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Hannes

Auszüge aus dem Tagebuch des Sohnes Martin, der für zwei Wochen die Pflege seines Vaters Hannes übernimmt, um seiner Mutter Angelika einen Urlaub zu ermöglichen

Samstag, 6. Mai 2000
Mein Vater, wo bist Du? Ich gehe neben Dir, der Du niemanden ansiehst, nur kurze Fragen stellst, immer wieder die gleiche: "Gehen wir die große Runde?", ja Hannes, wenn Du willst." Der Du Deine Runde gehst leicht vornüber gebeugt und schlurfend. "Gehen wir die große Runde?" ja, wenn es Dir gefällt". Es ist ein wunderbarer Maitag, warm, voller Flieder, blühenden Kastanien, weiß und rosa, gelben Forsythien, selbst hier in der Stadt voll von leichtem Blütenduft. Die erste Hälfte der Runde ist Großstadttreiben, entlang einer sechsspurigen Straße, entlang den Gebäuden einer großen Behörde, Radfahrer, Autos kommen uns entgegen. Es wird ruhiger als wir einbiegen in die Genossenschaftssiedlung, als wir die Brücke passieren und hinter ihr entlang den Gleisen in die grüne Tiefe einer alten Vorort-Villenstraße eintauchen. Du schlurfst schnell, meinen Scherz nicht beachtend. "Gehen wir die große Runde?" Aber Vater, wir sind ja schon bald wieder daheim. Must Du mal?" "Nein". Es kommt uns eine ältere Frau entgegen mit Einkaufstaschen. Wo sollte ich mit meinem Vater hinspringen, wenn er jetzt plötzlich pinkeln müsste? Dann das strenge Ehepaar mit dem nicht angeleinten Hund, die nicht an uns vorbeikommen, weil Hannes ihnen nicht aus dem Weg geht. Der Hund knurrt, als sie sich an uns vorbeidrücken.
Habe ich mir zuviel vorgenommen? Ein Experiment? Ein Abschied? Ein Geschenk für Angelika? Die Antwort auf einen Vorwurf: Ich würde zuviel an mich selbst denken? Ich werde versuchen, eine Woche in Deiner neuen Welt zu leben, versuchen, diese Welt etwas verstehen zu lernen oder noch etwas von Dir wieder zu finden, von meinem Vater. Ein bisschen graut mir davor.
Gestern Abend 21:30 Uhr Ankunft. Angelika hatte noch ein Abendessen bereitgestellt, bügelt ihrer Röcke und gibt mir Tipps für die nächsten Tage. Diese Nacht "darf" ich noch alleine in meinem alten Zimmer schlafen. Ab heute aber mit meinem Vater in deinem Bett. Er kann nicht mehr alleine schlafen, wacht angeblich auch bereits sehr früh auf und braucht eine Aufsicht. Was wird das werden, wo ich eigentlich nie richtig schlafen kann, wenn ein zweiter mir zu eng auf die Pelle rückt, mag es auch die attraktivste Frau der Weit sein?

Am heutigen Morgen darf ich beim Waschen, Rasieren und Ankleiden noch zuschauen, ab morgen muss ich ihm helfen. Mein Vater kann noch mehr selbst machen, als ich befürchtet hatte. Nur die linke Wange wird nicht mehr fertig rasiert und beim Anziehen gelingt ihm der linke Socken nicht mehr, ebenso wenig Unterhemd und Polohemd. Auch die Hose will nicht recht zugehen. Das Aufziehen der Fensterläden klappt nur zögerlich, Vater vergisst nach jedem Fensterladen, dass es noch weitere gibt.
Die kurze und - nach dem Messen des Blutzuckers, Wert viel zu hoch - die große Runde verlaufen ohne Zwischenfälle. Nach dem zweiten Frühstück legt er sich auf die Couch und döst. Ich flitze auf einem alten Fahrrad noch schnell zum Supermarkt und Bäcker. Weil Angelika es geraten hat, mache ich um Mittag den Fernseher an und lade Vater ein, sich einen alten Kinderfilm anzusehen, der ihm tatsächlich Freude zu machen scheint. Angelikas Rat: Filme von vor 1990 aussuchen (die waren vermutlich noch nicht so brutal).
Zum Mittag gibt es Gemüsesuppe und Schweinefilet, eine Kombination, an der ich meinen eigenen Geisteszustand erkenne. Aber Vater schmeckt es. Wir machen eine Mittagsruhe. Ich wecke ihn zum Tee, aber er geht nur pinkeln und legt sich wieder hin. Ich muss ihn holen. Wir setzen uns in den Garten, er trinkt schnell und isst noch schneller seine paar Diabetiker-Kekse. Auf mein Angebot hin, ihm etwas aus Ludwig Thomas Lausbubengeschichten vorzulesen, geht er das Buch zu holen - und legt sich stattdessen im Studio wieder auf die Couch. Keine Ahnung, ob das Mattigkeit ist wegen irgendwelchen falschen Blutzuckerwerten oder der Versuch/einem als unangenehm empfundenen schweigenden Beisammensitzen mit dem Sohn auszuweichen, oder einfach wirklich nur Müdigkeit.
Bärbel und Paula kommen, Hannes liegt nicht mehr auf der Couch. Ich finde ihn aber noch oben im Bad. Auch Christiane mit Helene und schließlich Nina und dann noch Wolfgang kommen in den Garten. Hannes gefällt es jetzt. Schweigend sitzt er dabei und wir vergessen völlig, dass eigentlich sein nachmittägliches Fernsehprogramm schon längst begonnen hat. Auf dem Spaziergang immer und immer wieder die gleiche Frage nach A., einem ehemaligen Assistenten von Vater. Ich verliere irgendwann fast die Lust zu antworten. Das Wasser bei Händewaschen wird angelassen. Die Fensterläden herunterlassen wird vergessen. Wie viel soll ich Dir abnehmen, zu welchen Aufgaben Dich drängen?
Ach mein Vater, ich schreibe dies alles, um eine kleine Mauer um mich etwas aufzubauen, einen Abstraktions-»Schutzschirm«, aber gleichzeitig merke ich, dass mir völlig der Abstand fehlt. Ich bin gespannt, wie es in den nächsten Tagen wird. Das Gespräch mit Dir fehlt mir, Du fehlst mir. Was für ein trauriger und völlig untauglicher Ersatz ist dieses Schreiben, wenn der Adressat den Brief nicht mehr erhalten wird. Was hättest Du mir geantwortet, wenn ich Dir meine Gedanken über das Ich und die Persönlichkeit mitgeteilt hätte, die mir nun durch den Sinn gehen? Es wären vermutlich bessere, einfachere, klarere und mit einer gewissen Spur Ironie angehauchte Antworten und Gedanken gewesen als die meinen, Gedanken mit einer durch Dialektik erhöhten Haltbarkeit für den, der es sich nicht gerne leicht macht. Vielleicht hättest Du geantwortet, dass es gut sei, dass Persönlichkeiten nicht statisch sind und Veränderung von uns nur naiver Weise immer mit positivem Vorzeichen behaftet gedacht würde. Wer Entwicklung will, kann Rückschritt nicht ausschließen. Was hättest Du geantwortet auf den Einwand, dass sich Verantwortung aber nur an der Kontinuität einer Person festmachen kann, Diskontinuität oder gar Verfall der Persönlichkeit dagegen einen verantwortungsfreien Zustand des nicht mehr greifbaren Individuums bedeuten?...

Sonntag, 7. Mai 2000
Eine ungewohnte Nacht. Die eigentliche Tiefschlafphase von Mitternacht bis gegen 3 Uhr früh wird wohl die nächsten Tage entfallen. Hannes ist dann sehr unruhig und geht oft aufs Klo. Fragt nach Angelika, will aufstehen und, und, und. Ich dachte erst, ich könne mich in mein altes Zimmer verkrümeln, aber dann hätte ich jede halbe Stunde aufstehen müssen um nachzusehen. Neben ihm liegend war er leichter zu beruhigen und zum weiterschlafen zu bewegen. Für mich war das mehr ein dämmern, aber immerhin konnte ich gegen morgen etwas schlafen, als er sich auf seine aktive Seite (rechts) drehte und ruhiger wurde. Bis 7 Uhr habe ich ihn im Bett halten können. Erste gemeinsame Morgentoilette. Ging besser, als gedacht, aber ich muss ihm wirklich alles sagen, bei fast allen Verrichtungen helfen und ständig macht er etwas anderes, als er soll. Mein Vater sagt meist »ja«, wenn ich ihn frage, auch wenn er »Nein« meint. Dass er »Nein« meint, kann ich dann seinen Handlungen entnehmen. Dann geht er einfach nicht ins Bad oder zieht sich den Socken nicht an. Meint er »Ja«, dann klappen Dinge manchmal ohne mein Zutun wirklich gut. So gesehen, meint er oft »Nein«.
Wieder ein wunderbarer Maitag. Nach dem Frühstück drehte Hannes am Sonntagmorgen um 7.30 Uhr erst einmal eine kleine Runde. Nach dem Zuckermessen (wieder zu hoch) gingen wir zu zweit noch einmal eine, bevor ich mit ihm nach einem 2. Frühstück - bestehend aus einem Jogurt - zur Menschenweihehandlung fahre. Davor hatte ich einigermaßen Sorge, ob es gut gehen würde, aber er hatte schon in der Nacht und am Morgen nach dem Besuch gefragt, ich konnte ihn schlecht verwehren ...........
Die Kirche ist voll, die bunten Fenstergläser leuchten und bei mir stellt sich die »Kirchenstimmung« der gedämpften Gelassenheit ein. Mitten in der Handlung, im zentralsten Teil, dem Vaterunser, knallt Hannes mit einem Hatschi in den Raum, das alle zusammenfahren lässt. Es bleibt bei dem einen - wenn auch heftigen - Ausrutscher. Natürlich muss ein Ritus es ertragen können, wenn er gestört wird. Er hat es auch ertragen und der Priester ist nicht aus dem Takt gekommen. Aber ich frage mich, ob Hannes so laut hätte niesen müssen, wenn er irgendwo in der S-Bahn gesessen wäre, oder ob es Hannes kleiner Anti-Ritus-Virus war. Später am Tag knallt er mir zuhause jedoch noch einmal so ein Hatschi hin, dass ich fast umfalle.
Nach der Handlung ergreifen wir schnell die Flucht und fahren zum Thielplatz, einen Spaziergang machen im Schwarzen Grund. Es ist eine schöne, warme Stille über dem Park, durch den ich vor mehr als zwanzig Jahren zuletzt zur Schule ging; jahrelang davor gegangen war. Ohne mich weiter darum bemühen zu müssen, stiegen die unterschiedlichsten Bilder dieser Vergangenheit aus meiner Erinnerung auf und ich musste nur darauf achten, dass sie sich nicht verwirrten und in die falsche Richtung Assoziationsketten bildeten. Wir liefen den Weg zu unserer alten Schule und im Bogen zum U-Bahnhof zurück. Die Wege sehen genau wie damals aus. Ich könnte mir an einem solchen Tag hier selbst begegnen, ein dicklicher Mittvierziger mit Halbglatze einem stürmischen langhaarigen, springenden Jungen von 16 Jahren. Paare sonnten sich an den Seen, junge Mütter liefen lachend ihren Kindern nach, alte Herrschaften standen und bewunderten die Baumblüten oder schauten ihren Hunden zu. Plötzlich kam ich mir wie gefangen vor. Gefesselt an einen alten Mann, dem all diese Schönheiten und Freuden des Lebens nichts mehr sagen können und den ich nicht allein lassen darf, dessen Gleichgültigkeit ich teilen muss. Und Angelika tat mir leid.
Ich machte Hannes ein Mittagessen, das er wie alles Essbare zügig in sich hineinschaufelte. An Mittagschlaf war nicht zu denken, Hannes stand alle halbe Stunde auf, legte sich woanders wieder hin und erst am Abend erfuhr ich durch Angelika, dass ich die Vorhänge hätte zuziehen sollen. Schließlich setzte ich ihn nach einem Spaziergang vor den Fernseher, um etwas ausruhen zu können. Am späten Nachmittag drehte ich mit ihm noch seine große Runde, dann kam Christiane mit Helene und schließlich auch Hansi. Da sitzt Hannes dann ganz still aber beharrlich dabei, Gesellschaft gefällt ihm und besonders dann, wenn er nur dabei sein darf und nichts dazutun muss. Der Blutzuckerwert ist am frühen Abend endlich einmal in Ordnung. Hannes kommt während eines Werbeblocks noch einmal in den Garten und trinkt ein Weinchen (sehr hastig) mit uns. Die Frage, ob er lieber Fernsehen oder bei uns sitzen möchte beantwortet er völlig unverständlich. Es bleibt wieder mir überlassen, ihn zu interpretieren. Ich glaube, er weiß selbst nicht was er will, wenn er unverständlich spricht. Leider ist ein klares »Ja« noch lange kein Ja, aber dann hat er immerhin eine Meinung. Das Genuschel ist aber eigentlich Meinungslosigkeit.

Mittwoch, 10. Mai 2000
Es ist müßig, über jeden einzelnen Tag Protokoll zu führen. Es geschieht nichts großartig auf einen Tag Bezügliches. Es ist mehr ein Geschehen im Ablauf der Woche in mir als außerhalb. Wir können dank des wunderschönen Wetters viel spazieren gehen, viel im Garten sitzen. Ich lese Hannes vor, u.a. auch aus einem Buch »Elegie für Iris« von John Baley über eine berühmte Schriftstellerin, die an Alzheimer erkrankte. Er hört gerne zu und will immer, dass ich weiter lese. Aber ich glaube nicht, dass er die Botschaften dieses Buches empfängt.
Am Montag Vormittag waren wir bei Hannes Eurythmie und ich bin während der halben Stunde in unserer alten Heimat um die Altensteinstraße herumgelaufen. Die Eiche, die zuletzt noch stand in dem ehemaligen Garten der Thornerschen Villa, die ist nun auch weg und ohne den Grund nennen zu können, fehlt mir damit etwas. Es war die Eiche, an deren einem Ast unsere Schaukel gehangen hatte. Auch andere Dinge fehlten, so die Abfahrt am Tiermedizinischen Institut, wo ich mir auf den Asbeststeinen (die gibt's auf dem Zuwege noch) bei meinen ersten Versuchen mit Angelikas Fahrrad ganz fürchterlich die Knie aufgerissen hatte. Im großen und ganzen ist aber alles beim Alten und alles kam mir zwischendurch vor, als sei es erst Wochen her. Das waren aber ganz unbestimmte Gefühle und nicht irgendwie schmerzhaft oder sehnsuchtsvoll. Und mir fiel auf, dass ich wirklich eine glückliche Kindheit hatte und es wunderbar ist, so zurückschauen zu können ohne den Wunsch zurück zu gehen in der Zeit. Gar, um irgend etwas zu korrigieren. Nein, es gab wirklich nichts zu korrigieren in unserer Vergangenheit. Sie war die gerade und gute Linie in die Gegenwart. Aber stimmt das auch für Hannes?
Am Montag Nachmittag waren wir am Schlachtensee spazieren. Tatsächlich gibt es bereits mutige Badende. Wir sind erst am See entlang und dann durch die Straßen mit ihren hoch herrschaftlichen Villen zurück zum Mexikoplatz. Die S-Bahn war auf dem Rückweg sehr voll und ich merkte, dass es mir nicht leicht fiel, mit Hannes mir einen Weg zu bahnen und die - von mir vielleicht nur so interpretierten - komischen Blicke der Fahrgäste gelassen an mir abgleiten zu lassen.
Es sind viele verrückte Gedanken, die mir auf unseren Spaziergängen kommen. Zum Beispiel auf dem Weg zum Mexikoplatz: ob es nicht irgend eine Möglichkeit gäbe, jene Ablagerungen im Gehirn, die den ganzen Zerfall verursachen, doch irgendwie herausspülen zu können. Das einzige Medikament, welches ich für den Kopf kenne, ist Aspirin. Hat eigentlich schon einmal jemand versucht, Alzheimer mit Aspirin zu therapieren? Vielleicht macht nur niemand den Versuch, weil man damit kein Geld verdienen kann. Sollte ich es mal mit Hannes probieren? Wie schön wäre es, wenn er wieder »repariert« werden könnte und nachher Vorträge halten könnte über seine Erfahrungen als Alzheimerpatient. Ach wie schön wäre das!
Ich habe mir mal die Packungsbeilage von Aspirin angeschaut und bin dann doch über die Menge der Nebenwirkungen bei großer Dosierung erschrocken. Ich dachte immer, Aspirin sei einfach nur gut. Das Experiment blieb unausgeführt. Es fehlt ja auch die Zeit und alles an Voraussetzungen für ein solches.
Oder ist alles von irgendwelchen Schicksalsmächten verursacht, die eben besonders die besten Köpfe im Alter mit Alzheimer strafen, um ihre Geheimnisse zu wahren. Sind es nicht häufig besonders begabte Menschen, die an Alzheimer erkranken? Oder fällt es bei denen nur besonders auf, während ein Normalmensch eben im Alter nur ein wenig mehr zu »spinnen" scheint als früher?
Gestern Nachmittag waren wir im Botanischen Garten und ich habe den Fehler gemacht und Hannes einen Weg geführt, der über einige Steine durch einen kleinen Bach geht. Klar, dass er mit dem letzten Schritt hineintappen muss. Wir haben den Strumpf dann versucht in der Sonne etwas zu trocken, aber bei dem warmen Wetter macht ein nasser Fuß nicht viel aus. Es war ein eigenartiges Gefühl, durch den Botanischen Garten zu gehen, wo ich mit Hannes vielleicht vor 35 Jahren das letzte Mal war; mit dem ich als letzte Erinnerung eine Auseinandersetzung mit Silke über unsere Hochzeitsfeierlichkeiten und deren Arrangement vor über 10 Jahren verbinde. Besonders aber die Fotos, die Hannes einst von uns als 4-6 Jährige im Botanischen Garten gemacht haben, haben die Erinnerung wachgehalten und so fand ich auch viele Orte meiner Erinnerung wieder: den Froschteich, die Trinkbecken, den kleinen Wasserfall. Nur der Vivil-Automat, an dem ich mit Bärbel immer stritt, wer zuerst ziehen darf, bzw. die begehrte Vivil-Rolle halten darf, der war nicht mehr am Eingang.
Hannes lässt sich gerne im Daimler chauffieren und bei Einsteigen mache ich ihm jetzt immer die Türe auf und sage "Bitte sehr, der Herr Professor".
Es ist mein Vater, den ich hier betreue und zwar nicht nur äußerlich, sozusagen als die Hülle. Nein, er ist es wirklich selbst, er ist noch eine Persönlichkeit. Das macht es einerseits leichter, liebevoll mit ihm umzugehen, andererseits schwerer, weil es eben kein Abbruch einer Entwicklung, sondern eine echte Weiterentwicklung ist, nur in umgekehrter Richtung, Richtung Kindheit und Unschuld. Es wäre mir eigentlich lieber - und so habe ich mir das auch gedacht, bevor ich hierher kam - dass es einen Bruch in der Entwicklung gegeben hätte, sozusagen ein Ereignis, nach dem man sagen kann: Jetzt hat sich die Persönlichkeit in ihrer ganzen Einmaligkeit aus diesem Körper zurückgezogen und schwebt jetzt für uns nicht mehr wahrnehmbar darüber oder ist einfach schon weg. Ich hatte mir vorgestellt, mein Vater sei eigentlich schon gestorben und nur noch sein Körper sei hier. Das ist aber ein falsches Bild. Mein Vater ist - leider oder auch schönerweise - ganz real mein Vater. Auch wenn die Anlässe, wo etwas von seinen vergangenen Fähigkeiten und Erinnerungen für mich sichtbar wird immer seltener werden, ist da doch die Ausstrahlung eines ganzen Menschen. Das ist schwer zu beschreiben für mich. Es ist Hannes und ist doch nicht mehr Hannes, wobei »dieses und doch nicht« vielleicht nur meiner mangelnden Bereitschaft zur Akzeptanz einer solchen Entwicklung zuzuschreiben ist. Meine Schwierigkeiten mit dem Bild bleiben: Ist ein Geigen-Virtuose, dem ein Arm abhanden kommt kein Geiger mehr? Was ist F„higkeit und was ist Werkzeug? K”nnen wir die F„higkeiten der Pers”nlichkeit nur nicht mehr wahrnehmen, weil ihr das Werkzeug zu ihrem Ausdruck fehlt? Oder ist Fähigkeit und Werkzeug identisch und geht gemeinsam verloren?
Ich habe die - nun etwa 65 Jahre alten - Fotos von Sophia mit dem kleinen Hannes auf dem Arm lange angeschaut und mir sehr gewünscht, ich könnte mich mit Sophia besprechen. Schließlich war sie damals seine Mutter, wie ich nun für eine Woche seine Mutter bin. Es sind schöne Bilder und sie zeigen zwei glückliche Menschen in einer ansonsten nicht gerade glücklichen Zeit im Schweizer Exil, kurz bevor der Vater die Familie verlassen muss. Es ist erst 65 Jahre her und nun ist Hannes wieder da, wieder in dem Kind angekommen, das da auf diesen Bildern mich anlacht.
Manchmal komme ich mir auch schon etwas dement vor. Ich kann mich zum Teil gut in Hannes Schusseligkeiten hineinversetzen und auch bei mir scheint es manchmal reine Glücksache, ob ich einen Namen in meinem Kopf noch finde oder nicht. Ist Alzheimer ansteckend? Auf jeden Fall vererbbar und so kann ich mich schon auf etwas gefasst machen. Ich fürchte, ich würde in diesem Fall keinen so lieben alten Herrn abgeben, sondern wäre vermutlich wesentlich starrköpfiger, querer und aggressiver. Hannes ist im Grunde ganz lieb und geduldig und es braucht schon einiges, bis er mal ausbricht. Dann allerdings kann es ganz überraschend schnell gehen und mit einer gewaltigen Heftigkeit. Erlebt habe ich diese Anfälle gelegentlich, wenn ich zu Besuch war. In den gemeinsamen Tagen hier hat Hannes allerdings noch nie einen Wutanfall bekommen oder auf den Tisch gehauen.
Was er nicht leiden kann, sind zu viele Anweisungen oder Vorschläge auf einmal, Ungeduld der anderen, zu viele Fragen und Anspannung in seiner Umgebung. Ganz tief in ihm steckt wohl noch der Wunsch, ein "Fels in der Brandung" zu sein, der er einst immer sein wollte und oft auch war. Dann mag es ihm dämmern, wie wenig Möglichkeiten er noch hat und die Wut ist der Schrei des Verzweifelten ...... Heute Nachmittag hat Hannes auch viel gelacht, als er versuchte, auf dem Gartentisch Ameisen zu fangen. Seine Finger waren immer langsamer als die kleinen Tierchen und er klopfte sozusagen hinter ihnen her. Berührte er wirklich eine einmal, lief sie dennoch anschließend fort, so schwach war sein Fingerdruck. Er lachte herzlich, wenn er ihnen so hinterher klopfte. Ich fragte ihn, ob er noch mehr Tee wolle? "Nein" oder vielleicht noch mehr Ameisen? Lachendes Ja.
Das war interessant aus zwei Gründen. Es war das erste Mal, dass sich Hannes seit meiner Zeit bei ihm aktiv für etwas außerhalb von ihm Befindliches interessierte und es zeigte einen Teil seines Problems: die Schaltzeitverzögerungen wurden richtig sichtbar, wären messbar gewesen...
Heute Nachmittag lief er los und erklärte, er werde die "große Runde" machen, Kam aber bereits nach einer Viertelstunde wieder. Ich wollte ihn auch nur ungern gehen lassen, da er sich schon recht ungeschickt anstellen kann und neulich z.B. fast umfallen wäre, als er einen Stein in der Sandale hatte, weil er mit dem Fuß nicht mehr richtig auftreten wolle. Statt den Stein aus der Sandale zu pulen... Dennoch hätte er die große Runde machen können, ich will ihm schließlich nicht vor der Zeit seine letzten Reste von Selbständigkeit nehmen. Da ich ziemlich genau weiß, wie lange wir immer gemeinsam brauchen, wäre ich nach Ablauf dieser Dreiviertelstunde losgefahren ihn zu suchen.
Vor dem Mittagessen habe ich etwas an meinem Vortrag gearbeitet und plötzlich kam Hannes dazu, setzte sich auf das Sofa im Kinderzimmer und schaute mir einfach schweigend aber sichtlich interessiert und konzentriert zu. Das hätte ich natürlich schon die letzten Tage so machen können, dass ich ihn einfach bei mir sitzen lasse, während ich arbeite. Ich werde den morgigen Tag versuchen, diesbezüglich noch auszunutzen....
Ein wenig beunruhigt mich die Passage aus dem Buch "Elegie an Iris" über die Mutter, die auch schon an Alzheimer gestorben war. Ist die Vererbung ein dominantes Merkmal dieser Krankheit? Wie war das mit Hannes Großvater, mit seinem Onkel?
Andererseits ist es hoch interessant zu lesen, mit welch starker Innenwelt jene Iris begabt war, von der das Buch erzählt. Hier gibt es wirklich eine Gemeinsamkeit zu Hannes, der auch über ein enorm sein Tagesbewusstsein prägendes Innen- und Traumleben verfügt.
Was sind die "Karmischen" oder die Individuellen Gesetzmäßigkeiten, die zu dieser Erkrankung gehören? .....
Andererseits stand im Züricher Tageblatt vor wenigen Wochen, dass Alzheimer ausgelöst wird durch ein fehlerhaft zerlegtes Eiweiß, welches eigentlich zur Reparatur von Nervenzellen verwendet wird. Funktioniert der anschließende Abbau dieses »Reparatur-Eiweiß« nicht richtig, entstehen nicht-lösliche Teile, die sich an die Nervenzellen anlagern, zu "Kurzschlüssen" führen und die Zellen zum Absterben bringen. Das wäre natürlich eine Erklärung, die insbesondere für stark mit dem Kopf arbeitende Menschen zutreffen könnte.

Freitag, 12. Mai 2000
Heute ein etwas schwieriger Tag. Dabei haben wir verschlafen und stehen erst 7:15 Uhr auf, obwohl doch die Handwerker um 7:30 Uhr kommen wollen. Hannes hat sehr gut geschlafen, ging um 22:00 Uhr ins Bett und erst um 5:00 Uhr das einzige Mal pinkeln.
Aber schon das Frühstück war - unterbrochen durch die Handwerker und meine vergebliche Suche nach einer Steckdose im Heizungskeller etwas hektisch. Und dann machte Hannes statt seiner zugesagten kleinen plötzlich eine große Runde, weswegen ich ihm schließlich nach 25 Minuten auf einem Fahrrad hinterher fuhr. Ich fand ihn auch tatsächlich und er erklärte mir, dass er in die Hosen geschissen habe. Dabei war er direkt vor seinem Spaziergang noch eine große »Sitzung« machen. Was blieb mir anderes übrig, als so gut gelaunt wie möglich mit ihm in seinem gemächlichen Tempo nach Hause zu wandern....
Es war dann nicht ganz so schlimm, wie befürchtet, aber schon ärgerlich.
Bin ich traurig? Nein, es ist nicht so gekommen, wie ich befürchtet hatte. Das mag auch an dem immer noch wunderschönen, warmen und sonnigen Maiwetter liegen. Aber es hat auch etwas damit zu tun, dass ich beruhigt feststelle: ich kann mit Dir, meinem Vater, auch so leben, wie Du jetzt bist. Ich fühle nicht die Identitätskrise, die Angst oder Hilflosigkeit in mir, die ich gemeint habe, in diesen Tagen empfinden zu müssen. Es ist wie ein Licht, das immer schwächer wird. Aber es bleibt doch das gleiche Licht. Natürlich bleibt alles immer noch sehr traurig, sehr geheimnisvoll und manchmal empfinde ich auch noch den Schock, wenn Du mal wieder etwas für Die altes Sein völlig dusseliges angestellt hast, lieber Vater....
Aber ich entwickle einen gewissen Sinn für die Widrigkeiten Deines jetzigen Lebens und stelle fest, dass es mir immer besser gelingt, Missgeschicke schon frühzeitig zu ahnen und darum - bisher jedenfalls - weitestgehend auszuschließen. jedenfalls die richtig unangenehmen....
Es ist sehr gut, dass es inzwischen bereits auf Alzheimer-Kranke spezialisierte Tageseinrichtungen gibt, aber eine wirklich gute - in Hannes und auch unserem Sinn - sollte einige Eigenschaften aufweisen, die vielleicht nicht so einfach zu finden sind: Einem großen und schönen ruhigen Park für viel Bewegung, wo er die Chance hat, den anderen "Gästen" dieser Einrichtung aus dem Weg zu gehen oder sich der Teilnahme an gemeinsamen Unternehmungen zu entziehen. Eine »Bezugsperson«, jemand, der ihn z.B. im Garten sucht und ihn zum Essen holt. Einem stark rhythmischen Tagesablauf mit einem Ritus, einen christlichen Ritus, wo es Gebete gibt statt Abzählverschen und Heileurythmie statt Gymnastik. Wo auch Geschichten vorgelesen werden und nicht nur der Fernseher läuft. Ob es eine solche Einrichtung gibt, noch dazu hier in Berlin, das weiß ich nicht.
Hannes "Versorgung" aber muss in weitere Hände gelegt werden. Was wäre aus meinem Vater geworden, wenn er nicht erkrankt wäre? Wäre er ein »Menschenfreund« geblieben, hätte er sein Wissen so anwenden können, dass es anderen Menschen dient, ihnen hilft? Oder wäre er vielleicht bei seinem scharfen Intellekt und den vielen logischen Enttäuschungen, die das Studium der Geisteswissenschaften ihm schon während unseres Arbeitskreises bereitet ein Zyniker, ein heftiger Kritiker aller dieser Bemühungen geworden? Wäre er ein liebevoller Großvater geworden, gemütlich und mit Sinn für die kleinen Wunder des Kindertages?
Ich habe so meine Zweifel, ob alles wirklich ganz toll geworden wäre, wenn ...
Andererseits - wenn es so wäre, dass man vor der Geburt seinen eigenen Lebensplan überschauen kann mit allen Aufgaben und Erschwernissen, die dazugehören werden und sich dann einen Ort, ein karmisches Umfeld suchen könnte, wo man diese Aufgaben am besten durchleben kann - wäre es da nicht eine gute Wahl gewesen von Hannes in diese Welt, in diese Umgebung hinein, zu dieser Ehefrau sich zu inkarnieren? Nun ist er nicht mehr in der Lage, anderen ihre Probleme zu analysieren und zu lösen, sondern er ist uns eine Aufgabe geworden. Das ist ein vielleicht immer zuwenig beachteter Grund jeder Existenz....
Die Neurologen sagen, dass das, was j e t z t geschieht vielleicht weniger schlimm ist für ihn als für uns. Aber es war schlimm für ihn über Jahre und Hannes hat vermutlich Kämpfe gekämpft, die ihresgleichen suchen .....
Ich habe den Eindruck, Hannes befindet sich auf einem Weg hinaus aus dem Leben - sehr ähnlich dem, auf dem wir alle in das Leben eintreten: Er wird es verlassen im Zustand völliger Unschuld!

 

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