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Nennen wir sie mal Lena...

... die Frau, die in die Situation einer pflegenden Angehörigen hineingerutscht ist - egal wie und wann, jedenfalls ist sie jetzt dort:
Im Atlantik, diesem unberechenbaren Gewässer mit den lebensgefährlichen Unterströmungen.
Warum sie da jetzt in dieser Situation ist, weiß sie nicht mehr, sie ist da - wie von magischer Hand gezogen - hingelangt. Vielleicht wollte sie es nur mal ausprobieren, wie es dort ist und jetzt kommt sie nicht mehr zurück. Vielleicht hat sie auch die Gefahren unterschätzt, als sie sich darauf einließ.
Nun schwimmt sie jedenfalls schon einige Zeit dort und hat Stürme erlebt und sonnige Zeiten, und ab und zu hat sie auch eine der Unterströmungen erwischt und sie sogartig nach unten gezogen.
Gott-sei-Dank hat sie eine Rettungsleine - auch "AlzFor-L" genannt - die sie durch Zufall entdeckt hat. Es gibt einige Rettungsschwimmer an Land, die haben diese Leine entwickelt und ins Meer geworfen. Sie waren selbst mal den Gefahren des Atlantiks ausgesetzt und haben sich seitdem viel damit beschäftigt, anderen zu helfen, sie zu retten.
Vielleicht haben sie nicht geahnt, wie stark ihre Leine ist, als sie sie ins Meer warfen. Lena ist nicht die einzige, die sich Kraft aus dieser Leine holt, da sind noch andere mit ihr. Sie alle schwimmen gemeinsam im Atlantik.

Manchmal geht es Lena durchaus gut, sie erholt sich dann vom letzten Zwischenfall  und ruht sich aus, liegt im Wasser, tankt Energie und einer von den anderen gerät in einen Strudel.
Sie alle helfen dann, werfen die Leine raus, rufen ihm zu, muntern ihn auf. Das geht fast reihum. Inzwischen haben sie auch viel dazu gelernt, sie wissen, wo die Strömungen am schlimmsten sind und wann das Meer gefährlich wird, sie haben auch viel von den Rettungsschwimmern gelernt. Sie wissen, dass sie Aufsicht brauchen und in der Schwimmzone bleiben sollten, um ganz sicher zu sein.

Manche haben dennoch keine Kraft mehr, sie haben schon zu lange gegen die Strömungen gekämpft, sie waren besonders starken Strudeln und Stürmen ausgesetzt und müssen raus, um nicht zu ertrinken, aber sie wissen nicht wie, haben Angst. Dann kommen die Rettungsschwimmer und helfen zusammen mit Lena und den anderen, dass sie ohne große Blessuren wieder an Land kommen.

Alle paar Tage trauen sich neue ins Meer. . Lena und die anderen rufen ihnen zu, wo sie aufpassen müssen und dass das Meer gefährlich ist, erzählen ihnen von der Leine. Manche kommen schon ganz kraftlos an und die im Wasser denken:
 "Um Gottes Willen, die sollen bloß an Land bleiben, die gehen uns unter."
Eine andere Neue kommt ganz forsch daher mit einem breiten Schwimmer-Kreuz, sie will die Leine gar nicht und lacht über die Warnungen. Sie kann gut schwimmen, ruft sie, und schwimmt (zu) weit raus.

Ab und zu sind Lenas Geschwister am Strand und schimpfen sie aus, sie soll da raus kommen und überhaupt, warum sie das überhaupt gemacht hat und warum sie nicht weiter mit ihnen ans Mittelmeer fährt. Da war es doch immer so schön.
Lena ruft ihnen zu, dass es im Moment viel zu gefährlich für sie sei, rauszukommen, sie will es erklären. Aber der Wind ist zu stark, sie verstehen sich nicht. Irgendwann gibt Lena auf, gegen den Wind zu schreien, es kostet sie zu viel Kraft.

Und da ist eine Freundin von Lena, die ihr zuwinkt. Sie sagt nicht viel, aber sie weiß, dass Lena das schon richtig macht und sowieso nicht anders könnte.
Irgendwann kommt sie schon wieder raus, denkt sie. Sie freut sich, dass Lena die Leine hat und weiß, dass sie sie braucht und dass ihr die anderen im Wasser viel besser helfen können als sie. Andere Freundinnen lassen sich immer seltener blicken, sie verstehen nicht, was Lena da so lange draußen macht und die Leine finden sie völlig blöd.

Und Lenas Tochter sitzt am Strand und schaut der Mutter zu. Manchmal war sie mit ihr zusammen im Atlantik, einmal waren sie beide starken Turbulenzen ausgesetzt. Lena hat ihre Tochter dann wieder an Land schwimmen lassen, es wäre zu gefährlich geworden. Aber die Tochter kommt dennoch immer mal vorbei und feuert Lena an, manchmal schwimmt sie auch eine Weile mit. Sie ist noch sehr jung, aber sie hat schon ein Menge gelernt im Umgang mit Stürmen und den Urgewalten des Lebens. Sie beide waren vorher immer nur am Mittelmeer. Manche Leute gehen vorbei und fragen sich, warum Lena nicht besser auf die Tochter aufpasst, aber Lena weiß, dass die Tochter inzwischen gut allein zurecht kommt. Die Passanten schütteln den Kopf
"Wie kann man nur so mit Kindern umgehen".
Die Passanten tuen alles für das Wohl ihrer Kinder, schützen sie vor der Sonne, cremen sie stündlich mit höchstmöglichem Schutzfaktor ein, wechseln ständig deren Badeanzüge und lassen sie nicht ins Salzwasser. Viel zu schmutzig, denken sie, und deren Kinder mögen das auch gar nicht, sie schreien, wenn sie das salzige Wasser nur in den Mund bekommen. Lena und ihre Tochter lächeln darüber, sie sind mit Salzwasser groß geworden und lieben es, mit dem Kopf zuerst in die Wellen zu springen.

Und da sind sie wieder, die Geschwister von Lena und schreien sie an, sie soll da raus kommen, ob sie denn gar nicht wisse, dass ihre Ehe daran kaputt gehe, an ihrem Eigensinn und ihrer Sturheit? Ach ja, Lena hat ja einen Ehemann, wo ist der überhaupt? Der ist im Hintergrund, er kennt sich nicht so aus mit den Gefahren am Atlantik und kann ihr nicht groß helfen, er sieht die Leine auch mit großer Skepsis. Ist die überhaupt gut oder zieht sie Lena noch tiefer ins Wasser? Er macht sich Sorgen, bleibt aber im Hintergrund, beobachtet Lena und wartet darauf, dass sie endlich wieder raus kommt, dass sie endlich wieder mit ihm ans Mittelmeer fährt. Er weiß, dass Lena tut, was sie tun muss und dass er gar nicht dagegen anzureden braucht - und im Grunde liebt er sie dafür.

Lena weiß, dass sie nicht mehr lange schwimmen muss, das Schlimmste ist geschafft. Sie freut sich schon auf die ruhige Zeit am Mittelmeer, aber manchmal fragt sie sich auch, ob es ihr dann nicht zu langweilig wird.....

© Maria Tölle im Mai 2000

 

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