Am 4.4.01 veranstaltete der Evangelische Verband für Altenarbeit und pflegerische Dienste (EVAP)
in Berlin eine Fachtagung "Angehörigenarbeit in der Altenpflege". Frau Drenhaus-Wagner leitete den
Workshop „Gerontopsychiatrie - Fachkraft im Spannungsfeld zwischen Angehörigen und zu Pflegenden", zu dem
sich ca. 30 vorwiegend im stationären Bereich tätige Pflegefachkräfte angemeldet hatten. Nachdem zu Beginn des
Workshops die Leiterin ankündigte, dass hier 90 Minuten straff gearbeitet würde, verließ etwa ein halbes Dutzend
Teilnehmer die Veranstaltung.
Ziel des Workshops war es, durch Förderung der Kommunikation von Pflegefachkräften und
Angehörigen dazu beizutragen, dass beide Seiten von der Kompetenz des jeweils anderen profitieren und somit
Spannungsfelder allmählich abgebaut werden.
Als erstes sollte herausgefunden werden, welche Bereiche ein potentielles Konfliktfeld zwischen
Pflegefachkräften und Angehörigen von Heimbewohnern darstellen. Die Leiterin hatte eine Tabelle vorbereitet, in der
eingetragen werden konnte, wen die Teilnehmer für zuständig halten bei der Befriedigung der Bedürfnisse eines
demenzkranken Heimbewohners im mittleren Stadium. Die Bedürfnisse waren nach Maslow kategorisiert. Als Hilfestellung
wurde die folgende Tabelle bereitgestellt, damit sich jeder Teilnehmer schnell über die pflegerischen Aspekte
informieren konnte, die mit dem jeweiligen Bedürfnis verbunden sind.
Kategorie |
Bedürfnis |
pflegerische Relevanz
bei Demenzkranken |
Bedürfnis nach Selbstverwirklichung
|
Verstehen und Einsicht
(Fähigkeit dazu geht stark zurück!) |
Einlenken statt beharren |
Fähigkeiten und Neigungen ausleben |
Tätigkeiten mit Bezug zum
früheren Leben anbieten |
Bedürfnis nach Selbstachtung |
Erfolg |
angemessene Tätigkeiten |
Anerkennung |
loben, validieren |
Zustimmung |
Misserfolge übergehen |
soziale Bedürfnisse |
Liebe entgegenbringen |
einfühlsames Verstehen |
Zärtlichkeit |
Nonverbale Kommunikation: Berühren, Blickkontakt |
Geborgenheit |
konstante verlässliche Bezugsperson |
sozialer Kontakt |
reden und aktiv zuhören |
in Familie belassen oder in Kleingruppe einführen |
Bedürfnis nach Sicherheit |
Schutz vor Schmerz / Angst |
Unruhe vermeiden |
Ordnung |
Ortswechsel vermeiden |
feste Verhaltensregeln |
Riten pflegen für gleichbleibenden Tagesablauf sorgen |
zuverlässige Bezugsperson |
möglichst kein Wechsel der Betreuer |
körperliche Bedürfnisse |
Sexualität
(mehr da, als man denkt) |
Toleranz üben, für Rückzugsmöglichkeiten sorgen |
Bewegungsdrang
(oft Ausdruck innerer Spannungen!) |
für ausreichend Ausgang sorgen |
Schlaf
(entwickelt sich zurück!) |
nicht zu früh ins Bett schicken |
Wärme
(ein alter Mensch friert leichter!) |
den Kranken beobachten (frieren, schwitzen) |
Durst, Hunger
(entwickeln sich zurück!) |
Trinkmenge überwachen |
Die Leiterin hatte eine Tabelle vorbereitet, in der jeder Teilnehmer drei Punkte nach folgenden Kriterien
vergeben konnte:
Für die Bedürfnisbefriedigung ist zuständig: |
die Pflegefachkraft |
der Angehörige |
der zu Pflegende |
die Pflegefachkraft alleine |
|
|
|
vor allem der zu Pflegende, aber auch der Angehörige (z.B. sexuelle Bedürfnisse) |
|
|
|
alle gleichermaßen |
|
|
|
Mittels roter Klebepunkte wurden die Arbeitsergebnisse der paarweise arbeitenden Gruppen auf einem Poster
visualisiert.
Auf dem Poster waren bereits grüne Punkte angebracht, die eine Bewertung von Angehörigen
wiedergab. Sechs Angehörige der Alzheimer Angehörigen-Initiative e.V. hatten ihre Bewertung nach den selben
Kriterien vergeben wie die Pflegekräfte. Deren Bewertung (18 Punkte pro Bedürfnis) wurde auf 6 Punkte normiert, so
dass die Ergebnisse wieder vergleichbar wurden.
Diese Methode ist natürlich nicht wissenschaftlich exakt und schon gar nicht repräsentativ. Das Ergebnis hat etwa
die Relevanz der von Radio- oder Fernsehsendern durchgeführten Straßenumfragen. Immerhin erlauben es auch kleine
Stickproben, wenigstens einen groben Trend zu erkennen.
Aufgrund der geschrumpften Teilnehmerzahl konnten die Teilnehmer nicht zu allen Bedürfnissen ihre
Zuordnung treffen. Bemerkenswert ist, dass bezüglich der Kategorien „soziale Bedürfnisse" und dem „Bedürfnis
nach Sicherheit" weitgehende Übereinstimmung zwischen Pflegefachkräften und Angehörigen bestehen.
Überraschend war dagegen das Ergebnis, dass bezüglich der körperlichen Grundbedürfnisse (außer Sexualität) die
Pflegefachkräfte eine nicht unerhebliche Mitverantwortung der Angehörigen dokumentierten, wogegen die angehörigen
dies fast ausschließlich in der alleinigen Verantwortung des Pflegepersonals sahen. Dieses Ergebnis zeigte deutlich,
wie dringend der Kommunikationsbedarf zwischen Pflegekräften und Angehörigen ist: Keine Kooperation ohne
Kommunikation!
Im zweiten Teil des Workshops wurden den Teilnehmern von der Leiterin anhand einer Grafik
verdeutlicht, dass Pflegekräfte zusammen mit den zu Pflegenden und deren angehörigen ein Dreiecksverhältnis
bilden, in dem Spannungen zwischen zwei von den dreien auch Auswirkungen auf den dritten haben.
Die Teilnehmer wurden von der Leiterin aufgefordert, typische Beispiele für die Schlagworte zu
benennen, die an die Pfeile zwischen der Pflegefachkraft und Angehörigen aufgeführt sind. Außerdem sollte bewertet
werden, ob das konkrete Beispiel eher förderlich (grün) oder eher hinderlich (rot) für die Kommunikation zwischen
Pflegefachkraft und Angehörigen ist.
Folgende Beispiele wurden genannt (zu Pflegender = Ehemann der Angehörigen):
|
|
Angehöriger |
|
|
Wo ist der neue gelbe Pullover meines Mannes? |
|
Fragen |
|
Mag Ihr Mann keinen Milchreis? |
Oh, schon wieder dieses burschikose Weib! |
Emotionen |
Schon wieder diese Schnapsdrossel! |
Sie gehen lieb mit meinem Mann um, andere aber harsch und resolut.
Das Trinken ist stets das große Problem. |
Kontrolle
Beobachtung |
Wenn wir während des Kaffeetrinkens Mozarts Kleine Nachtmusik laufen
lassen, verweigert Ihr Mann nicht das Essen. |
Mein Mann war zu hause ständig auf der Suche nach irgendetwas und hatte
oft den Drang, die Wohnung zu verlassen. |
Informationen |
Die Kekse, die Sie Ihrem Mann mitgebracht das letzte mal haben, hat er im
Nu aufgegessen. |
Dank und Blumensträußchen |
Aufmerksamkeiten |
Dank, Anerkennung |
Während des Ankleidens sollte auch auf eingewachsene Fußnägel,
Druckstellen, Zahnprothesen etc. geachtet werden. |
Ansprüche |
Regelmäßige Besuche |
Das Gebiss meines Mannes habe ich im Nachbarzimmer wiedergefunden. |
Kritik
Nörgeln |
Ich kann mich schließlich nicht nur um Ihren Mann kümmern. |
|
|
Pflegefachkraft |
|
|
Bemerkenswert ist, dass die Beispiele von den Teilnehmern überwiegend so gewählt wurden, dass sie die Äußerungen
der Angehörigen als weniger förderlich für die Kommunikation miteinander ansahen als die Äußerungen der
Pflegekräfte.
Es stellte sich jedoch die Erkenntnis ein, dass unter den komplizierten Bedingungen des
Dreiecksverhältnisses eine Kommunikation zwischen Tür und Angel der Situation nicht gerecht wird und eines
geordneten Rahmens bedarf.
Es wurden daraufhin gemeinsam Vorschläge zusammengetragen, was die Pflegefachkraft alleine tun
kann, um die Kommunikation zu verbessern, damit beide Seiten aus der Kompetenz des jeweils anderen Nutzen ziehen
können. Außerdem wurde überlegt, wie die Kommunikation in diesem Sinne von dem Pflegeteam bzw. der Einrichtung
verbessert werden könne. Abschließend wählten die Teilnehmer jeweils einen Vorschlag aus, den sie für sich, ihr
Team oder ihre Einrichtung für durchführbar hielten, und die sie in der kommenden Zeit umsetzen wollen.
Folgende Vorschläge wurden erarbeitet, wobei die kursiv gedruckten als Vorsätze zur
Umsetzung mitgenommen wurden. Dem sind Vorschläge gegenübergestellt, die von Angehörigen der Alzheimer
Angehörigen-Initiative e.V. außerhalb des Workshops eingebracht wurden.
a) Was könnte die Pflegefachkraft tun, um die Kommunikation zu mir (Angehörigen) zu fördern, damit
meine Kompetenz mehr Eingang in den Pflegealltag findet?
Vorschläge und Vorsätze von Pflegekräften |
Vorschläge von Angehörigen |
- Gesprächstermine vereinbaren und ausreichend Zeit einplanen, um nicht nur Fragen ausführlich beantworten,
sondern auch auf Gefühle eingehen zu können
- Kritik, Sorgen und Bedenken von Angehörigen nicht als persönlichen Angriff werten ernst nehmen sondern
gemeinsam nach Problemlösungen suchen
-
interessierten Angehörigen die eigene Arbeitsweise erläutern
klare Vereinbarungen mit kooperationsbereiten Angehörigen treffen und diese zuverlässig einhalten, um
die Angehörigen mit in den Pflegalltag einzubeziehen
Angehörige auf Selbsthilfegruppen hinweisen
Kontakte zwischen den Angehörigen vermitteln
|
- Vereinbarungen über regelmäßige (Telefon-) Gespräche treffen und zuverlässig einhalten
- "Paten" für Heimbewohner und Angehörigen benennen
- selber die Initiative ergreifen, und Angehörige gezielt ansprechen
|
b) Was könnte das Pflegeteam tun, um die Kommunikation zu mir (Angehörigen) zu fördern, damit meine
Kompetenz mehr Eingang in den Pflegealltag findet?
Vorschläge und Vorsätze von Pflegekräften |
Vorschläge von Angehörigen |
- evt. Angehörige in Fallbesprechungen und Teamsitzungen mit einbeziehen
-
gegenseitige Informationsaustausch, Offenheit und Ehrlichkeit im Team fördern / einfordern
damit Fragen von Angehörigen jederzeit kompetent beantwortet werden können
Informationsfluss durch konsequentes Eintragen in die Dokumentation fördern
Einheitliche Vorgehensweise im Team festigen
|
- Bei Teambesprechungen neben dem Heimbewohner auch den Angehörigen mit berücksichtigen
- 1 Schwarzes Brett / Station, für Team und Angehörige z.B. für Interesse an / Wunsch nach
gemeinsamen Aktivitäten
- anbieten, Auszüge aus den Pflegetagebuch regelmäßig auszudrucken und auszuhändigen / zuzusenden
|
c) Was könnte die Einrichtung tun, um die Kommunikation zu mir (Angehörigen) zu fördern, damit meine
Kompetenz mehr Eingang in den Pflegealltag findet
Vorschläge und Vorsätze von Pflegekräften |
Vorschläge von Angehörigen |
- wöchentlich zwei Angehörigensprechstunden (bis 18 Uhr) mit Pflegeteam und Heimleitung einrichten
- jährlich drei Angehörigenabende z.B. Filmvorträge mit Einbeziehung der Angehörigen in die
Vorbereitungen
- Planung eines Angehörigennachmittags mit Kaffee und Kuchen, Geselligkeit und Dank an die Angehörigen und
Entgegennahme von Wünschen und Kritik
- Angehörigengruppe einrichten, um mit Ruhe und zeit Gespräche führen zu können
-
Mitarbeiter auch unter dem Gesichtspunkt der Angehörigenorientierung auswählen
Heimzeitzschrift mit anonymer Meckerecke herausgeben
Angehörige zu Fortbildungen der Einrichtung mit einladen
Angehörige mit zum „Urlaub vom Heim" mit einladen
|
- 14-tägige Angehörigen-Treffen mit wechselndem Heimpersonal (z.B. Ärzte, Pflegefachkräfte) durchführen
- Tage der offenen Tür durchführen mit Veranstaltungen die von Angehörigen mit gestaltet werden können
- Hauszeitung für Angehörige verteilen / versenden (Aktivitäten, Entwicklungen, Berichte von
Pflegefachkräften oder Angehörigen zur Situation im Heim, zur Situation von Angehörigen)
- Angehörigenbeirat einrichten, mit dem Recht der Mitsprache bei der Gestaltung des Heimalltags
- vor der Aufnahme mit dem Angehörigen über dessen Erwartungen an die Pflegenden, Betreuer und die
Einrichtung reden
- Kummerkasten einrichten
- Angehörigen im Leitbild der Einrichtung mit berücksichtigen
- Angehörigenzufriedenheit regelmäßig feststellen / auswerten (Fragebögen). Ergebnisse veröffentlichen,
Maßnahmen ableiten, Wirksamkeit prüfen
|
|