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Die Welt ist so kompliziert geworden
oder
ein langer Abschied

von Jutta Strauß

Eine alte Frau, 84 Jahre ist sie geworden und sie ist meine Mutter. Sie weiß noch, meinen Namen und dass ich ihre Tochter bin, aber manchmal hat sie Schwierigkeiten, sich an meinen Geburtstag und –ort zu erinnern. Sie leidet an Durchblutungsstörungen im Gehirn auf Grund von mehreren kleinen Schlaganfällen.
Sie war früher Krankenschwester und hat eigentlich die meisten Krankheiten, die man im Krankenhaus trifft, gleich selbst übernommen. Ich sagte ihr immer: „Mama, sei nicht so gierig und überlass den anderen Patienten auch noch was übrig.“ Aber sie hielt sich nie dran und könnte Patientin auf jeder Station sein.

Vor gut einem Jahr fing ihr Abschied von unserer Welt an.
Zuerst verabschiedete sich von der Zeit, sie brachte die Wochentage nicht mehr auf die Reihe.
War heute Montag oder doch noch Sonntag?
"Wieso wird der Markt aufgebaut, der kommt doch immer freitags? Die müssen sich vertan haben! Heute ist nicht Freitag! Oder doch?"

„Jutta, wieso kommst du nicht? Ich muss doch um 8 Uhr beim Arzt sein!“ „Nein Mama, heute ist erst Sonntag! Du musst erst am Dienstag zum Arzt, das ist erst übermorgen, noch zweimal schlafen!“ „Wirklich? Ach daher sind heute noch so wenig Autos unterwegs, ich habe mich schon gewundert. Ach Jutta, die Welt ist so kompliziert geworden! Ich habe auf die Uhr gesehen und da stand Sonntag. Aber ich habe gemeint, das kann nicht stimmen.“

Dann kam der Abschied vom Raum.
Ein lang ersehnter Besuch bei Verwandten in dem Haus ihrer Eltern an einem verlängerten Wochenende südlich von Berlin.
Rückkehr nach einer schweigsamen Fahrt von 5 Stunden mit dem Auto. Wieder zurück in ihrer Wohnung, in der sie seit 21 Jahren wohnt. Wir packen die Koffer aus.
„Sag mal, Jutta, wo bin ich hier?“ „Aber Mama, du bist doch in deiner Wohnung! Kennst du sie nicht wieder?“ „Du hast hier doch schon mit Papa gewohnt!“ „ Das ist nicht meine Wohnung, die ist hier viel größer, auch wenn sonst alles genauso aussieht. Warum habt ihr einen Umzug gemacht, ohne mich zu fragen?“ „Aber Mama schau doch mal, es sind die gleichen Tapeten und Teppiche, die gleiche Raumaufteilung, die gleichen Möbel! Es ist deine alte Wohnung!“
Verzweifelter Anruf nach einer Stunde: “Jutta bring doch mal Koffer und Taschen mit. Ich habe hier so viele Sachen. Ich weiß nicht, warum ich die alle mitgebracht habe. Ich muss sie doch wieder zurückbringen!“
Anschließend Anrufe von meiner Mutter bei allen irritierten Verwandten, um ihnen mitzuteilen, dass wir mit ihr einfach umgezogen seien und sie nun nicht wüsste, wo sie eigentlich wohne.
Ebenso ein Anruf bei sehr weit entfernten Verwandten, um ihnen mitzuteilen, wir wären wieder gut angekommen. Allerdings hat sie dabei nicht nur den Ort, sondern auch die Zeit verwechselt, denn sie hat diese Menschen seit mehr als zehn Jahren weder gesehen noch gesprochen. Entsprechend erstaunt fragen sie nach, warum sie denn nicht mal zu einem Besuch vorbei gekommen sei und verstehen den Anruf nicht ganz.

Dann kam der Abschied von der Gegenwart.
Meine Mutter ruft mich zu sich, da sie doch in die Schule müsse und den Weg hier in der neuen Umgebung nicht kenne. Sie käme zu spät und bekäme Ärger mit den Lehrern.
„Mama, du bist 83 Jahre alt, du musst nicht mehr in die Schule.“ „Bist du da ganz sicher, Jutta?“

Anruf des Nachts um 2 Uhr: „Ich brauche ganz dringend eine Hebamme! Hören Sie? Das Fruchtwasser ist abgegangen!“
„ Mama, du bist 83 Jahre alt und bist schon mehrfache Großmutter. Du bekommst kein Kind mehr.“ „ Na vielleicht dauert es ja noch etwas mit der Geburt. Ich danke Ihnen.“

Danach ging es ihr für einige Wochen wieder gut und meine Mutter war wieder in unsere Welt zurückgekehrt.

Aber seit wenigen Tagen nimmt sie wieder Abschied.
Sie wohnt jetzt irgendwo in Berlin. Ich nehme an in Grünau, denn es sind nur 2 S-Bahnstationen von ihrem vermeintlichen Wohnort, die sie von ihrer alten Heimat trennen, wenn sie mich bittet, mit ihr das Elternhaus zu besuchen.
Früher sei sie da immer zu Fuß hingelaufen protestiert sie, als ich zu bedenken gebe, dass es über 500 km sind. „Ich will doch keine Deutschlandrundreise machen!“ meint sie empört.

Meine Mutter beschwert sich, dass die Verwandten sie nie besuchen. Wohnten ja nur um die Ecke, in unserer Welt liegen aber 550 km zwischen dem Rheinland und Berlin.

Inzwischen hat sie das Problem auf ihre Art gelöst, sie sind einfach da und sitzen in der Wohnung und unterhalten sich mit ihr.
Das Problem dabei ist nur, und das macht sie ärgerlich oder ängstlich je nach Alter der Besucher, sie gehen, ohne sich zu verabschieden. Plötzlich sind sie weg!
Und dann kommen verzweifelte Anrufe: "Die Kinder sind weg! Da ist doch das große Wasser! Wenn die da reinfallen! Und ich habe die Verantwortung! Ich bin doch nicht mehr gut zu Fuß, sonst würde ich sie ja suchen!" Sie ist dann nur zu beruhigen, wenn ich verspreche, mich auf die Suche zu machen.
Gleiches machen auch meine jetzt so schlecht erzogenen erwachsenen Söhne, eben sind sie noch da und wenn sie das Zimmer verlässt, um ihnen etwas zu essen zu machen, sind sie verschwunden, ohne ein Wort!
Das macht sie ganz wirr, erzählt sie mir und es wäre sehr unhöflich, beschwert sie sich bei mir." Die könnten doch wenigstens Auf Wiedersehen sagen, wenn sie gehen!"
Aber was soll ich machen, meine Söhne sind in unserer Welt zu der Zeit gerade nicht bei ihrer Großmutter gewesen, sondern bei ihrer jungen Familie, mit Freunden unterwegs oder der jüngste in einer anderen Stadt.

Meine Schwiegermutter klingelt bei uns gegen 21 Uhr, meine Mutter wäre bei ihr am Telefon und völlig aufgeregt und verzweifelt. Ich rufe sie an. Sie ist völlig atemlos: „Jutta, was soll ich denn bloß machen? Die Polizei hat geklingelt und mir ein 7 Monate altes Baby in den Arm gedrückt und dann sind sie wieder gegangen! Das ist ja ein niedlicher kleiner Junge und er lächelt mich die ganze Zeit an, aber ich kann doch nicht den ganzen Abend mit dem Baby auf dem Arm herum laufen!“ Ich versuche sie zu beruhigen und fahre gleich zu ihrer Wohnung. Es gibt kein Baby auf ihrem Arm, sie hatte diese Szene gerade im Fernsehen gesehen!

Da ihre Welt immer kommt und geht und das manchmal von einer Minute zur nächsten, weiß ich nie, was mich gerade bei meiner Mutter erwartet.
Ein Abschied oder ein Wiedersehen?

Geschrieben im Februar 2004, um meinen Freunden zu erklären, was mich gerade so verzweifeln ließ und zugleich „stumm“ machte.

Jutta Strauß


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