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Demenz-Kranke psychotherapieren

© Dr. Dr. Herbert Mück, Köln

von Dr. phil. Dr. med. Rolf Dieter Hirsch, Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Gerontopsychiatrie und -psychotherapie (Bonn)

Die Vorstellung, daß demente Patienten aus psychotherapeutischen Maßnahmen Nutzen ziehen könnten, erscheint auf den ersten Blick paradox. Denn die meisten anerkannten Psychotherapieverfahren setzen voraus, daß der zu Behandelnde über gute psychische Grundfunktionen verfügt (z.B. Wahrnehmung, Konzentration, Gedächtnis, Orientierung). Weitere Anforderungen sind je nach Methode: ausreichende Ich-Stärke, genügend Veränderungspotential, Motivation, Einsichts- und Lernfähigkeit, stabile Verankerung im sozialen Netz u.a. Alle diese Fähigkeiten bzw. Eigenschaften verlieren demente Menschen im Verlauf ihrer Krankheit immer mehr.

Gefühle statt Verstand behandeln

Wer seinen Blick nur auf diese Gesichtspunkte richtet, unterschätzt aber das "Wirkungsspektrum" psychotherapeutischer Maßnahmen. Dieses erstreckt sich auch auf affektive und emotionale Komponenten menschlichen Erlebens, also auf seelische Phänomene, die sich keineswegs parallel zu kognitiven Funktionen verschlechtern müssen. Zwar verändern sich die Affekte und Emotionen im Verlauf einer Demenz in einer Weise, die für Außenstehende oft unverständlich oder mißverständlich sind. Das schließt aber nicht aus, daß diese psychischen Funktionen bis zum schwersten Stadium einer Demenz beeinflußbar bleiben. Ja, eine therapeutisch bewirkte affektive Veränderung (z.B. die Verringerung von Angst und Depression) kann sich ihrerseits günstig auf das kognitive Leistungsvermögen auswirken.

Bezugspersonen einbeziehen

Und noch eine weitere Besonderheit psychotherapeutischen Handelns gegenüber Demenz-Kranken verdient hervorgehoben zu werden: Psychotherapie geschieht immer in Beziehungen. Auch wenn eine therapeutische Zweierbeziehung aufgrund der Demenz nur noch eingeschränkt möglich ist, kann man dem Patienten weiterhelfen, indem man spätestens jetzt die Familie des Kranken in die psychotherapeutischen Interventionen einbezieht. Dabei kann man ein bewährtes Prinzip aus der Kinderpsychotherapie übernehmen: "Behandele die Mutter, dann geht es dem Kind gut". Abgewandelt lautet es: "Behandele die Bezugspersonen, dann geht es dem Demenz-Kranken gut." Auch hier kommt die bereits bei den Affekten und Emotionen angedeutete Strategie "indirekten" Therapierens zum Tragen: Man fördert und stabilisiert die vorhandenen Fähigkeiten Demenz-Kranker, indem man ihrem Beziehungssystem dazu verhilft, stabiler und freier von Ängsten, Verzweiflung, Hoffnungslosigkeit, Wut und Enttäuschung zu werden.

Vor diesem Hintergrund läßt sich sagen, daß psychotherapeutische (Be)Handlungsansätze bei Demenz-Kranken dadurch bestechen, daß sie im Gegensatz zu manchen anderen Maßnahmen erfreulich wirksam sein können. Indem sie Verständnismöglichkeiten und darauf fußende Verhaltensstrategien aufzeigen (also Sinn stiften, die Isolation des Kranken so durchbrechen und dadurch Beziehung fördern), wirken sie der Hilflosigkeit und Resignation vieler Betreuer entgegen und motivieren so neu.

Psychosoziale Faktoren und Demenz-Entwicklung

Eine aktuelle Untersuchung von Bauer und Mitarbeitern (1994) bestätigt den Nutzen psychotherapeutischen Denkens in der Demenz-Therapie noch aus einem anderen Blickwinkel. Danach begegnet man im Vorfeld einer Alzheimer-Demenz überraschend oft den gleichen psychosozialen Belastungsfaktoren (vgl. das Interview mit Prof. Bauer in dieser Ausgabe). Im einzelnen handelt es sich um:
1. den Verlust sozialer Kontakte (insbesondere zu den eigenen Kindern) und die Entwicklung der Partnerschaft zur einzig wichtigen sozialen Beziehung;
2. eine dramatische Verschlechterung der Partnerbeziehung, die sich durch eine Dominanz des gesunden Partners und eine Überversorgung des künftigen Patienten auszeichnet;
3. eine Überforderung durch zugewiesene Aufgaben und Arbeiten;
4. beschämende Bloßstellungen und abwertende Kritik.

Sollte sich die Bedeutsamkeit dieser psychosozialen Faktoren bestätigen, würden sich damit möglicherweise psychotherapeutische Ansätze zur Prävention einer Alzheimer-Demenz und zugleich ein psychodynamisches Verständnis der Symptomatik eröffnen.

Überlegungen zur Psychodynamik der Demenz

So könnte man laut Bauer und Mitarbeitern die einsetzende Demenz als Versuch interpretieren, die verlorengegangene Fürsorge und Verantwortungsübernahme des Partners durch ein Auf-die-Spitze-Treiben der Hilflosigkeit wiederherzustellen. Da die Patienten vor ihrer Erkrankung einen Teil ihrer Persönlichkeit auf den Partner übertrugen, indem sie sich diesem unterwarfen, ließe sich ihr "Rückzug" in die Demenz als Versuch interpretieren, sich doch noch in letzter Minute vom Partner abzugrenzen und so die eigene Persönlichkeit (das "Selbst") zu retten. Zum Persönlichkeitsverfall der Patienten könnte beitragen, daß die Betreffenden die gegen sie gerichteten Entwertungen der Umwelt so weit verinnerlichen, daß sie schließlich selbst am weiteren Abbau ihrer Persönlichkeit mitwirken.

An psychodynamischen Erklärungsversuchen dementiellen Verhaltens mangelt es mittlerweile nicht mehr. So läßt sich das bei Demenz-Kranken regelhaft zu beobachtende "Regredieren" auf "kindliche" Verhaltensweisen als Versuch interpretieren, angesichts der Abnahme von Bestätigungen durch die Umwelt sich vermehrt positiven und Halt gebenden früheren Erinnerungen zuzuwenden. Hinter der zeitlichen Desorientiertheit kann der Wunsch stehen, die Zeit anzuhalten und Alter und Tod zu vermeiden.

Drerup (1994) weist auf die Häufigkeit von Zwangsphänomenen bei Demenz-Kranken hin. Dazu paßt die in der Literatur berichtete Beobachtung, daß das Sprachvermögen im Alter um so besser ist, je weniger rigide ein Mensch auf Konflikte reagiert. Auch Angst und Unsicherheit scheinen im Alter um so ausgeprägter zu sein, je rigider die charakterliche Anpassung im früheren Leben war.

Drerup vermutet, daß geistige Funktionen für Demenz-Patienten vor dem Beginn ihrer Erkrankung übermäßig bedeutsam sind. Als Ursache nimmt er frühkindliche Entbehrungen an, die zu einer seelischen Notsituation führten. Diese zwang das Kind, kompensatorisch seine geistigen Funktionen übermäßig zu aktivieren, um mangels äußerer Hilfe selbst Leib und Seele zu versorgen. Versagt dieser Kompensationsversuch, setzt sich erneut der alte Wunsch nach einer guten Umwelt durch, in der man ohne Geist existieren kann.

Demenz-Prävention durch Psychotherapie?

Die schon angesprochene "Demenz-Prophylaxe" durch Psychotherapie ist zum einen über eine Beeinflussung der erwähnten psychosozialen Faktoren denkbar. Dazu würde gehören, auf symbiotische Beziehungsmuster verzichten sowie Gefühle von Hilflosigkeit und Hoffnungslosigkeit ertragen bzw. Konfliktsituationen selbst lösen zu lernen.

Zum anderen erscheint es sinnvoll, besonders solche "Abwehrmechanismen" entbehrlich zu machen, die das kognitive Leistungsvermögen verschlechtern. So wirkt sich die "Verdrängung" nachteilig auf das Gedächtnis aus, die "Verleugnung" beeinträchtigt die Wahrnehmung und die "Isolierung" erschwert synthetisches Denken. Besonders zu Beginn einer Demenz wird es sich günstig auswirken, wenn man dem Betroffenen hilft, sich mit seinen kognitiven Defiziten auseinanderzusetzen und diese zu akzeptieren. Gelingt dies, wird sich der Betreffende leichter der neuen Situation anpassen, Hilfen bereitwilliger annehmen und so seine Selbständigkeit eher erhalten können. Akzeptiert er seine kognitiven Defizite dagegen nicht, wird sich seine Situation in der Regel unnötig verschlechtern, weil der Patient dann oft ausweichend, aggressiv sowie getragen von Illusionen, Verleugnung und Projektionen reagiert.

Wie lange psychotherapieren?

Solange der Demenz-Kranke über ein Ich-Bewußtsein (Selbstkonzept) verfügt, ist eine intensive persönliche Betreuung durch regelmäßige Gespräche nützlich (Wojnar 1994). Als Anhaltspunkt für das Vorhandensein eines Ich-Bewußtseins kann die Fähigkeit dienen, sich im Spiegel wiederzuerkennen. Je schwerer dem Kranken dies fällt, um so mehr wird sich das Schwergewicht auf verhaltenstherapeutische und familienbezogene Maßnahmen verschieben.

Anforderungen an den Therapeuten

Die Psychotherapie Demenz-Kranker setzt auf seiten des Behandlers Erfahrung, Kreativität und ein stabiles Selbstkonzept voraus. Der Therapeut sollte sich - insbesondere angesichts der Erwartungen der Umwelt - nicht dadurch irritieren oder kränken lassen, daß sich der Patient selbst nach einem Jahr Behandlung nicht einmal an seinen Namen erinnern kann. Dieses Beispiel verdeutlicht zugleich, daß der Erfolg psychotherapeutischer Maßnahmen bei Demenz nach eigenen Kriterien bemessen werden muß. Insbesondere ist vor einer Idealisierung des Änderbaren und damit einem überhöhten Anforderungsdruck zu warnen ("Alles Verhalten ist änderbar") (Junkers 1984). Zur Kreativität gehört es, herkömmliche Behandlungstechniken flexibel zu handhaben und gegebenenfalls zu erweitern. So können zum Beispiel ansonsten kontraindizierte Interventionen wie etwa Körperkontakt für Demenz-Kranke sehr wichtig sein. Weitere Modifikationen sind: häufigere und dafür kürzere Sitzungen, Konzentrieren auf die günstigste Tageszeit, mehrfaches Zusammenfassen der Gesprächsinhalte.

Wie bei jeder Psychotherapie gilt es auch gegenüber dem Demenz-Kranken, ihm das Gefühl zu vermitteln, daß man ihn in seiner Besonderheit akzeptiert. Der Patient muß spüren, daß man nicht immer nur seine Demenz oder Verwirrtheit beseitigen will, sondern ihm zugesteht, auf seine Art zu leben (Rasehorn 1994).

Vertiefend: Rolf Dieter Hirsch (Hrsg.): Psychotherapie bei Demenzen. Steinkopff, Darmstadt 1994. 192 Seiten. DM 49.-; hier finden sich auch die Beiträge der zitierten Autoren.


Wir danken

für die Bereitstellung des Textes aus dem ZNS- bzw. DEMENZ-SPEKTRUM

 

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