© Rosemarie Drenhaus-Wagner, Berlin,
1. Gerontologisches Forum im Münsterland
18. November 1997
Gewalt. Gewalt im höheren Lebensalter ist das
Thema dieses Forums.
Gewalt spielt leider eine gravierende Rolle im Umgang mit
Aggressionen in typischen Pflegesituationen. Aggressives Verhalten
der Kranken wird oft mit Gewalt beantwortet: Gewalt in Form von
fixieren, sedieren, diskriminieren und stigmatisieren. Aber auch
umgekehrt kann Gewaltanwendung in dieser und anderer Form beim
Kranken aggressives Verhalten auslösen.
Menschen mit Hirnleistungsstörungen im Alter sind in besonderer Weise der Gefahr ausgesetzt, festgebunden, ruhiggestellt, gedemütigt und gebrandmarkt zu werden. Dabei bedürfen gerade diese Menschen unseres besonderen Schutzes und unserer Fürsorge. Das sind Menschen, denen eine grausame Krankheit in einem unaufhaltsam fortschreitenden Prozeß alles nimmt: ihre geistige Leistungsfähigkeit, ihr Erinnerungsvermögen, ihre Orientierung, ihr Sprachvermögen und oftmals auch die Kontrolle über ihre Gefühle. Diese Symptome kennzeichnen das Krankheitsbild Demenz, unter dem viele Krankheiten zusammengefaßt werden wie z.B. die Demenz vom Typ Alzheimer, die Multiinfarktdemenz, die vaskuläre Demenz, um nur die häufigsten zu nennen. Ich werde deshalb im Folgenden von Demenzkranken reden.
Seit vielen Jahren betreue ich Demenzkranke und ihre pflegenden Angehörigen. Aus diesem Grund schränke ich das Thema auf Aggressionen in typischen Pflege- und Betreuungssituationen mit Demenzkranken ein. Ich werde einiges dazu sagen, was wir als Pfleger und Betreuer dazu tun können, um angemessen auf aggressives Verhalten von Demenzkranken zu reagieren. Mein Anliegen ist es jedoch, Wege aufzuzeigen, wie wir aggressive Reaktionen von vornherein vermeiden können. Dies ist nicht einfach und erfordert von uns ein Höchstmaß an Beobachtungsgabe, Einfühlungsvermögen und die Bereitschaft, uns auf die Ebene des Kranken zu begeben, ihn da abholen, wo er sich gerade befindet.
Ich will Ihnen keine graue Theorie vermitteln, sondern die Problematik an Beispielen erläutern, die aus dem Leben gegriffen sind. Jedes dieser Beispiele ist authentisch - nichts ist frei erfunden. Es sind ganz persönliche Erlebnisse aber auch zugetragene Vorkommnisse von denen ich im Rahmen der Praxisbegleitung von Pflegekräften aus Pflegeheimen erfahren habe. Ergänzt werden diese Beispiele durch Schilderungen aus meiner Angehörigenarbeit: den Beratungssprechstunden, Gesprächsgruppen und Telefongesprächen, die ich oft abends mit verzweifelten Angehörigen führe.
Beispiel 1: Aufschrei von Hilflosigkeit und Verzweiflung
Im Rahmen meiner Angehörigenarbeit verabredete ich mit einer
pflegenden Ehefrau einen Hausbesuch. Diese litt extrem unter dem
aggressiven Verhalten ihres alzheimerkranken Ehemannes. Er trat
jähzornig gegen Schränke und Türen, trommelte mit beiden Fäusten
gegen die Wände und schlug auch seine Frau aufs heftigste, so daß
diese bereits ihren Selbstmord plante. Ich wollte den Kranken
allein erleben und schlug machte der Ehefrau den Vorschlag, für
eine gute Stunde die Wohnung zu verlassen.
Dann erlebte ich den Kranken genau so, wie ihn mir seine Ehefrau immer geschildert hatte: Er trat gegen die Sessel, das Bett und trommelte mit den Fäusten gegen die Wohnungstür. Ich wollte herausfinden, was diesen Mann bewegte, sich so zu verhalten und sprach ihn deshalb mit einer warmen Stimme ruhig an. Trotz dieser sanften Ansprache kam er mit erhobenen Fäusten auf mich zu. Mir blieb keine Zeit diese Situation zu analysieren und so spiegelte ich intuitiv sein Verhalten: Mit ebenfalls erhobenen Fäusten und dem gleichen angespannten Gesichtsausdruck stand ich nun vor ihm und sagte: "Sie sind aber ein starker Mann!"- "Ich bin nicht stark - ich bin ganz schwach," antwortete er in resignierendem Tonfall, während er seine Arme ganz langsam sinken ließ. Gleichzeitig entspannte sich sein Gesichtsausdruck. Schließlich streichelte er mir sogar ganz vorsichtig meinen Arm und sagte mit dem Ausdruck höchster Hilflosigkeit: "Entschuldigung!" Danach war er sogar ansprechbar und wir konnten uns gemeinsam Fotos ansehen aus seinen besseren Jahren. Wir verbrachten eine entspannte Zeit in einer von Ruhe geprägten Atmosphäre.
Vorgeschichte: Als ausgezeichneter Handwerker konnte er stets die geistige Überlegenheit seiner Frau - einer Fernsehjournalistin - aufwiegen. Krankheitsbedingt war er dazu jetzt nicht mehr in der Lage, worunter er sehr litt. Er fühlte sich hilflos, nutzlos, verzweifelt und schwach. Er konnte mir das wegen seines bereits stark eingeschränkten Sprachvermögens so klar nicht mehr sagen. Tragischer noch, er konnte über seine unbewältigten Gefühle auch mit seiner Frau nicht mehr reden. Diese unbewältigten und aufgestauten Gefühle brachen aber nun in Form unkontrollierter Aggressionen aus ihm heraus.
Ich empfahl der Ehefrau, zu ihrer Entlastung den Kranken einer gerontopsychiatrischen Tagespflegestätte anzuvertrauen, was diese auch tat. Allerdings verstand das Pflegepersonal jedoch nicht, mit den auch dort gezeigten heftigen Aggressionen umzugehen und beendete nach zwei Wochen das Vertragsverhältnis. Nach einem Aufenthalt in einem Akutkrankenhaus wurde der Kranke in ein Heim eingewiesen. Dort beantwortete das Personal seine Aggressionen mit Fixierung und Sedierung. Niemand interessierte sich dort für die Lebensgeschichte dieses unglücklichen Menschen, der sich nicht gegen die ihm angetane Gewalt wehren konnte.
Meines Erachtens hätte man besser daran getan, validierend auf den Kranken einzugehen. "Validieren" heißt, die Gefühle zu ergründen, die sich in einem Verhalten äußern, diese Gefühle in Worte zu kleiden und vor allem, sie ernst zu nehmen. Um die Gefühle besser verstehen zu können, ist es wichtig, auch über die Lebensgeschichte des Kranken informiert zu sein.
Demenzkranke haben genauso viele und ebenso abgestufte Gefühle wie jeder andere auch. Um diese Gefühle zu verarbeiten, müssen sie ausgesprochen werden, doch dazu fehlen Dementierenden krankheitsbedingt die Worte. Deshalb brauchen sie uns, ihre Betreuer und ihre Angehörigen, damit wir die Worte für sie finden - Worte, die ihre Gefühle beschreiben. Denn: Verbalisierte Gefühle verlieren an Druck - belasten weniger.
Beispiel 2: Nicht beachtete Pflegehinweise zur Körperpflege
Zur eigenen Entlastung übergab eine pflegende Ehefrau ihren
demenzkranken Mann in die Obhut einer gerontopsychiatrischen
Kurzzeitpflegeeinrichtung. Um eine optimale Pflege ihres Mannes zu
gewährleisten, hatte sie eine Liste mit Pflegehinweisen übergeben.
Diese Aufstellung enthielt Informationen über Medikation,
Gewohnheiten und Rituale. Ein wichtiger Hinweis bezog sich auf die
Körperpflege: Ihr Mann vertrug keine Seife im Gesicht. Es sollte
nur mit lauwarmen Wasser, also ohne jeden Zusatz, gewaschen werden.
Damit er seine Ehefrau nicht vergaß, besuchte sie ihn dort jeden
zweiten Tag. Am Nachmittag des sechsten Tages wurde sie von der
Leiterin der Einrichtung mit Vorwürfen überschüttet. Die Leiterin
sagte, daß sie empört sei, daß der Kranke es gewagt habe, das Bett
naß zu machen und es außerdem gewagt habe, in die Zimmer der
anderen Kranken zu gehen, wo er mit diesen Sekt trinken wollte und
was das schlimmste gewesen sei, ihr Mann setze sich jedesmal beim
Waschen zur Wehr und würde dabei sehr aggressiv. Sie als
verantwortliche Leiterin habe daraufhin schon die notwendigen
Schritte veranlaßt und u.a. einen Arztbesuch für diesen Abend
veranlaßt.
Die Ehefrau war erschüttert, da ihr Mann in all den Ehejahren nie aggressiv war - selbst in seiner schweren Krankheit nicht. Sie war sich sicher, daß etwas Unerträgliches für Ihren Mann vorgefallen sein mußte. Die Leiterin konnte zu den Vorgängen im einzelnen selbst nichts sagen und der Frühdienst hatte bereits Feierabend. Die nun aufgewühlte Ehefrau fand ihren normalerweise lebhaften Mann fixiert in einem Rollstuhl sitzend vor - abseits in eine Ecke geschoben. Ihr Mann reagierte kaum auf Ansprache und sein Gesicht war feuerrot. Ihr war jetzt klar, was vorgefallen sein mußte. Nach intensiven Nachforschungen gestand ihr dann auch ein Zivildienstleistender, daß ihr Mann "dummerweise" mit einem Desinfektionsmittel gewaschen worden sei. Ganz offensichtlich lag hier ein gravierendes Fehlverhalten des Pflegepersonals vor, welches das geschilderte aggressive Verhalten zur Folge hatte. Welcher geistig Gesunde hätte sich da nicht auch vehement zur Wehr gesetzt? Und wer von uns hätte nicht gegen die gewaltsamen Gegenmaßnahmen wie Fixierung, Abschiebung und Sedierung protestiert?
Doch ein Demenzkranker kann sich nicht mehr verbal wehren. Ihm bleibt oft nur die Aggressivität als letztes Ausdrucksmittel seiner Hilflosigkeit. Deshalb ist es an uns, den Fachkräften, besonders behutsam mit diesen Kranken umzugehen, und die wertvollen Hinweise der Angehörigen genau zu studieren und zu befolgen. Pflegende Angehörige werden jedoch nur allzu oft mit ihrer Fürsorge und Kritik als Störfaktoren im stationären Bereich angesehen. Sie sind aber die notwendigen Fürsprecher der Kranken und oftmals die letzte Instanz, die weiteres Unheil zu vermeiden hilft. Auch in diesem Fall sorgte die Ehefrau durch fristlose Kündigung des Vertrages dafür, daß ihr Mann nicht weiter medikamentös ruhiggestellt und in eine reizarme Umgebung abgeschoben wurde. Beides hätte mit Sicherheit dazu beigetragen, daß sich das kranke Gehirn noch schneller zurückbildet und somit den Krankheitsverlauf rapide beschleunigt. Demenzkranke benötigen ständig Impulse von außen.
Stimulation auf der Ebene der Kranken
Beispiel 3: Nicht beachtete Pflegehinweise zum An- und Ausziehen
Herr Handke war ein 80-jähriger Ehemann, der seine demenzkranke
Ehefrau hingebungsvoll pflegte. Bei diesem Ehepaar machte ich
regelmäßig alle zwei Wochen einen Hausbesuch. Auf mein Anraten ließ
Herr Handke dreimal pro Woche seine Frau von einer Sozialstation
waschen. Gleich zu Beginn sagte er der Fachkraft, welche
langjährig erprobten Riten er bei seiner Frau einzuhalten pflegte.
Die Altenpflegerin übernahm diese und erledigte ihre Arbeit zu
aller Zufriedenheit.
Bei einem meiner Hausbesuche war Herr Handke jedoch sehr aufgebracht. Empört zeigte er mir einen Eintrag in der Pflegedokumentation, den er als Verunglimpfung seiner lieben Gretel empfand. Eine Ersatzschwester hatte dort folgendes eingetragen: "Frau Handke war widerspenstig und bösartig. Sie hat mich gekniffen und gekratzt. Deshalb konnte ich heute nicht die Morgentoilette durchführen und ihr auch nicht die Haare waschen." Wie kam es zu diesem Eintrag? Tags zuvor hatte Herr Handke die Neue gebeten, seiner Frau vor dem Haarewaschen Rock und Pullover auszuziehen, solange Frau Hanke noch in ihrem Sessel saß. Dort fühlte sie sich sicher, denn in dem Sessel - mit den hohen Armlehnen - wurde sie immer an- und ausgezogen.
Doch die Pflegerin wußte es angeblich besser. Unter Hinweis auf
ihre langjährige Erfahrung und Pflegekompetenz führte sie Frau
Handke ins Bad und setzte sie zum Ausziehen auf den
Toilettendeckel. Das würde sie immer so machen, und begann Frau
Handke den Pullover auszuziehen. Herr Handke, neugierig, etwas
dazuzulernen, beobachtete beide von der Badezimmertür aus. Von dort
sah er folgendes:
Seine Frau zeigte sich völlig verunsichert, angezogen auf die
Toilette gesetzt zu werden. Wacklig saß sie dort auf der
rutschigen, gewölbten Fläche, die ihr keinerlei Halt bot. Als
schließlich die Pflegerin den Pullover über den Kopf ziehen wollte,
geriet Frau Handke in Panik. Mit angstverzerrtem Gesicht griff sie
nach Halt suchend um sich. Dabei bekam sie die Schwester zu fassen,
an der sie sich festkrallte und um nichts mehr in der Welt losließ.
Die Pflegekraft versuchte nun Frau Handke abzuschütteln, von der
sie sich anscheinend bedroht fühlte. In diesem Moment schritt Herr
Handke ein und kam seiner Frau zu Hilfe. Die Pflegerin schickte er
unverrichteter Dinge fort, mit der Bitte, sich nicht wieder bei
ihnen sehen zu lassen.
Wenn ich hier einige Fälle von offenkundigem Fehlverhalten darstellen muß, so ziehen Sie daraus bitte nicht den Schluß, ich wollte in einseitiger Interessenvertretung der Angehörigen Fachkräfte pauschal herabsetzen. Ich versichere Ihnen, das ist nicht der Fall. Ich weiß sehr wohl um die beachtenswerten Leistungen der unzähligen Helfer im Pflegebereich, die für ihre tagtägliches Engagement nur selten die dafür gebotene Anerkennung erhalten. Ich erlebe viele Pflege- und Betreuungskräfte in meinen Fortbildungsveranstaltungen, die sich trotz der verschärften Pflegesituation um eine optimale Betreuung der Demenzkranken bemühen.
Ich möchte in diesem Zusammenhang (Körperpflege) die Ergebnisse einer Studie 1 nicht unerwähnt lassen, bei der die 20 aggressivsten Demenzpatienten eines Heimes beobachtet wurden. Dieser Studie zufolge werden Demenzkranke nur selten körperlich aggressiv. Wenn es zu körperlich aggressivem Verhalten kommt, läßt es sich der Studie zufolge folgendermaßen beschreiben:
Ein zweiter Hinweis der Autoren scheint mir gerade im Zusammenhang mit dem zuletzt geschilderten Beispiel besonders wichtig:
Verhaltensauffälligkeiten von Demenzkranken sollten so eindeutig wie möglich zu beschrieben werden. Auf pauschale Begriffe wie etwa "erregt" oder "unruhig" sollte man in der Pflegedokumentation möglichst verzichten, da diese völlig unterschiedliche Verhaltensweisen bezeichnen können, wie z.B. Herumwandern, ständiges Fragen, übermäßige motorische Aktivität und nicht zuletzt Aggressivität. Ein fahrlässiger Gebrauch solcher Begriffe kann tiefgreifende Folgen für den Kranken haben, wie etwa die Verlegung auf eine geschlossene Station, Sedierung und Fixierung. Bitte seien Sie sich dieser Verantwortung bewußt, wenn Sie etwas in die Pflegedokumentation schieben.
Beispiel 4: Auf Fehlverhalten angemessen reagieren!
Das nun folgende Beispiel soll zeigen, wie Argumentieren und
Diskutieren mit Demenzkranken zu schwer beherrschbaren Situationen
führt. Auch hier gilt es, Aggressionen durch angemessenes Eingehen
auf den Kranken gar nicht erst aufkommen zu lassen.
Herr Deike ist ein 83-jähriger ehemaliger Ingenieur, der unsere Krankengruppe besucht, während seine Ehefrau an der Angehörigengruppe teilnimmt. Bei einem ihrer ersten Gruppentreffen erzählte Frau Deike, daß ihr Mann heute sehr aggressiv zu ihr geworden sei: Nach dem Frühstück habe sich ihr Mann seinen Mantel angezogen und sich verabschiedet, um zur Arbeit zu gehen. Daraufhin habe sie ihm klarzumachen versucht, daß es seine Arbeitsstelle gar nicht mehr gebe und er bereits seit 18 Jahren Rentner sei. Herr Deike habe darauf sehr ungehalten reagiert und sei von seinem Vorhaben nicht abzubringen gewesen. Als Frau Deike sich nicht weiter zu helfen wußte, verschloß sie die Wohnungstür. Daraufhin versuchte Herr Deike ihr den Schlüssel zu entreißen und es kam zu einem Handgemenge, in dessen Verlauf er seine Frau auch schlug.
Aufgebracht holte Frau Deike zum Beweis den Rentenausweis hervor und hielt ihn ihrem Mann entgegen. Statt des erwarteten Einsehens mußte sie sich gefallen lassen, weiterhin von ihm beschimpft zu werden. Daraufhin habe Frau Deike sich im Wohnzimmer eingeschlossen, bis ihr Mann sich ausgetobt hatte.
Wir besprachen die Situation in der Gruppe und gaben Frau Deike den Rat, das nächste Mal folgendes Vorgehen auszuprobieren: Sie solle ihrem Mann sagen: "Ich weiß, du bist ein sehr verantwortungsvoller Kollege und legst großen Wert darauf, pünktlich zu sein. Aber heute hast du deinen freien Tag, den du dir wirklich verdient hast."
Frau Deike berichtete beim nächsten Gruppentreffen, daß sie diesen Rat befolgt habe. Ihr Mann sei tatsächlich ruhig geblieben und habe gesagt: "So? Na, wenn du das sagst, dann wird das schon stimmen. Du weißt ja immer alles ganz genau."
Beispiel 5: Milieu und Medikamente
Nicht immer lassen sich Aggressionen seitens des Kranken durch
"Verhalten" im engeren Sinn bewältigen. Häufig liegen die Ursachen
für die Aggressionen auch in Gegebenheiten, die sich häufig gar
nicht oder nur bedingt ändern lassen: z.B. in
Aufgrund der fortschreitenden Demenz kann Herr Jacob das Haus nicht mehr ohne Begleitung verlassen. Er findet nicht mehr alleine nach Hause zurück und erkennt die Gefahren des Straßenverkehrs nicht mehr. Seinem starken Bewegungsdrang konnte er anfangs nur in Begleitung eines Familienmitgliedes nachkommen. Dabei bestimmte er die Richtung und ließ sich nicht gegen seinen Willen nach Hause führen. Wollte man ihm von seiner beabsichtigten Wegstrecke abbringen, wurde er sofort aggressiv, ja schlug sogar mitunter seinen Begleiter.
Da keiner in der Familie für stundenlange Wanderungen Zeit hatte, mußte Herr Jacob schließlich gänzlich zu hause bleiben. Seiner Selbstbestimmung beraubt, steigerte sich daheim seine Unruhe noch weiter. Die viel zu kleine und enge Wohnung bot ihm erst recht keine Gelegenheit, seinem starken Bewegungsdrang weiter nachzugehen. Bedingt durch seine Inkontinenz wurde der Aktionsradius von Herrn Jacob schließlich auf ein kleines Zimmer eingeschränkt. Herr Jacob weigert sich nämlich Inkontinenzeinlagen zu tragen und erledigt sein Geschäft überall in der Wohnung, was seine Frau nicht ertragen kann.
Die Unmöglichkeit, seinem starken Bewegungsdrang nachzugehen, macht Herrn Jacob aggressiv. Und die gewohnte Art, mit seinen Aggressionen umzugehen - nämlich weite Spaziergänge zu machen - ist ihm "verschlossen".
Hilfreich wäre ein Heim oder eine Tagesstätte mit Rundwegen wie es sie z.B. in Hamburg und Wetzlar gibt. Dort stehen die Demenzkranken nie vor einer Sackgasse aus der sie nicht herausfinden. Solche Ansprüche an ein Pflegeheim zu stellen hat Frau Jacob aber schon längst aufgegeben: 34 Heime in Berlin lehnten eine Aufnahme von Herrn Jacob wegen dessen Weglauftendenz, Aggressivität und Inkontinenz ab. Schließlich fand Frau Jacob ein Heim weit außerhalb Berlins, das jedoch bereits nach drei Monaten den Vertrag kündigte. Die Unausweichlichkeit der Situation zeigt die ganze Tragweite der Krankheit für den Kranken und seine Angehörigen. Frau Jacob, die es ablehnt, ihren Mann sedieren oder gar fixieren zu lassen, bleibt nichts weiter übrig, als die Aggressionen ihres Mannes zu ertragen.
Auch wenn sich einige aggressionsfördernde Gegebenheiten in der
Umgebung Demenzkranker kaum ändern lassen, so gibt es doch andere,
die wir sehrwohl beeinflussen können. So ist beispielsweise
bekannt, daß eine zu hohe Raumtemperatur aggressionsfördernd wirkt.
Aufenthaltsräume für Demenzkranke sollten daher auf einer
Temperatur von 21ø bis 22ø C gehalten werden. Unruhige,
unharmonische rhythmische Musik (z.B. Techno) wirkt ebenfalls
aggressionsfördernd wohingegen Volksmusik und Schlager aus längst
vergangenen Jahrzehnten als Königsweg zu den Demenzkranken
angesehen werden kann. Auch die wirren viel zu schnellen
Bilderfolgen im Fernsehen überfordern Demenzkranke und machen sie
gereizt, manchmal auch aggressiv. Insbesondere Zeichentrickfilme
für Kinder sind nichts für Demenzkranke. Besser sind Tier- und
Naturfilme sowie Musiksendungen über volkstümliche Musik.
Grundsätzlich sollte jede Form von Reizüberflutung und
Überforderung vermieden werden. Bedenken wir, daß Demenzkranke
oftmals auch gar nicht in der Lage sind, sich einer Unruhequelle
selbständig zu enziehen.
Auch auf die Nebenwirkungen von Medikamenten sollten wir als Fachkräfte achten. So ist beispielsweise bekannt, daß Benzodiazipine Erregung und Antidepressiva agitierte Unruhe hervorrufen können. Umgekehrt sollten wir besonders bei der Verabreichung von Psychopharmaka streng darauf achten, daß keine sedierende Wirkung eintritt, die nicht nur menschenunwürdig ist, sondern darüber hinaus auch noch den Krankheitsverlauf beschleunigt; denn: Ein ruhiggestelltes Gehirn verfällt schneller als ein aktiviertes. Scheuen wir uns nicht, dem Arzt unsere Beobachtungen mitzuteilen. Der Arzt ist der Fachmann für die Verordnung der richtigen Medikamente. Wir aber sind die Fachkräfte für das professionelle Beobachten der Wirkung dieser Medikamente. Der Arzt braucht unsere Beobachtungen und präzisen Berichte zur optimalen medikamentösen Einstellung.
Bei Neuaufnahmen im stationären Einrichtungen ist oft zu beobachten, daß die Demenzkranken mit erhöhter Unruhe, Gereiztheit und zuweilen auch Aggressivität reagieren, z.B. wenn sie daran gehindert werden, die Einrichtung zu verlassen. Dies ist darauf zurückzuführen, daß Demenzkranke ihrer vertrauten Wohnung entrissen, nicht mehr lernen können, sich in der neuen Umgebung zurechtzufinden. Das zuhause jahrzehntelang in gleicher Weise Ausgeübte will in der fremden Umgebung nicht mehr gelingen. Das Zuhause können wir als Fachkräfte dem Demenzkranken nicht ersetzen, aber den regelmäßigen Besuch seiner Angehörigen - wenn sie sich denn sehen lassen - sollten wir fördern und nicht behindern. Mehrfach schon hörte ich, daß Angehörigen vom Heimpersonal nahegelegt wurde, für eine Woche die Besuche zu unterlassen, danach werde der neue Heimbewohner sich schon eingelebt haben. Diese Empfehlung ist eine Qual für den Demenzkranke ebenso wie für den Angehörigen und darüber hinaus nicht zielführend. Genau das Gegenteil tritt ein: Der Kranke verliert seinen letzten Orientierungspunkt und reagiert mit gesteigerter Unruhe. Diese wird nicht selten medikamentös behandelt. Wenn dann der Angehörige den Kranken nach einer Woche wiedersieht, ist er entsetzt über den rasanten Krankheitsverlauf und macht sich quälende Vorwürfe den Kranken vernachlässigt zu haben.
Beispiel 6: Ausbruch ein Leben lang unterdrückter Gefühle
Daß Aggressionen eines Demenzkranken durchaus nicht immer auf das
Verhalten der Pflegeperson zurückzuführen ist, zeigt das folgende
Beispiel: Eine Tochter hatte von je her ein sehr gutes Verhältnis
zu ihrer Mutter. Als diese die Alzheimersche Krankheit bekam, ging
die Tochter in den Vorruhestand und zog in die unmittelbare Nähe
ihrer Mutter, um die Pflege zu übernehmen.
Im Verlauf der fortschreitenden Krankheit wurde die Pflege für die Tochter immer schwieriger: Die Mutter begann sie zu beschimpfen und unbegründete Vorwürfe zu machen, z.B. ihr kein Essen zu bringen. Dies kränkte und verletzte die Tochter zutiefst. Doch es kam noch schlimmer: Die Mutter griff schließlich aus unerklärlichen Gründen wütend die Tochter an. Sie kratzte und drehte mit ungeahnter Kraft am Handgelenk und Unterarm, so daß die Tochter blaue Flecke davontrug.
Die verzweifelte, an Leib und Seele verletzte Tochter klagte ihr Leid in der Gesprächsgruppe. "Die blauen Flecke kann ich ertragen," sagte sie traurig, "aber daß sich meine Mutter mir gegenüber jetzt so verhält, das tut so weh!" Etwa einen Monat lang versuchte sie alleine mit der Situation fertig zu werden. Doch die körperlichen Angriffe der Mutter blieben unverändert heftig. Die Gruppe riet ihr schließlich, sich selbst etwas zurückzunehmen und die Pflege teilweise in andere Hände zu übertragen.
Die Tochter beauftragte daraufhin eine pflegeerfahrene Bekannte mit der Pflege der Mutter am Vormittag. Erstaunlicherweise verhielt sich die Mutter der fremden Pflegekraft gegenüber völlig unauffällig. Selbst in kritischen Situationen, wie z.B. der Pflege des Intimbereichs, zeigte die Mutter nicht die geringsten Aggressionen. Die Tochter mußte sich jedoch selbst stets im Hintergrund halten. Wenn die Tochter am Nachmittag dann die Mutter alleine versorgte, war die Situation anfangs noch entspannt. Im Verlauf der nächsten Stunden wurde die Mutter jedoch zunehmend gereizter. Gegen Abend mußte die Tochter die Wohnung ihrer Mutter verlassen, um neuerlichen Angriffen zu entgehen, was bei der Tochter große Schuldgefühle auslöste und sie wiederum sehr traurig machte.
In der Gesprächsgruppe suchten wir angestrengt nach einer Lösung für dieses Problem. Die Tochter überlegte bereits, durch Einsatz von ruhigstellenden Medikamenten die Situation "beherrschbar" machen zu lassen und auch wir waren ratlos. Ein wenig niedergeschlagen, keinen Schritt weiter gekommen zu sein, wollten wir dieses Gruppentreffen beenden. Während die Tochter ihren Mantel vor dem Garderobenspiegel zurechtrückte, sagte sie beifällig: "Du meine Güte, ich sehe meinem Vater immer ähnlicher!" Intuitiv fragte ich sie: "Wie war die Ehe Ihrer Eltern?" "Hörn' Sie bloß auf. Eine einzige Katastrophe," antwortete sie, "Mein Vater hat meine Mutter ständig mit anderen Frauen betrogen. Darunter hat meine Mutter furchtbar gelitten."
Ich nahm die Angehörige an den Arm und wir gingen noch einmal zurück in den Gruppenraum. "Könnte Ihre Mutter in Ihnen möglicherweise den längst verstorbenen Ehemann sehen?" fragte ich sie: "Sie ist zeitlich desorientiert und lebt in ihrer Vorstellungswelt in einer Zeit, da waren Sie noch ein Kind und Ihr Vater war etwa so alt wie Sie jetzt. Aufgrund ihrer Desorientierung erkennt sie Sie heute auch nicht mehr als ihre Tochter. Allein schon durch Ihre Ähnlichkeit, erinnern Sie sie an ihren Ehemann und wecken negative Gefühle, die mit Ihrem Vater verbunden sind." Das schien plausibel und so überlegten wir weiter: Da Alzheimerkranke die Kontrolle über ihre Gefühle verlieren, könnte es sein, daß jetzt der ganze, ein Leben lang aufgestaute Kummer und Ärger ungefiltert zum Ausbruch kommt. Jetzt endlich kann die gedemütigte alte Frau ihrem treulosen Mann all das heimzahlen, was sie sich bislang nicht getraut hat.
Diese Vorstellung half der Tochter vorerst sehr viel weiter, denn jetzt war sie es nicht mehr, der die Angriffe der Mutter galten, sondern dem Vater. Beim nächsten Gruppentreffen überlegten wir, wie man Mutter und Tochter gleichermaßen helfen könnte. Der Mutter sollte der Anblick ihres vermeintlichen Ehemannes und der damit verbundene Kummer erspart bleiben und der Tochter die körperlichen Angriffe der Mutter.
Ein pflegender Ehemann machte schließlich den Vorschlag, die Tochter solle sich doch verkleiden. " Setzen sie sich doch eine Perücke auf. Mit Ihren kurzen Haaren sehen Sie ja auch wirklich aus wie ein Mann," schlug er vor. Diesen Rat befolgte die Tochter und siehe da, seither ist die alzheimerkranke Mutter zu ihrer Tochter ebenso freundlich wie zu der fremden Pflegekraft. Die Mutter erzählt jetzt gelegentlich: "Heute war Der wieder bei mir. Dem hab ich's aber gegeben!" Und die Tochter antwortet dann: "Ja, das hast Du gut gemacht bei all dem was dieser Kerl dir angetan hat." Die Stimme ist ihr vertraut. Sie fühlt sich sicher und läßt wieder Nähe zu. Auf einer anderen Ebene hat die Tochter wieder Zugang zu ihrer Mutter gefunden.
Beispiel 7: Weißer Kittel: Ein rotes Tuch!
Die Lehre aus der letzten Schilderung ist durchaus auch auf den stationären Bereich übertragbar, wie mein
nächstes Beispiel zeigt. Ich führe regelmäßig Praxisbegleitungen für Betreuungskräfte
durch, die ausschließlich dazu eingestzt werden, Demenzkranke in Pflegeheimen zu betreuen. Eine dieser
Betreuerinnen berichte davon, daß eine sehr zerbrechlich wirkende Bewohnerin sich dem Heimpersonal
gegenüber sehr aggressiv verhielt. Die Betreuerin sah darin die nachvollziehbare Reaktion auf den rauhen Ton, der
auf dieser Station herrschte. Sie selber hatte die alte Dame in ihr Herz geschlossen und ging sehr liebevoll mit ihr um. Die
Heimbewohnerin dankte ihr das durch freundliches Verhalten.
Was die Betreuerin jedoch nicht verstand, war folgendes. Eine Schwester ging mit der demenzkranken Frau nicht weniger liebevoll um als sie selbst. Trotzdem reagierte die Kranke auf diese ebenso aggressiv, wie auf alle ihre Kolleginnen.
Wir analysierten die Situation und stellten fest, daß die externen Betreuer keine weißen Kittel trugen wie das Heimpersonal. Die Betreuerin riet der netten Schwester daraufhin, ihren Kittel auszuziehen, bevor sie sich um die alte Dame kümmern wollte. Diese befolgte den Rat - und siehe da, allein die äußere Veränderung bewirkte, daß sich die Heimbewohnerin unvoreingenommen aufgeschlossen verhielt.
Schluß
Mit dem harten Begriff "Gewalt" habe ich meinen Beitrag eingeleitet. Es ging dabei um aggressives Verhalten
der Kranken und um die oftmals nicht weniger aggressiven Reaktionen der Umwelt. Unsere Antwort darauf ist der richtige
Umgang mit dem Kranken. "Der richtige Umgang ist der einfühlsame Umgang mit dem Kranken." Dies
erfordert von uns vor allem eins: Verständnis. Mit diesem sanften Wort "Verständnis" möchte
ich schließen. Nicht Gewalt, sondern Verständnis für die Menschen im höheren Lebensalter, denen
eine grausame Krankheit alles nimmt, jedoch nicht das Bedürfnis, nach menschlicher Wärme, Einfühlen,
Mitfühlen, Zuwendung, Nähe und Verständnis.
Ich danke Ihnen! Ich danke Ihnen im Namen aller Demenzkranken für Ihr angewandtes Verständnis.
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1 S. Bridges-Parlet et al.:
a descriptive study of phisically aggressive behavior in dementia by direct observation.
JAGS 42 (1994) 192-197