[AlzheimerForum => Übersicht => Biographiearbeit]

 
Logo: AlzheimerForum
Logo zns

Konstruktiver Umgang mit den Erinnerungen Demenz-Kranker

© Dr. Dr. Herbert Mück, Köln

München. Forschung und Schrifttum befassen sich intensiv mit dem mnemotechnischen Gedächtnis von Demenz-Patienten. Dagegen behandeln sie deren autobiographisches Gedächtnis eher stiefmütterlich. Nach Ansicht von T. Fuchs liegt dies möglicherweise daran, daß das mnemotechnische Gedächtnis leichter untersuchbar und quantifizierbar ist. Auch scheint es für die Alltagsorientierung besonders relevant zu sein. Wer so denkt und handelt, übersieht jedoch leicht, daß das autobiographische Gedächtnis für die Identität und die Selbstvergewisserung speziell bei einer Demenz wohl noch bedeutsamer ist als das mnemotechnische Gedächtnis.

Vor diesem Hintergrund rät Fuchs den Betreuern Demenz-Kranker, sich immer wieder Zeit für gemeinsame Erinnerungen zu nehmen und im Alltag des Patienten möglichst viel Kontinuität und ein Gefühl der Vertrautheit herzustellen. Dazu eignen sich tages- und jahreszeitlich gebundene Beschäftigungen, Festvorbereitungen, Tischsitten, Spiele, Lieder, Familiensprüche oder Gebete. Sie betonen das Gewohnte und rhythmisch Wiederkehrende des Lebens. Vertraute Spaziergänge oder bekannte Urlaubsorte können selbst dann beruhigen und stabilisieren, wenn sich der Kranke nicht mehr detailliert oder erkennbar erinnern kann. Das gemeinsame Malen von vertrauten Motiven aus der Kindheit ist eine weitere Möglichkeit, Sicherheit und Geborgenheit zu vermitteln. Schließlich können auch bekannte Gerüche, Lieblingsessen oder vertraute Musik Atmosphären und Gefühle wecken, die mit vergangenen Lebensabschnitten verknüpft sind. Sie fördern das Wohlbefinden auch dann, wenn der Kranke sich nicht mehr konkret erinnern kann. Atmosphärisches, gefühlsmäßiges und leibliches Empfinden bleiben besonders lang erhalten! "Erinnerungstherapie" kann auch im gemeinsamen Betrachten von Fotoalben bestehen. Dabei läßt sich zum Beispiel die äußerliche Veränderung von vertrauten Personen über einen längeren Zeitraum verfolgen. Ein Besuch auf dem Friedhof kann den Kranken daran erinnern, dass seine Eltern längst verstorben sind. Letztlich ist es eine Form der "Selbsterhaltungstherapie", wenn man biographisches und selbstbezogenes Wissen des Kranken möglichst lange zu erhalten versucht.

Fuchs warnt davor, die fortschreitende Demenz als "Verlöschen" oder "Zerstörung" der Person des Kranken zu interpretieren. Es fällt leichter, dem Kranken weiter respektvoll zu begegnen und dessen Veränderungen zu ertragen, wenn man darin in erster Linie eine "Verschattung" oder "Verborgenheit" der Person sieht.

Mit "dementiellem Anachronismus" umgehen lernen

Vom "dementiellen Anachronismus" spricht man, wenn der Kranke die Vergangenheit nicht mehr "vergegenwärtigt", sondern sie selbst zur Gegenwart werden läßt. Typischerweise kommt es dann zu folgenden Situationen: Der Kranke steht morgens auf, um wie früher zur Arbeit zu gehen. Er begibt sich auf die Suche nach den längst verstorbenen Eltern. Er verkennt seinen Ehepartner, weil er nur dessen früheres Bild vor Augen hat, er die weiteren Veränderungen aber in seinem Gedächtnis gelöscht hat.

In solchen Momenten scheint der Patient oft einen Teil der Situation für das Ganze zu nehmen ("pars-pro-toto-Effekt"): Aus einer ihm ansonsten fremden Situation greift er ein vertraut erscheinendes Element heraus. Das Element ruft eine Erinnerung wach, deren Bild der Kranke dann auf die reale Situation projeziert. Erinnerte und reale Situation verschmelzen schließlich, wobei der Kranke selbst offenkundige Widersprüche ignoriert, da sein Bedürfnis nach Orientierung und Vertrautheit stärker ist als die kognitiven Dissonanzen. Vor diesem Hintergrund wird verständlich, warum ein Kranker in der gerontopsychiatrischen Tagesklinik plötzlich seine frühere Behörde wiedererkennt oder ein modernes Krankenzimmer für ihn zu einem Feldlazarett der Kriegszeit wird.

In solchen Situationen sollten sich Betreuer nicht stur einem "Zwang zur Wahrheit" unterwerfen, wie ihn das sog. Realitätsorientierungstraining nahelegen mag. Statt beim Kranken das Erleben von Inkongruenz (zwischen Wahrnehmung und Realität) zu verstärken, ist ihm oft mehr geholfen, wenn seine Betreuer ihm ein Gefühl der Kongruenz vermitteln (d.h. das Gefühl, daß er in seiner Welt verstanden und begleitet wird). Dazu ist es mitunter nötig, in die Welt des Kranken einzusteigen, "Umlenkungsstrategien" zu entwickeln und bewußt auf Wahrheit zu verzichten. Folgendes Wort von Max Frisch ermuntert zur Toleranz: "Man sollte die Wahrheit dem anderen wie einen Mantel hinhalten, daß er hineinschlüpfen kann, und nicht wie einen nassen Fetzen um die Ohren schlagen." Beispiel: Wenn ein Demenz-Kranker zu seiner früheren Arbeitsstelle drängt, könnte man ihm sagen, daß bei der derzeitigen Arbeitslosigkeit auch viele andere Menschen morgens zu Hause bleiben müssen. Als sein Betreuer (Freund usw.) freue man sich jedenfalls darauf, den Tag mit ihm verbringen zu können.

Auch Betreuer müssen ihre Erinnerungen pflegen

Bislang wird wohl noch zu wenig beachtet, wie wichtig es auch für die Betreuer ist, sich in Gesprächen mit anderen immer wieder ihrer eigenen Erinnerungen zu vergewissern und ihre lebensgeschichtlich gewachsene Identität zu bewahren. Die tägliche und oft zermürbende Pflege droht, diese auszuhöhlen. Sie verleitet den Betreuer dazu, sich in der Gegenwart des Kranken zu verlieren. Wenn Betreuer sich häufiger an ihre eigene Vergangenheit erinnern, werden sie nach dem Tod des Kranken leichter an ihr früheres Leben anknüpfen und die Leere der fehlenden Aufgabe überwinden können.

T. Fuchs: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - die Erinnerung an die Demenz. Fortschr. Neurol. Psychiat. 63 (1995) 38-43


Wir danken

für die Bereitstellung des Textes aus dem ZNS- bzw. DEMENZ-SPEKTRUM

 

Zurück zum Anfang des Dokuments