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Dr. Dr. Herbet Mück

Demenz wegoperieren?

© Dr. Dr. Herbert Mück, Köln

Deutschland. Viele ältere Menschen leiden unter einer altersbedingten Sehminderung. Letztere beeinträchtigt nicht nur die Lebensqualität, sie kann auch die Intelligenz verringern. Je nach Ausmaß der intellektuellen und sonstigen Einbußen (z. B. bei den Sozialkontakten) werden mitunter sogar die Kriterien einer Demenz erfüllt. Wie Untersuchungen von S. Lehrl und K. Gerstmeyer zeigen, verbessern sich nach einer Kataraktoperation die Intelligenzleistungen älterer Personen deutlich. Vor diesem Hintergrund ist es für die Autoren ein Gebot humaner Verantwortung, zumindest solchen Patienten das Stigma „Demenz“ zu ersparen, bei denen eine Sehminderung die Diagnose begünstigt. Hierfür kommen zwei Strategien in Betracht: 1. der Verzicht auf Demenztests, deren Ergebnisse von der visuellen Wahrnehmung abhängen, 2. Angebot und Durchführung von Kataraktoperationen, wo dies sinnvoll und möglich ist.

Lehrl und Gerstmeyer stützen ihr Plädoyer auf eigene Erfahrungen an 40 über 73-jährigen, die sich einer Kataraktoperation unterzogen hatten. Vor dem Eingriff und einige Wochen danach wurde der „Kurztest für allgemeine Basisgrößen der Informationsverarbeitung“ (KAI) durchgeführt. Dieser misst zwei Basisgrößen der „fluiden Intelligenz“: die Informationsverarbeitungsgeschwindigkeit und die Kurzzeitspeicherkapazität („Grenze der Gegenwartsdauer“). Nimmt man die Kurzzeitspeicherkapazität als Beurteilungskriterium, so wäre bei 25 der insgesamt 40 Teilnehmer ein Demenz-Verdacht berechtigt gewesen. Durch das Einsetzen von Intraokularlinsen verbesserte sich bei den Patienten die Speicherkapazität je nach Teilstudie im Mittel um 26,5 bis 71,1 Prozent. Dagegen blieb sie in einer unbehandelten Kontrollgruppe so gut wie unverändert (+1,8 Prozent).

Die Autoren betonen, dass zahlreiche Untersuchungsteilnehmer langfristige geistige Leistungseinbußen aufwiesen, die sich auf das Alltagsleben auswirkten. Diese Personen wirkten daher nicht nur „wie dement“, sie waren es auch. Die Situation veränderte sich bei vielen durch den operativen Eingriff, weil anschließend entweder die Diagnosekriterien nicht mehr erfüllt waren oder der Schweregrad der Demenz abgenommen hatte. Die Autoren erwähnen, dass andere Studien ebenfalls Zusammenhänge zwischen Sehkraft und Demenz angedeutet haben. So schnitten in einer Untersuchung Demenz-Patienten mit erheblichen Seheinbußen im Mini Mental State Test wesentlich schlechter ab als Demenz-Kranke ohne vergleiche Sinnesbeeinträchtigung.

So erfreulich die Perspektive auch sein mag, Demenzen mit Hilfe von Kataraktoperationen zu lindern, so unsicher ist doch deren Realisierbarkeit. Laut einer von den Autoren zitierten Studie sollen sich nämlich kognitiv stärker beeinträchtigte Personen vehementer gegen Kataraktoperationen wehren als kognitiv leistungsfähigere. Mit anderen Worten: Eine Demenz kann ihrer Heilung entgegenstehen.

S. Lehrl et al.: Systematische Fehleinschätzung von Altersdemenz durch kataraktbedingte Minderung der Informationsverarbeitung. Ophthalmologe 2004 (101) 164-169

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