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Wie wirklich ist die Realität Demenz-Kranker?

© Dr. Dr. Herbert Mück, Köln

Von Dr. Dr. med. Herbert Mück, Arzt-Psychotherapie (Redaktion Demenz-Spektrum)

Die Frage, was ist "real" und was existiert vielleicht nur in unserer Vorstellung, beschäftigt die Menschheit schon lange. Dabei dachten die Philosophen keineswegs an den kranken, sondern durchweg an den gesunden Menschenverstand. Wenn sich allein schon der Realitätsbezug eines gesunden Verstandes bezweifeln läßt, was muß dann erst für den Verstand eines Demenz-Kranken gelten?

In der modernen Wissenschaftstheorie gewinnt in letzten Jahren der "radikale Konstruktivismus" immer mehr Anhänger. Nach seiner zentralen These ist alle Wirklichkeit ohnehin nur eine Konstruktion des menschlichen Gehirns. Das für "wirklich" Gehaltene ist in erster Linie ein Produkt der menschlichen Sinnesorgane und zerebraler Verarbeitungsprozesse. Die vom Nervensystem erzeugten Vorstellungen von der Welt sagen deshalb mehr über die Art und Weise ihres Zustandekommens aus als über dasjenige, was sie angeblich abbilden.

Vor diesem Hintergrund läßt sich dementielles Denken und Erleben nicht länger pathologisieren. Denn aus konstruktivistischer Sicht leben auch alle Gesunden in ihren eigenen Welten, nur sind sie sich dieser Unterschiede meist nicht bewußt, da sie nicht so ausgeprägt sind wie die Unterschiede zur Welt Demenz-Kranker. Wie übermächtig der Realitätseindruck der menschlichen Innenwelt sein kann, ist den meisten Gesunden vom Träumen vertraut. Wer schon einmal voller Angst, mit Herzklopfen und schweißgebadet aus einem Alptraum erwacht ist, weiß, wie "wirklich" ihm seine eigene Innenwelt mitunter erscheinen kann.

Gesunde Menschen können zwischen Traum und Tag meist ähnlich gut unterscheiden wie zwischen ihrem reinen Innenleben und Phänomenen, die sie einer Außenwelt zuordnen. Dagegen steht Demenz-Kranken diese Fähigkeit offenbar nicht mehr zur Verfügung. Es kommt hinzu, daß kognitiv Gesunde gemeinsam Welten konstruieren können. Bestes Beispiel sind die Regeln sozialer Welten (Staaten, Firmen, religiöse Gemeinschaften). Diese werden miteinander ausgehandelt und dann von allen Beteiligten geteilt. So sind sie für mehrere Menschen gleichermaßen "wirklich". Da Demenz-Kranke an solchen Verhandlungsprozessen nicht mehr teilnehmen können, fehlt ihnen eine wichtige Brücke zu einer wie auch immer gearteten Außenwelt.

Welche Schlußfolgerungen lassen sich aus dem bisher Gesagten für den Umgang mit Demenz-Kranken ziehen? Vor allem fordert die konstruktivistische Sichtweise, die Innenwelt der Patienten zu achten. Sie ist nicht weniger krankhaft oder unwirklich als diejenige sog. Gesunder. Der Demenz-Kranke ähnelt einem Schiff auf hoher See, das seine Navigationsgeräte und Anker verloren hat. So wird sein Kurs vor allem durch die Bauweise des Schiffes und alte Seekarten bestimmt. Nicht zuletzt fehlt ihm die Möglichkeit, an anderen Welten anzulegen, um sich mit deren Bewohnern über gemeinsame Koordinaten und die Position in einer alle verbindenden Welt auszutauschen.

Ein solches Bild hilft zu verstehen, warum der Kranke verwirrt, unruhig und ängstlich erscheint. Welcher Schiffsreisende in seiner Situation wäre es nicht? Außerdem leuchtet ein, wie hilfreich es die Kranken vermutlich erleben, wenn sie sich nicht mehr alleine, sondern wieder in Sicherheit fühlen, insbesondere in einer ihnen vertrauten Welt.

Noch immer erwartet die Umwelt von einem Demenz-Kranken, daß er sich in ihr wieder zurechtfindet. Vielleicht fällt der Umgang mit einem solchen Patienten leichter, ja wird er sogar zu einer interessanten Herausforderung, wenn man ihn wie einen Kaspar Hauser betrachtet, den der Sturm des Lebens an die Ufer einer für ihn fremden Welt gespült hat. Einem Kaspar Hauser gesteht man vermutlich eher zu, daß sich seine Innenwelt mit der veränderten Außenwelt nicht zwangsläufig deckt. Vielmehr macht er neugierig darauf, seine Vorstellungen und Gefühle zu erkunden, um so vielleicht grundlegende Erkenntnisse über das Menschsein zu gewinnen. Sollten wir auf eine solche Chance nur deshalb verzichten, weil es statt eines einzigen Kaspar Hausers Hundertausende von Demenz-Kranken gibt?

In Anlehnung an einen Vortrag auf dem 1. Kongreß der Bayerischen Alzheimer Gesellschaften, Erlangen 25.10.1996


Wir danken

für die Bereitstellung des Textes aus dem ZNS- bzw. DEMENZ-SPEKTRUM

 

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