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Auswirkungen der Pflegeversicherung auf die ambulante Versorgung Demenzkranker

Günther Schwarz, Alzheimer Gesellschaft Baden-Württemberg e.V. (aus Alzheimer Informationen Sept. 1995; dieser Artikel wurde mit einigen Ergänzungen durch den Verfasser aus der Zeitschrift "Klinikarzt" [Ausgabe 8/95] übernommen)

Die Pflegeversicherung ist wichtig und wird von allen Alzheimer-Selbsthilfeverbänden begrüßt. Sie ist geeignet, um die finanziellen, psychischen und physischen Lasten zu mildern, die Angehörige Demenzerkrankter im Laufe einer meist enorm belastenden und über viele Jahre dauernden Pflege auf sich nehmen. Während Demenzerkrankte in den grundlegenden Teilen des Pflegeversicherungsgesetzes noch ausdrücklich benannt sind, zeigt sich jedoch in den Details der Bestimmungen, der Richtlinien und in der Praxis der Umsetzung eine zunehmende Einschränkung bei der Berücksichtigung dieses Personenkreises.

Probleme bereits bei der Einstufung

Die geltenden Richtlinien für das Begutachtungsverfahren im Rahmen der Einstufung bei der Pflegeversicherung zeigen erhebliche Schwächen. So können Angehörige, die Demenzerkrankte Tag und Nach nicht mehr alleine lassen können u. U., leer ausgehen. Da diese Patienten unter Umständen die im Gesetz benannten "Verrichtungen des täglichen Lebens" (Waschen, Essen, Darm- und Blasenentleerung usw.) noch ohne fremde Hilfe bewältigen können, sind sie nach den Richtlinien für die Begutachtung nicht pflegebedürftig. Demenzerkrankte haben erst Anspruch auf Leistungen aus der Pflegeversicherung, wenn die pflegenden Angehörigen oft schon Jahre der Belastung hinter sich haben. Der psychische Betreuungsaufwand, der oft viel belastender ist als die reine Hilfe bei alltäglichen Verrichtungen, wird bei der Begutachtung praktisch nicht berücksichtigt.

Hinzu kommt, daß Gutachter, die häufig vergleichsweise wenig Erfahrungen mit Demenzerkrankten haben, den tatsächlichen Umfang des Hilfebedarfs bei den "Verrichtungen des täglichen Lebens" wegen der äußerlich meist gesund wirkenden Kranken unterschätzen oder gar bagatellisieren. Deshalb erfolgt häufig eine zu niedrige Einstufung.

Somatische Orientierung bei Pflegesachleistungen

Während nach den alten Regelungen bei Schwerpflegebedürftigkeit (§ 53 SGB V) ein Pflegeeinsatz ohne nähere Beschreibung der Pflegetätigkeit abgerechnet werden konnte, soll dies in Zukunft nicht mehr möglich sein. Der Trend bei den auf Landesebene getroffenen Vereinbarungen zwischen Pflegekassen und Leistungsanbieter geht entgegen den Forderungen der Leistungsanbieter eindeutig dahin, Betreuungsleistungen nicht mehr zu den erstattungsfähigen Pflegesachleistungen zu zählen. Der Schwerpunkt wurde auf rein grundpflegerische Leistungen gelegt, obwohl in § 28 des Pflegeversicherungsgesetzes ausdrücklich darauf hingewiesen wird, daß "bei der Leistungserbringung auch die Bedürfnisse des Pflegebedürftigen nach Kommunikation" berücksichtigt werden sollen. Gerade Demenzerkrankte benötigen eine ganzheitliche Pflege, die den Betreuungsaspekt hervorhebt. Oft ist es gerade die Betreuung, bei der die pflegenden Angehörigen eine fachkompetente Entlastung suchen. Diese Entlastung muß jetzt aus eigener Tasche bezahlt werden. Notfalls muß die niedrigere Pflegegeldleistung unter Verzicht auf Sachleistungsansprüche eingesetzt werden.

Qualifizierte Kräfte fehlen

Nach wie vor ist der Zustrom von Interessenten für eine Ausbildung im Altenpflegebereich gering. Altenpflegeschulen berichten über einen zunehmenden Anteil an Auszubildenden, die weder die Motivation noch die persönlichen Voraussetzungen für das Berufsfeld mitbringen. Gerade die Betreuung Demenzkranker stellt jedoch hohe Anforderungen an die persönliche Eignung. Psychische Belastbarkeit, Lernbereitschaft und das Sich-einlassen-können auf gerontopsychiatrisch erkrankte Menschen stellen wichtige Voraussetzungen dar. Hinzu kommt, dass die Ausbildung in den Schulen zu wenig auf das Thema Gerontopsychiatrie eingehen. Kürzlich wurde dies durch eine Umfrage des Kuratoriums Deutsche Altershilfe bestätigt, nach der 70% der Auszubildenden Defizite bei der Vermittlung gerontopsychiatrischer Kenntnisse sehen. Auch im berufsbegleitenden Fortbildungsbereich wird derzeit bei Trägern von Einrichtungen wegen des allgemeinen Kostendrucks gespart. Wie soll es so möglich sein, in absehbarer Zeit ein flächendeckendes Netz für die Versorgung von ca. 1 Million Demenzerkrankter aufzubauen?

Kompetente Pflege kostet ihren Preis

Kein Mensch wundert sich heute über Handwerkerpreise von 50 DM und mehr pro Stunde. Doch erntet man von allen Seiten Kritik, wenn eine Stunde Pflege mehr als 30 DM kosten soll. Dabei sind die Ansprüche gerade an die gerontopsychiatrische Pflege sehr hoch. Häufig muß unter schwierigen Arbeitsbedingungen qualifizierte Arbeit geleistet werden. Demenzkranke, die teilweise sehr unruhig, aggressiv oder unkooperativ sind, müssen in beengten und manchmal unhygienischen Wohnverhältnissen zu unterschiedlichsten Zeiten (auch am Wochenende) gepflegt werden. Wird auch hier eine Billigpreis-Politik bei Verhandlungen mit Pflegekassen Vorrang haben, wird gerade die Pflege der am schwersten Betroffenen am meisten darunter leiden?

Geeignete Tagespflegeplätze fehlen

Vielerorts, vor allem in ländlichen Gebieten, gibt es noch gar kein erreichbares Angebot der Tagespflege. Wo sie vorhanden ist, können unruhige bzw. schwierig zu betreuende Demenzkranke wegen der derzeitigen Stellenschlüssel oft nicht betreut werden. Ablehnungen sind nicht selten die Folge.

Die im Rahmen der Pflegeversicherung ausgehandelten Bedingungen zur Abrechnung von Tagessätzen bewogen die Trägerverbände zum Teil dazu, ihre Einrichtungen zur Zurückhaltung beim Aufbau von Tagespflegeeinrichtungen zu raten. Lediglich Baden-Württemberg versucht derzeit Sonderregelungen für den Aufbau gerontopsychiatrischer Tagespflegeeinrichtungen mit verbessertem Stellenschlüssel und Kostenbeteiligung der Krankenkassen aufzubauen.

Zu wenig Kenntnisse bei Ärzten

Im Rahmen der ambulanten Versorgung Demenzerkrankter muß auch die ärztliche Versorgung erwähnt werden. Immer noch wissen zu viele Hausärzte zu wenig über die Diagnose und Behandlung von Demenzerkrankungen Bescheid. Behandlungsfehler oder Versäumnisse führen aber häufig zu einem vermehrten Pflegeaufwand für die pflegenden Angehörigen.

Beratungsbedarf bleibt unberücksichtigt

Weder in den Leistungen der Pflegeversicherung, noch in der Gebührenordnung für Ärzte wird dem umfassenden Beratungs- und Informationsbedarf pflegender Angehöriger angemessen Rechnung getragen. Ärzte, die demenzerkrankte Menschen begleiten, müssen als oft erster Ansprechpartner in der Lage sein, pflegende Angehörige zu beraten und ihnen in geeigneter Weise auch andere Hilfs- und Beratungsangebote nahe zu bringen. Beratungsstellen und ambulante Dienste haben derzeit einen enormen zusätzlichen Beratungsaufwand zu leisten, damit Pflegebedürftige die ihnen zustehenden Leistungen aus der Pflegeversicherung erhalten. Derzeit hilft die Pflegeversicherung am meisten denjenigen, die sich selbst mit den Bestimmungen und Richtlinien auseinandersetzen können und das nötige Durchhaltevermögen besitzen, um nach unzureichenden Entscheidungen weitere Schritte zu unternehmen. Viele der älteren und insbesondere durch die Pflege Demenzkranker stark belasteten Angehörigen sind dazu ohne fremde Hilfe nicht in der Lage.

Schlussfolgerung

Die Pflegeversicherung bietet derzeit wenig Anreize zur Verbesserung der ambulanten Versorgung Demenzkranker. Im Gegenteil, der allgemeine Kostendruck wirkt sich dort am meisten aus, wo qualifizierte Pflege und Betreuung am notwendigsten ist. Die Versorgungssituation lässt sich nur verbessern, wenn die Schwierigkeiten insgesamt auf verschiedenen Ebenen gesehen und angegangen werden.

 


© Günther Schwarz

 

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