatischen Inhalten integrieren.

Austausch symbolischer Zeichen markiert den Beginn sprachlicher interpersoneller Kommunikation und umgekehrt. Beziehungen führen nun zur Konstruktion gemeinsamer, sozial geteilter Wirklichkeiten. Das in der indexikalischen Phase gültige pragmatische Realitätsprinzip (die Frage war hier "stimmt ein Funktionszusammenhang?", "nützt mir das Ergebnis?) wird nun durch das kommunikative Realitätsprinzip ergänzt (die Frage lautet jetzt "werde ich verstanden?" "kann ich den Anderen verstehen?).

Piaget hat die im 2. Lebensjahr beginnende Phase, in welcher der Austausch symbolischer Zeichen beginnt, als präoperationale Periode bezeichnet. Für dieses Stadium, welches er bis zum 7. Lebensjahr datiert, beschrieb er neben dem Gebrauch von Symbolen, Wörtern und mentalen Bildern die Entwicklung bestimmter logischer Strukturen, die Entwicklung von fokussierter Aufmerksamkeit sowie expliziter Gedächtnisleistungen. Nach sensomotorischer und präoperationaler Phase beschreibt Piaget das vom 7. bis zum 12. Lebensjahr verlaufende Stadium konkreter Operationen, und ab dem 12. Lebensjahr das Stadium formaler Operationen.

Symbolische Zeichenprozesse und Beziehungsgestaltung

Wenn sich die kindliche Intelligenzentwicklung, wie in vielen Untersuchungen gezeigt, nur im Kontext der Beziehungen des Kindes mit seinen Umgebungspersonen entwickeln kann, dann erscheint es als nicht unwahrscheinlich, dass sich eine krankhafte Zurückentwicklung der Intelligenz, wie wir sie bei der Alzheimer-Krankheit beobachten, sich ebenfalls im Kontext anhaltend gestörter Beziehungen zwischen Individuum und Umwelt ereignet.

Wie gestaltet sich z. B. die Kommunikation zwischen einem Paar, bei dem in den symbolischen Mitteilungen des einen Partners wenig Ikonizität, aber pragmatische Indexikalität im Übermaß enthalten ist, und wenn im Gegensatz dazu die symbolischen Mitteilungen des anderen Partners ein starkes Maß an ikonischer Fühlwelt, aber keine indexikalische Kompetenz ausdrücken? Unter bestimmten Bedingungen können sich beide die Aufgaben teilen. Der Partner mit hoher indexikalisch- pragmatischer Kompetenz wird die Lösung der Problemlöse-Aufgaben und die Entscheidungsfindungen des Alltags besorgen. Der Partner mit starker ikonischer Fühlwelt wird möglicherweise dafür sorgen, dass das Paar Freunde hat, mit denen es sich gut versteht.

Auf lange Sicht kommt es bei einer solchen kommunikativen Passungsstörung in einer Partnerschaft jedoch, wie Willi es ausgedrückt hat, zur Kollusion (Willi, 1975, 1978). Das heißt, für beide kann die bestehende Nicht-Passung in der Kommunikation und die sich daraus ergebende Störung in der Befriedigung seelischer Bedürfnisse zu einem unerträglichen Zustand werden.

Inhaltsanalyse von Alzheimer-Biografien: Typische Beziehungsmuster im Vorstadium der Erkrankung

Die qualitative Inhaltsanalyse der von uns in einer Studie untersuchten 21 Alzheimer- Biografien zeigte ein frappierend einheitliches Muster bei der Gestaltung der Partnerschaftsbeziehungen der später an Alzheimer erkrankten Personen (Bauer, 1995, 1998). Die später Erkrankten wurden konsistent als warmherzig, meist heiter beschrieben. Sie wurden als mitfühlend, anteilnehmend und weich geschildert, dabei aber wenig couragiert und unfähig, sich gegen Widerstände durchzusetzen. Zu gemeinsamen Kindern hatten die später Erkrankten im Vergleich zum Partner meist die emotional bessere Beziehung. Entscheidungsfindungen und Problemlöse-Aufgaben im Alltag seien dagegen vorzugsweise dem Partner oder anderen Bezugspersonen überlassen worden. Die Schilderungen erzeugten den Eindruck, dass später an Alzheimer Erkrankte über eine stark entwickelte ikonische Fühlwelt, jedoch über wenig indexikalische strategisch-pragmatische Kompetenz verfügen.

Die später Erkrankten scheinen sich in ihrem sozialen Umfeld in hohem Maße von der Gestaltung ihrer subjektiven Umwelt, von der Mitwirkung an der Konstruktion einer gemeinsamen kommunikativen Wirklichkeit zurückgezogen zu haben. Die Definitionsmacht (von Barbara Hanson als "definitional deficit" bezeichnet; Hanson, 1989) scheint in weitem Umfang an Bezugspersonen, in der Regel an den Partner abgegeben worden zu sein. "... it is in families in which a member is excluded from the process of reality construction that symptoms of senile dementia, or other pathologies, will be promoted" (Hanson, 1989). In vielen Fällen wurde der Status der später Erkrankten innerhalb ihrer Familie von Angehörigen außerhalb der Familie als quasi entmündigt beschrieben, obwohl noch keinerlei Anzeichen für eine bereits vorhandene Demenzsymptomatik vorhanden waren.

Übereinstimmung mit biografischen Untersuchungen anderer Arbeitsgruppen: Kropiunigg, Kondo, Friedland und Rothschild´s frühe Studien)

Dominanz des Partners in der prämorbiden Vorgeschichte war auch der Befund einer von der Arbeitsgruppe Ulrich Kropiunigg aus Wien durchgeführten Untersuchung an 50 Alzheimer-Patienten (Kropiunigg, 1999 a und b). Kropiunigg errechnete in seiner 1999 publizierten Untersuchung, dass Dominanz der Partners das Risiko für die Erkrankung im Vergleich zu einem Kontroll-Kollektiv um das 2,6-fache erhöhte.

Mit sehr aufwendigen quantitativen Methoden durchgeführte Studien einer japanischen Arbeitsgruppe um Kondo (Kondo, 1994) und einer amerikanischen Gruppe um Friedland (Friedland, 1996/1997) ergaben, dass später an Alzheimer erkrankte Personen über einen langen Zeitraum vor Einsetzen erster Symptome ein - gegenüber Kontrollpersonen - hochsignifikant vermindertes Maß an psychosozialer Aktivität zeigen Diese Befunde entsprechen voll den Beobachtungen unserer Studie.

Der biografische Ansatz bei der Untersuchung der Alzheimer- Krankheit hat einen frühen Vorläufer, der heute in Vergessenheit geraten ist und daher an dieser Stelle Erwähnung finden soll. David Rothschild, der in Harvard tätig war und bereist in den 30er Jahren Beiträge zur fehlenden Spezifität neuropathologischer Veränderungen bei der Alzheimer- Krankheit publiziert hatte (Rothschild, 1936, 1937), beschäftigte sich in den 40er und 50er Jahren mit der prämorbiden psychologischen Situation von Alzheimer- Krankheiten und beschrieb bei seinen Patienten den Befund eines "loss of outside support upon which they were dependent" (Sands und Rothschild, 1952, p. 236).

Frühe neuropsychologische Entwicklungslinien bei Alzheimer-Krankheit: Die "Nonnen-Studie"

Die in den Partnerschaften von später an Alzheimer-Krankheit erkrankten Patienten beschriebene Tendenz, sich aus der Wirklichkeitskonstruktion zurückzuziehen, scheint eine bereits früh im Leben der später Erkrankten beobachtbare Entwicklungslinie zu sein. Eine amerikanische Arbeitsgruppe um David Snowdon und William Markesbery hatte die Möglichkeit, in einem amerikanischen Kloster 93 im Ruhestand befindliche Nonnen zwischen 75 und 96 Jahren auf Demenz zu testen. Die Untersucher setzten die Ergebnisse von quantitativen Demenztests in Beziehung zu schriftlichen Aufsätzen, welche die Frauen ca. 60 Jahre zuvor als Novizinnen beim Eintritt ins Kloster hatten schreiben müssen (Snowdon, 1996).

Die mit Linguisten vorgenommene sprachanalytische Untersuchung der Aufsätze ergab, dass die im Alter an Demenz erkrankten Nonnen bereits als durchschnittlich 22-Jährige signifikant weniger ideenreiche und sprachlich weniger komplexe Aufsätze geschrieben hatten (Snowdon, 1996). Die Ergebnisse dieser 1996 publizierten "Nonnen-Studie" könnten ein Hinweis darauf sein, dass sich die Disposition zur Entwicklung einer Alzheimer-Krankheit bereits früh in der kindlichen seelischen und neuro-psychologischen Entwicklung ausbildet.

Störungen der Selbst-Psychologie bei Alzheimer-Patienten

Die später Erkrankten wurden als Persönlichkeiten beschrieben, denen eine fröhlich-harmonische Atmosphäre sehr wichtig gewesen sei. Offene Konflikte seien von den später Erkrankten als angstauslösend, depressionserzeugend und verwirrend erlebt worden. Nachgiebigkeit sowie Verleugnungs- und Besänftigungsstrategien scheinen für die später Erkrankten einen absoluten Vorrang vor einer Herbeiführung einer Klärung beim Vorliegen von Meinungsverschiedenheiten gehabt zu haben. Dominanz und Führung durch die Partner einerseits, Anpassung und Selbstverleugnung der später Erkrankten andrerseits wurde in vielen Biografien als derart ausgeprägt beschrieben, dass sich der Eindruck ergab, die Partner seien für viele der später Erkrankten zu Selbstobjekten, also zu externen Trägern des eigenen Selbstgefühls und der eigenen Vollkommenheit geworden (Bauer, 1994 b).

Das Ausmaß der beschriebenen Anpassung und Selbstverleugnung machte nicht nur eine schwere aggressive Hemmung der später Erkrankten deutlich, sondern erinnert an die von Winnicott beschriebene Bildung eines "falschen Selbst". Zu dieser Annahme passen die in 2/3 (67%) unserer Fälle geschilderten schweren Vernachlässigungs-, Überforderungs- bzw. Traumasituationen in der Kindheit, was auf einen überstarken Anpassungsdruck hinweisen und die Bildung eines "falschen Selbst" begünstigt haben könnte. In Übereinstimmung mit dieser Annahme fand Kropiunigg aus Wien in einer tiefenpsychologischen Studie Hinweise auf ein, wie er es nannte, "ephemer- fragiles Selbst" in der prämorbiden Persönlichkeit seiner 50 untersuchten Alzheimer-Patienten (Kropiunigg, 1999).

Beziehungsgestaltung und Abwehrmodi in der therapeutischen Übertragungssituation

Die Beziehungsgestaltung einiger Alzheimer-Patienten, nun allerdings bereits nach Einsetzen der Erkrankungssymptome, konnte von uns zusätzlich auch an der Übertragungsbeziehung abgelesen werden, welche sich in den psychotherapeutischen Behandlungen entwickelte. Zu den Patienten stellte sich rasch ein liebenswürdiger und warmherziger wechselseitiger Kontakt her. Die Patienten führten sich gegenüber dem Therapeuten eher als inkompetenter und hilfsbedürftiger ein als sie tatsächlich waren. Sie reagieren allerdings dankbar und erleichtert, wenn das gegenüber dem Therapeuten ausgedrückte Beziehungsangebot, sie als kommunikativ inkompetent und als nicht ernst zu nehmen zu behandeln, vom Therapeuten nicht angenommen wurde.

Aus den von den Patienten in den Therapien entwickelten Themen wurde deutlich, dass sie eine Ambivalenz gegenüber der partnerschaftlichen Situation erleben. Vor allem zu Beginn der Therapie, brachten die Patienten ein erheblichen Maß von Frustration über das in der Partnerschaft erlebte Unglück, über ihre Inferiorität und über die Nichtbeachtung ihrer Wünsche zum Ausdruck. Andrerseits wurde rasch deutlich, welche Angst und Konfusion für die Patienten mit dem Austragen eines Konfliktes verbunden ist. Es war wiederholt beobachtbar, dass bereits die Thematisierung eines möglichen Konfliktes in der Therapiesituation akut dazu führte, dass die Patienten nicht weiterdenken oder sich plötzlich nicht mehr erinnern konnten. Vorherrschende Abwehrmechanismen der Patienten sind zum einen die Verleugnung, des weiteren die Wendung der Aggression gegen das Selbst, das Verschwinden in eine Art dissoziative Abwesenheit, und - last not least - das Vergessen.


Die Validierung der Patienten durch den Therapeuten und die dadurch erfolgte Wiederherstellung des kommunikativen Realitätsprinzips durch den Therapeuten führt leicht zu mehr oder weniger offenen Spannungen mit den Partnern, welche im Rahmen ihrer Beziehungsgeschichte mit dem Patienten meist seit längerem dazu übergegangen waren, Äußerungen der dann Erkrankten unter einen Generalvorbehalt zu stellen. Angesichts der eingespielten Abwertung der Erkrankten, auf der die Partner oft ärgerlich bestehen, wurde oft ein erhebliches pathogenes Potential seitens der Partner spürbar. Ein möglicherweise lohnender Ansatz könnte aus diesem Grunde ein Versuch einer systemisch orientierten Paartherapie von Alzheimer-Kranken sein.

Auslösende Situation und Einsetzen erster Demenzsymptome

In den von uns untersuchten Biografien hatte die langjährige Beziehungsgestaltung vor Einsetzen erster Erkrankungssymptome ein erhebliches Ausmaß an alltagspraktischer Abhängigkeit der später Erkrankten von ihrem Partner zur Folge. Diese Situation kann offenbar jedoch über sehr lange Zeiträume, vielleicht lebenslang kompensiert bleiben. Relativ kurze Zeit, etwa ½ bis 2 Jahre vor Beginn erster klinischer Zeichen der Demenz fand sich bei allen Erkrankten ein schweres Belastungsereignis. Bei den meisten später Erkrankten kam es dadurch entweder zu einem Wegfall des Partners, z. B. durch Tod, oder - wie in der Mehrheit der von uns untersuchten Fälle - zu einer Zuspitzung der Partnerschaftsproblematik mit einem schweren offenen Konflikt, der eine nicht beherrschbare Stress-Situation und einen Wegfall der bislang vorhandenen Unterstützung bedeutete. Oft hatten sich parallel auch interpersonelle Probleme am Arbeitsplatz zugespitzt.

Die später Erkrankten waren durch diese Belastungsereignisse in eine von ihnen als ausweglos erlebte Situation geraten. In dieser Situation wurde eine resignative Reaktion der kurze Zeit später Erkrankten beschrieben. Es scheint dabei zu einem schlagartigen Rückzug aus der - ohnehin nicht stark entwickelten- Beteiligung an kommunikativer Wirklichkeitskonstruktion gekommen zu sein. Dies dürfte - vor dem Hintergrund der geschilderten psychobiologischen Zusammenhang zwischen psychosozialer Aktivität, neuronaler Funktion und Struktur - von einem Rückgang der bereits vorher reduzierten neuronalen Aktivität begleitet sein und könnte den Startpunkt eines dann irreversiblen degenerativen Prozesses mit Synapsenverlust und neuronaler Schädigung markieren.

Die Bedeutungen der Demenz im Kontext: Selbstrettung und sekundärer Krankheitsgewinn

Psychodynamisch lässt sich die Demenzerkrankung als Ausweg aus einer für die Patienten anders nicht lösbaren Konfliktsituation verstehen. Das Vergessen in der Demenz scheint einen Ausweg aus einer nicht mehr aushaltbaren Situation, aus der drohenden Selbstvernichtung zu bieten. Die Demenz wäre ein Versuch der Selbstrettung. Der Weg in die Demenz bedeutet gleichzeitig aber auch eine Zuspitzung des - bereits zuvor langjährig angelegten - bisherigen Beziehungsmusters mit einer jetzt erst recht verstärkten Abhängigkeit und Inferiorität auf Seiten des Patienten. Die bereits zuvor beeinträchtigte Kommunikation in der Partnerschaft, also die bereits vor der Erkrankung erheblich verminderte Teilhabe an der gemeinsamen Wirklichkeitskonstruktion wird nun vollends aufgegeben zugunsten einer Regression auf die ikonische Zeichenebene einer frühkindlichen Fühlwelt. Die dadurch erzeugte Verschärfung der Hilfsbedürftigkeit hat eine Bindung des Partners zur Folge, welche verloren zu gehen drohte.

Nicht zuletzt bietet die Demenz dem Erkrankten aber auch einen gewissen Freiraum für die gegenüber dem Partner angestauten aggressiven Impulse und Revanchebedürfnisse, die zuvor jahrelang nicht ausgedrückt werden durften. Die im Rahmen der Demenz auftretende und bei erhöhtem Druck seitens des Partners sofort akzentuierte Inkompetenz enthält, affektiv gesehen, ein erhebliches Aggressionspotential. Ein Beispiel war in diesem Zusammenhang eine erst Anfang 40jährige, mittlerweile verstorbene Demenzpatientin, die ich vor Jahren behandelte: Ihre Mimik drückte eine diebische Freude aus, wenn ihr Mann an die Decke ging, wenn sie ihn "versehentlich" mit dem Namen eines früheren außerehelichen Geliebten angesprochen hatte.

Zusammenfassung

Zusammenfassend sprechen die Ergebnisse der Studien verschiedener Arbeitsgruppen, die Befunde unserer eigenen biografischen Untersuchungen und die Beobachtungen aus den durchgeführten Behandlungen von Patienten dafür, dass später an Alzheimer erkrankte Personen bereits in ihrer seelischen (Selbst-) Entwicklung traumatisiert wurden. Das Selbst konnte sich nur schwach entwickeln, es entwickelte sich eine Tendenz zur Überanpassung und zum "falschen Selbst". Es konnte kein markantes Gefühl der eigenen Identität entstehen.

Als Reaktion auf eine Mangelversorgung in der Phase des frühen emotionalen (ikonischen) Erlebens und auf eine Überforderung und erzwungene Überanpassung (in der indexikalischen Phase) kommt es auf der symbolischen Stufe zu keiner gelungenen Integration der drei Zeichenebenen der Beziehungsgestaltung. Die Patienten bleiben in der (indexikalisch- pragmatischen) Alltagskompetenz und Wirklichkeitskonstruktion auf der symbolischen Ebene schwach. Neurobiologisch scheint dies mit einer Schwächung der synaptischen Vernetzung im Kortex und schließlich mit dem Eintritt in die Krankheit einherzugehen.

Die später Erkrankten entwickeln einen durch Konfliktvermeidung und psychosoziale Inaktivität charakterisierten Lebensstil. Möglicherweise als Kompensation suchen sie sich pragmatisch (indexikalisch) hochkompetente Partner, von denen sie jedoch zunehmend abhängig werden. Schwere Störungen der Kommunikation und aufbrechende Konflikte im späteren Verlauf der Beziehung führen zu einem Zusammenbruch des bis dahin kompensierten Zustandes, zur Resignation, zur Regression und zum Einsetzen der Demenzerkrankung.

Literatur:

Alzheimer A. Über eigenartige Krankheitsfälle des späteren Alters. Zeitschr f die ges Psychiatr u Neurol 1911; 4:356-385

Auerbach C. Development of the true self: A semiotic analysis. Psychoanalysis and contemporary thought 1991; 14: 109-142

Bateson G. Ökologie des Geistes. Suhrkamp, Frankfurt/M. 1985

Bauer J, Berger M. Neuropathologische, immunologische und psychobiologische Aspekte der Alzheimer-Demenz. Fortschr Neurol Psychiat 1993; 61:225-40

Bauer J. Die Alzheimer-Krankheit: Neurobiologie, Psychosomatik, Diagnostik und Therapie. Schattauer, 1994

Bauer J, Bauer H, Teising M. Psychosomatische Aspekte der Alzheimer- Demenz. In. Psychotherapie bei Demenzen (R. Hirsch, Hrsg.). Steinkopff verlag Darmstadt, 1994 b

Bauer J, Stadtmüller G, Qualmann J, Bauer H. Prämorbide psychologische Prozesse bei Alzheimer- Patienten und bei Patienten mit vaskulären Demenzerkrankungen. Z Gerontol Geriat 1995; 28: 179-189

Bauer J. Möglichkeiten einer psychotherapeutischen Behandlung bei Alzheimer- Patienten im Frühstadium der Erkrankung. Nervenarzt 1997; 68: 421-424

Bauer J, Qualmann J, Stadtmüller G, Bauer H. Lebenslaufuntersuchungen bei Alzheimer- Patienten: Qualitative Inhaltsanalyse prämorbider Entwicklungsprozesse. In: Jahrbuch der Medizinischen Psychologie (E. Brähler, M. Bullinger, H.P. Rosemeier, B. Strauß, Hrsg.) Bd. 16: Psychosoziale Gerontologie (A. Kruse, Hrsg.), Band 2: Intervention, pp 251-274. Hofgrefe, Göttingen-Bern-Toronto-Seattle, 1998

Brähler E, Adler C. Quantitative Einzelfallanalysen und qualitative Verfahren. Psychosozial Verlag, Gießen, 1996

Duyckaerts C, Hauw JJ, Piette F, Rainsard C, Poulain V, Berthaux P, Escourolle R. Cortical atrophy in senile dementia of the Alzheimer type is mainly due to a decrease in cortical length. Acta Neuropathol (Berlin) 1985; 66: 72-74

Eccles JC. Evolution of consciousness. Proc Natl Acad Sci USA 1992; 89: 7320-4

Eisenberg L. The social construction of the human brain. Am J Psychiat 1995; 152: 1563-1575

Flick U, Kardorff E v, Keupp H, Rosentstiel L v, Wolff S (Hrsg.). Handbuch Qualitative Sozialforschung, Psychologie Verlags Union, München, 1991

Foerster H. von , Glaserfeld, E. v.. Wie wir uns erfinden. Carl Auer Systeme, Heidelberg 1999

Friedland RP, Smyth KA, Rowland DY, Esteban-Santillan C, Koss E, Cole R, Lerner AJ, Whitehouse PJ, Petot G, Debanne SM. Premorbid activities are reduced in patients with Alzheimer´s disease as compared to age and sex matched controls: results of a case- control study. In: Proceedings of the Fifth International Conference on Alzheimer´s Disease and Related Disorders (K Iqbal, B Winblad, H Wisniewski, eds.) John Wiley and Sons, London, 19996/1997

Gellerstedt N. Zur Kenntnis der Hirnveränderungen bei der normalen Altersinvolution. Upsala Läkareforen Förhandl 1932/1933; 38: 193-409

Hanson BG. Definitional Deficit: A model of senile dementia in context. Fam Proc. 1989; 28:281-289

Jüttemann G. Komparative Kasuistik. Asanger, Heidelberg, 1990.

Kondo K, Niino M, Shido K. A case- control study of Alzheimer´s disease in Japan: significance of life- styles. Dementia 1994; 5: 314-326

Kropiunigg U, Sebek K, Leonhardsberger A, Schemoer M, Dal-Bianco P. Psychosoziale Risikofaktoren für die Alzheimer-Krankheit. Psychother Psychosom med Psychol 1999; 49: 153-159

Kropiunigg U. Kompensation und ephemer-fragiles Selbst: Eine individualpsychologische Analyse der Alzheimer-Krankheit. Z f. Individualpsychologie 1999; 24: 186-202

Masliah E. Mechnaisms of synaptic dysfunction in Alzheimer´s disease. Histol Histopathol 1995; 10: 509-519

Matteson MA, Linton AD, Barnes SJ, Cleary BL, Lichtenstein MJ. The relationship between Piaget and cognitive levels in persons with Alzheimer´s disease and related disorders. Aging Clin Exp Res 1996; 8:61-69

Mayring P. Qualitative Inhaltsanalyse. Deutscher Studien Verlag, Weinheim, 1993

Merzenich MM, Recanzone GH, Jenkins WM, Nudo RJ. How the brain functionally rewires itself. In: Natural and artificial parallel computations (M. Arbib, J.A. Robinson, eds.) Cambridge, MA: MIT Press, 1990, pp 177-210

Peirce, CH. Vorlesungen über Pragmatismus. Meiner, Hamburg. 1991

Peirce CH. In: Nöth W. Handbuch der Semiotik. Metzler, Stuttgart, 2000

Piaget J. Gesammelte Werke. Studienausgabe, Klett 1975

Renner MJ, Rosenzweig MR. Enriched and impoverished environments. Effects on brain and behaviour. In: Recent Research in Psychology. Springer, New York, 1987

Rothschild D, Kasanin J. Clinicopathologic study of Alzheimer´s disease. Arch Neurol Psychiat 1936; 36:293-321

Rothschild D. Pathologic changes in senile psychoses and their psychobiologic significance. Am J Psychiat 1937; 93: 757-788

Sands SL, Rothschild D. Sociopsychiatric foundations for a theory of the reactions to aging. J Nerv Ment Dis 1952; 116: 233-241

Snowdon DA, Kemper SJ, Mortimer JA, Greiner LH, Wekstein DR, Markesberry WR. Linguistic ability in early life and cognitive function and Alzheimers disease in late life. JAMA, 1996; 275: 528-532

Stern DN. Die Lebenserfahrung des Säuglings. Klett-Cotta, 1998

Swaab DF. Brain aging and Alzheimer´s disease, "wear and tear" versus "use it or lose it". Neurobiol Aging 1991; 12: 317-324

Terry RD, Masliah E, Salmon DP, Butters N, DeTeresa R, Hill R, Hansen LA, Katzman R. Physical basis of cognitive alterations in Alzheimer´s disease: synapse loss is the major correlate of cognitive impairment. Ann Neurol 1991; 30: 572-580

Uexküll J von. Bedeutungslehre. In: Bios, Abhandlungen zur theoretischen Biologie und ihrer Geschichte, sowie zur Philosophie der organischen Naturwissenschaften (A. Meyer-Abich, Hrsg.). Band X. Barth, Leipzig, 1940.

Wiesel TN. Genetics and behavior (editorial). Science 1994; 264: 1647

Willi J. Die Zweierbeziehung, Rowohlt, Reinbek 1975

Willi J. Die Therapie der Zweierbeziehung. Rowohlt, Reinbek 1978

Winnicott DW. Von der Kinderheilkunde zur Psychoanalyse. Fischer, 1983

Zum Autor:

Prof. Dr. Joachim Bauer, Jg. 1951, wurde nach Medizinstudium und einer molekularbiologischen Forschungszeit Internist, Psychiater und Arzt für Psychotherapeutische Medizin. Er durchlief eine sowohl tiefenpsychologische als auch verhaltenstherapeutische Ausbildung zum Psychotherapeuten. Er ist an der Abteilung Psychosomatik und Psychotherapeutische Medizin des Universitätsklinikums Freiburg als Leiter der Ambulanz tätig.

Adresse:

Prof. Dr. Joachim Bauer
Abteilung Psychosomatik und Psychotherapeutische Medizin
Hauptstrasse 8
D-79104 Freiburg
Tel (0049) 0761 / 270 6539
Email: joachim.bauer@dgn.de

 

Zurück zum Anfang des Dokuments