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Ist "Demenz" eine kulturelle "Erfindung"?

© Dr. Dr. Herbert Mück, Köln

Australien. Demenz ist vor allem ein Thema der westlichen Medizin, obwohl es alte Menschen mit vergleichbaren Symptomen weltweit gibt. Traditionelle Kulturen und östliche Länder gehen jedoch mir ihren alten verwirrten Menschen mitunter anders um und brauchen sie nicht mit einem speziellen Etikett ("Demenz") zu versehen. Im Westen schafft dagegen die Unterscheidung zwischen "normalem Altern" und "Demenz" die Grundlage, um Gelder für entsprechende Forschungsvorhaben oder auch für die Unterstützung der Betroffenen bereitzustellen. Diese und andere interessante Denkanstöße gibt K. Pollitt in einem anthropologisch ausgerichteten Beitrag.

Relativ wenig Aufmerksamkeit wurde bislang der Frage gewidmet, inwieweit soziale Faktoren zum Problem "Demenz" beitragen. Ob eine Person "hilflos", "infantil", "störend" und letztlich "dement" ist, hängt nämlich nicht nur von dieser selbst ab. Mindestens genau so wichtig ist der entsprechende Beitrag der Gesellschaft. Wenn sie einem alten Menschen nicht genügend Hilfen zur Verfügung stellt, diesen wie ein Kind behandelt und sich durch ihn in den gesellschaftlichen Abläufen "gestört" fühlt, wirkt sie an der Stigmatisierung auffälliger ("dementer") Menschen mit.

Beispiele aus dem interkulturellen Vergleich verdeutlichen, wie sehr gesellschaftliche Einflüsse auch die Untersuchung des Phänomens "Demenz" erschweren können. Bekanntlich ist man ja gerade beim Studium der Demenz besonders auf Angaben von Dritten angewiesen, um ein Verhalten als "dement" zu klassifizieren. Nun gibt es aber Kulturen, in denen man ungern von privaten Dingen spricht, Frauen üblicherweise den Männern das Reden überlassen oder es wichtig ist, dem Fragenden einen Gefallen zu erweisen. Sind die auf solche Weise gewonnenen Daten dennoch verwertbar? Epidemiologische Studien auf Krankenhausdaten zu stützen, ist ebenfalls sehr fraglich, da auch die Inanspruchnahme von Krankenhäusern kulturabhängig ist (Scham, Aberglaube usw.). "Objektive" Überprüfungen durch Autopsien sind mitunter aus religiösen Gründen nicht möglich.

Demenz ist, was der Demenz-Test mißt

Inwieweit sie Demenzen zuverlässig erfassen, müssen sich auch gängige Tests wie der Mini Mental State (MMS) fragen lassen. Entwickelt sich etwa jeder vierte Einwohner von Santa Cruz bereits deswegen in Richtung einer Demenz, weil er den Namen des brasilianischen Präsidenten nicht kennt (= Frage aus dem MMS)? Wie soll man die Schwierigkeiten beurteilen, die Menschen ohne Schulbildung haben, wenn sie die Zeichen und Rechenaufgaben des MMS absolvieren sollen? Was ist davon zu halten, wenn die Einwohner von Slum-Vierteln in Thailand es als unwichtig ansehen, das Tagesdatum zu kennen?

Auch Manuale wie DSM-IV und ICD-10 stoßen schnell an kulturelle Grenzen, wenn sie für die Diagnose einer Demenz verlangen, daß die Symptome die Ausübung der täglichen Aktivitäten nachhaltig beeinträchtigen. Dementsprechend wird man bei deutschen Senioren vielleicht schon bald eine Demenz vermuten, wenn sie nicht mehr in der Lage sind, ihren Haushalt zu führen sowie ihre Bankgeschäfte und Einkäufe selbst zu erledigen. Dagegen käme man in Indien vermutlich schon deswegen nicht auf eine solche Idee, weil man in indischen Großfamilien solche Dinge von älteren Menschen generell meist nicht mehr verlangt.

Wie kulturelle Sichtweisen den Umgang mit "Demenz" auch positiv beeinflussen können, zeigen ozeanische Gesellschaften. Dort herrscht die Vorstellung, daß alte Menschen deswegen über ihre geistigen Kräfte nicht mehr voll verfügen, weil sie diese an die jüngere Generation weitergegeben haben. Eine solche "Großzügigkeit" ermuntert vermutlich zu einem ganz anderen Umgang mit "Dementen" als die Vorstellungen westlicher Gesellschaften von einem "geistigen Verfall".

Nach K. A. Pollitt: Dementia in old age: an anthropological perspective. Psychological Medicine 1996 (26) 1061-1074


Wir danken

für die Bereitstellung des Textes aus dem ZNS- bzw. DEMENZ-SPEKTRUM

 

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