In: Heim aktuell - Leitungshandbuch für Altenhilfeeinrichtungen,
Teil: Pflege, Begleitung, Therapie.
Vinzenz Vrl., Hannover, S. 30c-31
"Das Gedächtnis ist einfach im Eimer" - klagte eine 76jährige Patientin beim Besuch in unserer Klinik: "Ich leg' etwas dahin und fünf Minuten später sehe ich es nicht mehr. Ich suche die halbe Wohnung ab...Das ist schrecklich geworden". Ob sich hinter diesen Beschwerden eine gewöhnliche, altersbedingte Vergeßlichkeit oder eine Erkrankung versteckt, kann in einer eingehenden medizinischen und neuropsychologischen Untersuchung geklärt werden. Die Erkrankungen, die zur vermehrten Vergeßlichkeit führen, sind zum Teil heilbar. So kann vor allem die Depression, die häufig zu Beeinträchtigungen des Gedächtnisses führt, mit Erfolg behandelt werden. Aber auch bei derzeit unheilbaren, zur Demenz führenden Gehirn-Erkrankungen, ist eine diagnostische Abklärung sehr wichtig: sie bietet eine Grundlage für die Behandlungs- und Lebensplanung. Auch die Alzheimer-Krankheit, die mit Abstand häufigste Ursache der dementiellen Abbauprozesse, ist zwar nicht heilbar aber behandelbar.
Mit medikamentöser Therapie kann der Verlust geistiger Kräfte verlangsamt werden. Es stehen hierzu bereits einige Medikamente zur Vefügung und eine schnelle Entwicklung läßt bald weitere Präparate erwarten. Medikamente können auch helfen, solche belastende Symptome wie Depression, Angst oder Unruhe zu behandeln.
Da das Fortschreiten der Erkrankung derzeit medikamentös nicht aufgehalten werden kann, nehmen nichtmedikamentöse Behandlungsansätze besonders viel Raum ein.
Die praktizierten Hilfsmaßnahmen setzen entweder
beim Erhalten der Verhaltenseffizienz durch ein Training der beeinträchtigten
kognitiven Fähigkeiten (wie z.B. Pattschull-Furlan et al., 1989; Meier
et al., 1996) oder beim Einschränken des Leidens durch psychotherapeutische
Unterstützung für Kranke und Angehörige zur besseren Krankheitsbewältigung
(u.a. Feil, 1990; Romero, 1991; Zarit et al., 1993) an. Die Optimalisierung
der Verhaltenseffizienz ist weiterhin im Rahmen der Milieutherapie durch
ein entsprechendes Anpassen der Umgebung angestrebt (Wächtler et al.,
1991; Heymanns, 1993). Auf das störende Verhalten wurde direkt eingegangen
mit Methoden der Validation (Feil, 1990) und Verhaltenstherapie (vgl. auch
Lauter, 1991; Bruder, 1994).
Wegen der multiplen, progredienten Störungen ist
bei Alzheimer Krankheit darauf zu achten, welche therapeutischen Ansätze
sich auf möglichst viele für die Betroffenen relevanten und bedeutenden
Bereiche günstig auswirken. Es sollte auch reflektiert werden, wie
sich eine Intervention auf das gesamte psychische System und auf das soziale
Bezugssystem auswirkt, wobei auch eine eventuell negative Wirkung zu bedenken
ist. Vorzuziehen wären die Methoden, deren systemische Wirkung möglichst
viele günstige und möglichst wenig ungünstige Folgen für
Verhaltenseffizienz, psychisches Wohlbefinden und Verhalten erwarten ließen.
Hierzu haben wir ein psychologisch fundiertes Konzept, die Selbst-Erhaltungs-Therapie,
entwickelt (Romero und Eder, 1992). Mit den Hilfsmaßnahmen der Selbst-Erhaltungs-Therapie
(SET) können das Ausmaß von psychischem Leiden, die Ausprägung
des störenden Verhaltens und die Effektivität des alltäglichenVerhaltens
beeinflusst werden. Mit unserem Behandlungsansatz streben wir eine Begünstigung
des Verlaufs der Krankheit, auch im Sinne einer Reduzierung des Leidens
von Angehörigen, an. Gleichzeitig wollen wir vermeidbare ungünstige
Entwicklungen im Krankheitsverlauf einschränken.
"Time is precious for people with Alzheimer's disease" schrieb die Therapeutin
Robin Yale (1995). Alle heute zur Verfügung stehenden Behandlungsmethoden,
sowohl Medikamente als auch SET und andere nichtmedikamentöse Hilfsprogramme,
können um so wirksamer sein, je früher die Behandlung einsetzt.
Deswegen kommt es sehr darauf an, die Alzheimer-Krankheit möglichst
früh zu erkennen. Dabei reicht auch die noch in der Praxis verbreitete
Diagnose "HOPS" nicht aus.
Für das SET-Konzept haben wir als das übergeordnete Ziel der psychologisch fundierten Hilfsmaßnahmen das Erhalten des personalen Selbst eingesetzt. Zur Begründung ließe sich das Folgende anführen:
Es kann erwartet werden, daß ein längeres Erhalten von Selbst die Effizienz des Verhaltens im Hinblick auf diese wichtigen Aspekte ebenfalls länger möglich macht.
2. Erfahrungen, die das Selbst verletzen - z.B. durch entscheidende Veränderungen in den wichtigen Lebensbereichen - rufen besonders starke negative Gefühle hervor, wie Angst, Scham, Aggression oder Depression. Verluste der gewohnten Umgebung, bisheriger Aufgaben, Beschäftigungen, Fähigkeiten und Zuständigkeiten sind von unvermeidbaren Gefühlen der Ausweglosigkeit und Verzweiflung begleitet.
Es kann erwartet werden, daß ein längeres Erhalten von Selbst diesem psychischen Leiden entgegenwirkt.
3. Die Entwicklung der Alzheimer Krankheit führt oft zu Verhaltensänderungen wie "Weglaufen", Aggressionsausbrüchen, Unruhe oder sozialem Rückzug.
Es kann erwartet werden, daß eine längere Selbst-Erhaltung der Entwicklung des störenden Verhaltens engegenwirkt. Weiterhin lassen sich dem Konzept Hinweise zum Umgang mit dem störenden Verhalten ableiten.
4. Das Selbst ist ein dynamisches System, das sich im Laufe des Lebens formt. Beim Planen der Hilfsmaßnahmen zur Selbsterhaltung sind personale Lebensziele und Lebenswerte des Kranken, auch im Hinblick auf seinen Lebensabschnitt und auf das Schicksal, erkrankt zu sein, zu berücksichtigen.
Dadurch bekommen therapeutische Interventionen mehr personale Relevanz.
Auch bei ähnlichen Mustern geistiger Beeinträchtigungen hat der Verlust des Selbst eines Kranken einen individuellen Charakter. So wie das personale Selbst sich individuell entwickelt, so betreffen die Verluste die Ergebnisse der lebenslangen psychologischen, sozialen und biologischen Erfahrungen. Bei der Behandlungsplanung ist zu berücksichtigen, daß sich die persönlichen Merkmale, Beziehungen, Kenntnisse und Fähigkeiten mit dem Fortschreiten der Demenz verändern.
Hilfsmaßnahmen bestehen aus psychotherapeutischen Interventionen zur Selbst-Erhaltung, aus Programmen zum Bewahren des Selbstwissens und aus Hinweisen zu Betreuungsprinzipien, die auf das Erhalten von personalem Selbst der Kranken abzielen.
Die Betreuungsprinzipien, die sich dem SET-Konzept ableiten lassen, sind den Angehörigen und professionellen Helfern oft vertraut, weil sie sie spontan anwenden. Eine klare Zielsetzung: Selbst-Erhaltung - erleichtert aber den Betreuern eine Orientierung und Beurteilung, wann (und warum) sich eine bestimmte Vorgehensweise unterstützend und wann sogar störend auswirken kann. So können die Betreuer an Sicherheit im Umgang mit den Kranken gewinnen und auch neue Anregungen bekommen.
Im folgenden führen wir einige der Betreuungsprinzipien ein, die
sich aus dem SET-Konzept ergeben, natürlich ohne Anspruch auf Vollständigkeit.
1. Vermeidbare Veränderungen vermeiden.
Von der Alzheimer-Krankheit betroffene Personen streben trotz einschneidenden, unvermeidbaren inneren und äußeren Veränderungen nach Erhaltung des kontinuierlichen Selbst. Zur Kunst des Umgangs mit den Betroffenen gehört, sie dabei unterstützen zu können. Das Bewahren der Kontinuität kann auf mehreren Wegen angegangen werden. So wirken sich z.B. vertraute Geräte, Kulturgegenstände, Möbel, Räume, ihre spezifische Anordnung, ein Erhalten des gewohnten räumlichen Rahmens, der Wohnumgebung und der "Dingwelt" stabilisierend auf das Selbst aus. Dies ist besonders dann wichtig, wenn Personen viele Veränderungen der Lebensabläufe erfahren müssen, ohne sie in das Selbst integrieren zu können.
Auch die Umgangsformen, die die Kranken in ihrem Selbsverständnis unterstützen, sollten, allgemein gesagt, den jeweils vertrauten Umgangsformen entsprechen. So steht am Anfang die Frage, an welche Umgangsformen der Kranke gewöhnt ist (bzw. war). Allein danach können sich die Betreuer jedoch nicht richten, weil Kranken auf ungewohnte Hilfestellungen angewiesen sind, selbst ungewöhnlich reagieren, die gesamte Lebenssituation krankheitsbedingt verändert ist.
Es liegt an den Betreuern, den jeweils richtigen Ton im alltäglichen
Umgang mit den Betroffenen zu treffen, der die Hilfsbedürftigkeit
berücksichtigt und gleichzeitig von den Kranken als angemessen empfunden
werden kann.
2. Erlebnisarmut vermeiden
Zur Grenzziehung und Aufrechterhaltung eigener Identität können bedeutende, aber auch "kleine" Erlebnisse helfen, wie zum Beispiel körperliche Erschöpfung nach einer Bergtour, die mit dem Gefühl, "sich selbst ganz nahe zu sein" verbunden sein kann, ästhetische Erlebnisse, ein Geschenk, eine Einladung oder ein Besuch beim Frisör.
Im Rahmen der SET werden individuelle Möglichkeiten gemeinsamen
Erlebens von Kranken und Angehörigen erkundet, praktiziert und für
den Alltag geplant. Es werden dabei konkrete Vorschläge wie auch allgemeine
Erfahrungswerte (z.B.: "es ist wichtig, daß Betreuer die jeweils
aktuellen Möglichkeiten und Grenzen der Kranken berücksichtigen")
vermittelt.
3. Bewahren der Zuversicht: eine Bezugsperson
Dem Kranken zu vermitteln, daß er trotz seiner Beeinträchtigungen mit den Anforderungen des Lebens zurechtkommen kann, kann vor allem von der betreuenden Bezugsperson abhängen. Bei institutioneller Betreuung ist es deswegen sehr wichtig, daß die Kranken eine kontinuierliche Beziehung zu einer Bezugsperson entwickeln können. Ein häufige Personalwechsel wirkt sich gerade bei Dementen schlimm aus, weil diese Kranken eine kontinuierliche Stütze zum Verstehen, was vor sich geht, nötig haben. Eine Bezugsperson kann hier allein durch ihre Anwesenheit mehr Zuversicht vermitteln, als viele Worte und Erklärungen.
Im Rahmen der SET werden auch individuelle Programme zum Bewahren des Selbst-nahen Wissens für jeden Kranken erarbeitet und so eingeführt, daß der Kranke und die Betreuer es im Alltag fortsetzen können.
Im SET-Konzept gehen wir von der Annahme aus, daß das Üben von biographischem und anderem Selbst-bezogenen Wissen zur Reaktivierung eines Teils dieses Wissens führen kann. Darüber hinaus kann erwartet werden, daß ein Üben von noch erhaltenen Fähigkeiten den kommenden Störungen entgegenwirkt. Die inhaltliche Selektion des Wissens, das geübt werden sollte, muß individuell vorgenommen werden. Jeder Betroffene kann zu Beginn der Erkrankung einige Geschichten aus seinem Leben erzählen, die er nicht nur erinnert, aber die ihm auch wichtig sind. Diese Geschichten, die Bilder, Photos, Lieder und Musikstücke, die dazu gehören, sollten von SET-Therapeuten, Angehörigen und Betreuern festgehalten werden und mit dem Kranken wiederholt, regelmäßig ins Gespräch gebracht und erlebt werden. Sie bilden Brücken zwischen dem gegenwärtigen und dem lebensgeschichtlichen "Ich" der Kranken. Und sie können vielleicht - wie Deiche - vor der Flut des Vergessens eine zeitlang Schutz bieten. Mit dem Fortschreiten der Erkrankung bleiben immer weniger Geschichten, immer weniger Worte erhalten. Auch der Rest kann zum "Ich" des Betroffenen führen, ihn in seinem Selbstverständnis erreichen und ansprechen. Die Deiche werden weiter verlegt, neue Inhalte werden wiederkehrend in Erfahrung gebracht. Oft bewegt sich das "große Vergessen" von den letzten Lebenszeiten rückwärts bis in die Kindheitsperiode. Dementsprechend verlegen sich dann die thematischen Schwerpunkte beim Bewahren des Selbst-nahen Wissens.
Es ist oft möglich und erforderlich, daß Erinnerungs-Programme in therapeutischen Sitzungen vorgenommen werden. Auf jedem Fall sollte sich das Bewahren des Selbst-nahen Wissens auf die Therapiestunden nicht beschränken, sondern durch alltägliche Gesprächsthemen, Aktivitäten, Erlebnisse und durch die Gestaltung der Umgebung fortgesetzt und unterstützt werden.
Die Bedeutung des Erinnerns für die Selbst-Erhaltung beschränkt sich nicht auf das Bewahren von Selbst-nahem Wissen. Die weitere Selbst-unterstützende, psychotherapeutische Wirkung wurde bereits in den sechziger Jahren in England erkannt (Butler, 1963) und läßt sich wie folgt formulieren:
Zur SET sind bis jetzt die folgenden Publikationen erschienen:
Romero B., Eder G.: Selbst-Erhaltungs-Therapie (SET): Konzept einer neuropsychologischen Therapie bei Alzheimer-Kranken. Z Gerontopsychiatrie und Psychologie, 4, 267-282
Romero B.: Selbst-Erhaltungs-Therapie (SET): Betreuungsprinzipien, psychotherapeutische Interventionen und Bewahren des Selbstwissens bei Alzheimer-Kranken, 1997,. in: Weiss S., Weber G. (Hg.): Handbuch Morbus Alzheimer. Neurobiologie, Diagnose und Therapie. Beltz Psychologie Vrlgs. Union. S. 1209-1252
Romero B.: Selbst-Erhaltungs-Therapie bei Patienten mit erworbener Hirnschädigung.
Ergotherapie und Rehabilitation, 2, 1997, S. 180-185
Zitierte Literatur
Bruder J.: Gerontopsychiatrische Erkrankungen. Olbrich E., Sames K., Schramm A. (Hrsg.), Kompensium der Gerontologie, Ecomed, 1994, 1-67
Butler R.N.: The life review: An interpretation of reminiscence in the aged. Psychiatry, 1963, 26, 65-76
Epstein S.: The self-concept revisited: Or a theory of a theory. American Psychologist, 1973, 28, 404-416
Erikson E.H.: Identität und Lebenszyklus. Suhrkamp taschenbuch wissenschaft, 1973
Feil N.: Validation. Ein neuer Weg zum Verständnis alter Menschen. DelleKarth, 1990
Greenwald A.G., Pratkanis A.R.: The Self. Wyer R.S. & Srull T.K. (eds.), Handbook of social cognition, Lawrence Erlbaum Associates, 1984, 129-178
Heymanns H.: Integrierende Milieugestaltung auf einer gerontopsychiatrischen Station. Zeitschrift für Gerontologie, 1993, 2, 97-100
Lauter H.: Psychologische Probleme des Alterns. Vortrag auf der Arbeitstagung "Verhaltenstherapie im Alter", München. 1991
Meier D., Ermini-Fünfschilling D., Monsch A.U., Stähelin H.B.: Kognitives Kompetenztraining mit Patienten im Anfangsstadium einer Demenz. Zeitschrift für Gerontopsychologie, 1996, 9 (3), 207-217
Pattschull-Furlan A., Schneider H.D., Zihlmann G.: Wie kann man verwirrte alte Menschen zu Hause und die sie betreuenden Angehörigen und Helfer unterstützen? Ergebnisse einer Felduntersuchung. Bericht 1/1989 der Forschungsgruppe Gerontologie am psychologischen Institut der Universität Freiburg/ Schweiz, 1989
Romero B.: Gruppen für Angehörige dementer alter Menschen. Ziele, Vorgehensweisen und Erfahrungen. Haag G., Brengelmann J.C. (Hrsg.), Alte Menschen. Ansätze psychosozialer Hilfen, Gerhard Röttger Verlag, 1991, 89-114
Wächtler C., Jürgensen G., Madey A. et al.: Das Lben mit Leben erfüllen. Ein stationäres Betreuungsangebot für Demente - konzeptuelle Überlegungen und Schwierigkeiten . Psycho, 1991, 8, 530-537
Yale R.: Developing Support Groups for Individuals with Early-Stage Alzheimer's Disease. Health Proffessions Press, 1995
Zarit S.H., Pearlin L.I., Schaie K.W.: Caregiving Systems. Informal and formal helpers. Lawrence Erlbaum Associates, 1993
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