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zivil - Zeitschrift fuer Frieden und Gewaltfreiheit

Zeitschrift für
Frieden und Gewaltfreiheit

Gewalt in der Pflege


Von Werner Schulz

Ein Tabu-Thema, niemand redet gern darüber: Gewalt in der Pflege. Gemeint sind Aggressionen, Missstände in der körperlichen Betreuung, Mangel in der Ernährung, hygienische Verwahrlosung, Freiheitsberaubung, Psychoterror … Das alles gibt es, das alles kommt vor, häufiger als uns lieb ist. Wie häufig?

Wie alle Tabu-Themen, so ist auch das Gewalt-Problem in der Pflege nur sehr schwach wissenschaftlich erforscht. Wo Berichte über Missstände an die Öffentlichkeit kommen, werden sie gerne als „bedauerliche Einzelfälle“ abgetan. Zahlen über Vorkommnisse von Gewalt gegen Ältere sind nur spärlich vorhanden. Eine Studie aus Niedersachsen aus dem Jahr 1995 etwa gibt die Zahl der Gewaltopfer unter Menschen zwischen 60 und 75 Jahren mit 6,6 % an. Der Bonner Altersforscher Prof. Rolf Hirsch kam 1998 bei seiner Befragung auf das Ergebnis, dass 11 % der Senioren und Seniorinnen Gewalt-Erfahrungen hinter sich haben.

Aber Zahlen wie diese sagen wenig aus. Erstens muss die Dunkelziffer in jedem Fall gigantisch hoch sein, denn welcher Senior, welche Seniorin zeigt bei der Polizei etwa pflegende Angehörige an? Welche Pflegeheimbewohner sind willens und in der Lage, das eigene Pflegepersonal, das einzige, das sie haben, zu belasten? Zum anderen verstellen nüchterne Prozentzahlen den Blick auf die Tragik und die Ungeheuerlichkeit eines jeden einzelnen Vorfalles:
Da werden Menschen von ihren (oft überforderten) Angehörigen geschunden und geschlagen, liegen halbe Tage lang in ihren Exkrementen und werden obendrein dafür angeschrieen und beschimpft. Man legt sie in kahle Zimmer, ohne Kontakte nach draußen, ohne Notrufmöglichkeit. Oder – auch das ist Gewalt –man betrügt sie um ihre Ersparnisse.

Auch in der institutionalisierten, professionellen Altenpflege in den Heimen kommt Gewalt viel zu häufig vor. Wo Senioren Magensonden erhalten, weil die Zeit nicht reicht, um ihnen das Essen nach individuellem Tempo einzugeben, wo man ihnen Psychopharmaka verabreicht, um sie mit diesen „chemischen Zwangsjacken“ ruhig zu halten, da wird Menschen Gewalt angetan. Wo man Dauerkatheter legt, weil das einfacher ist als Windelwechseln, da ist Gewalt im Spiel. Hilflose Menschen stundenlang auf dem Klo sitzen zu lassen – das ist Gewalt. Wo Pflegebedürftige sich wund liegen, wo sie hungern oder austrocknen, da wird ihnen Gewalt angetan.

Wiederholt wurde die Pflegesituation in Deutschland – wie auch in anderen europäischen Staaten – von sachkundigen Organisationen und Fachgremien kritisiert. Außer der Eröffnung zahlreicher Nottelefone, die allesamt die Krise allenfalls dokumentieren, aber eben nicht lösen können, hat sich nichts Entscheidendes getan. Ende 2001 kam massive Kritik an die Adresse deutscher Pflegeheime vom UN-Ausschuss für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte aus Straßburg. Bis zu 85 % der deutschen Heimbewohner, hieß es dort, seien unterernährt, wegen des Zeitmangels des Personals und wegen ungeeignetem Essen. Jeder Dritte leide an Austrocknung, weil zu wenig Flüssigkeit verabreicht werde. Getan hat sich trotz alledem nichts.

Erst kürzlich hat das Kuratorium Deutsche Altershilfe – zum wiederholten Mal – schwerwiegende Mängel bei der Versorgung von Druckgeschwüren kritisiert. Jüngstes und prominentes Opfer dieser verbreiteten Form von Gewalt in der Pflege ist der kranke Entertainer Harald Juhnke. Wundgelegen und ausgetrocknet ließ ihn einer seiner Brüder vom Pflegeheim in ein Krankenhaus überführen. Zwar bestreitet das betroffene Heim jeglichen Fehler, aber der heimliche Ombudsmann aller deutschen Pflegebedürftigen, der Münchener Sozialarbeiter Claus Fussek, hält beweiskräftige Berichte der zuständigen Kontrollbehörde in Händen, die die Vorwürfe des Juhnke-Bruders stützen. (zivil-Interview mit Claus Fussek )

Die Heimkontrolle der Krankenversicherer, der so genannte Medizinische Dienst, hat die Gesamtsituation in deutschen Heimen mit sehr deutlichen Worten gebrandmarkt und dringend Verbesserungen in der Altenarbeit gefordert: "Die vorhandenen Qualitätsdefizite sind keine Einzelfälle, sondern weisen auf strukturelle Defizite in der Pflege hin."

Der Bericht wurde in Deutschland allen politischen Ebenen zugeleitet (nachzulesen unter www.verhungern-im-heim.de), ohne sichtbare Resonanz. Für Claus Fussek kann jetzt nur noch ein empörter Aufschrei der Öffentlichkeit die Verantwortlichen in der Politik aufrütteln. "Harald Juhnke ist unsere Chance!"


 

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