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Rita Bischoff


Mein Name ist K.-H. Bischoff. Ich bin jetzt (19.10.2000) 75 Jahre alt. Meine Frau Rita ist 77 Jahre alt. Wir wohnen in Wandsbek in einer 2 Zimmer-Wohnung. Im Sommer sind wir in Godau auf einem Campingplatz am Großen Plöner See. Ab April sind wir jedes Wochenende draußen und wenn das Wetter gut ist, bleiben wir solange, wie die saubere Wäsche reicht. Am 30. September ist dann Ende der Saison.

Zunächst eine Frage: Kennen Sie Auguste Deter? Sie starb am 8. 4. 1906 in der städtischen Irrenanstalt in Frankfurt. Sie ist in der Medizingeschichte unsterblich geworden. Ihr Arzt Dr. Alois Alzheimer hat ihr Gehirn entnommen und untersucht. Er fand am Hirnrand viele kleine Eiweißablagerungen in Reiskorngröße und sogenannte Fibrillenbündel. Er hatte damit die Krankheit entdeckt, die seinen Namen trägt.

In der BRD gibt es zu Beginn des Jahres 2000 etwa 1,2 Millionen Menschen, die davon betroffen sind. In den USA bereits mehr als 4 Millionen. Die Dunkelziffer ist sehr hoch.

Die Diagnose ist sehr schwierig. Es gilt aus etwa 50 verschiedenen Hirnleistungsstörungen, wie PIK, Altersschwachsinn, Schizophrenie usw. ausgerechnet die Alzheimer Krankheit herauszufinden. Außerdem gehen die Patienten sehr spät, meistens zu spät zum Arzt. Damit geht kostbare Zeit verloren. Die Medikamente die auf dem Markt sind, können die Krankheit nicht heilen. Sie können aber im Anfangsstadium den Verlauf verlangsamen.

Unsere Geschichte beginnt 1988
Ich war gerade in Rente gegangen und wir machten Urlaub am See. Rita hatte ein geschwollenes Bein und wir gingen in Ascheberg zu einem praktischen Arzt. Nach der Behandlung hielt mich der Doktor zurück und sagte: »Mit Ihrer Frau stimmt etwas nicht«. Er gab mir einen Fragebogen der Firma Gingko. Ganz allgemeine Fragen waren zu beantworten, Name, Vorname, Wohnort, Straße, Kinder, wie viel und wie heißen sie, also ganz einfach und allgemein. Ich lehnte es ab, meiner Frau die Fragen vorzulegen und sagte, meine Frau würde mich für verrückt erklären. Trotzdem blieb der Arzt bei seiner Meinung, Ich weiß nicht, woran er was erkannt haben will. Erst Jahre später habe ich mich an diesen Vorfall erinnert, denn unser Leben lief zunächst weiter wie immer.

In den folgenden Jahren 1988 bis 19993 passierten dann merkwürdige Dinge. Plötzlich litt meine Frau an übersteigerter Eifersucht. Damals fing man an bei Begrüßungen flüchtige Küsse auszutauschen "Bussi rechts Bussi links". Ich habe es sehr genossen, aber Rita ging einfach weg, manchmal ohne unsere Freunde zu begrüßen. Sie war dann sehr wütend. Ganz krass wurde es an einem Sonntagmorgen. Ich kam vom Wasserholen und stand mit einem Freund am Wohnwagen und wir klönten einige Minuten. Als ich dann zu unserem Wagen ging, überfiel mich Rita mit den Worten »Was hast Du denn den ganzen Morgen mit dem Kerl zu quatschen». Wir beide kennen den Mann schon seit 40 Jahren!

Ein anderes Beispiel: Ich habe eine Besorgung gemacht. Vor unserer Haustür fragt mich eine fremde Frau mit Kinderwagen nach dem Weg zur U-Bahn. Ich zeige ihr den Weg und fahre nach oben. Rita hatte mich vom Fenster aus zufällig beobachtet und rastete total aus. Sie glaubte sogar, dass das Kind im Wagen von mir sei!

Dann fing sie plötzlich an, alle möglichen Sachen zu verstecken. Geld, Bestecke, Bilder usw. Die Sachen waren einfach weg. Irgendwann tauchten sie wieder auf. Wir haben einmal ihre eiserne Reserve DM 1.000 drei Wochen lang gesucht. Zu Hause und im Wohnwagen. Ich bin bald durchgedreht. Schließlich fand ich das Geld in einem Geschenkkarton Wäsche. Sie hatte die Börse im Höschen eingewickelt und den Karton wieder verschlossen. Auch ihren Ehering hat sie andauernd verloren. Die Brille habe ich täglich etliche Male gesucht. Sogar ihre Zahnprothesen habe ich an den unmöglichsten Stellen gefunden. Einmal vermisste ich unser Kaffeegeschirr. Ich fand es schließlich in der Waschmaschine inmitten der Wäsche.

Dann kam Rita vom Einkauf zurück ohne ihre Geldbörse. Sie weinte sehr. Sie meinte, sie sei ihr gestohlen worden. Kann sein? Sie kann sie aber auch verloren oder liegengelassen haben. Von da an ging sie nicht mehr einkaufen.

Ich fing also an, den Haushalt "peu a peu" zu übernehmen. 40 Jahre habe ich in einem Superhaushalt gelebt. Das änderte sich nun. Den Haushalt und Rita zu managen, war zu viel. Zumal ich immer wieder zu arbeiten anfing.

Im Oktober 1993 hatten wir dann ein Schlüsselerlebnis!
Gemeinsam waren wir zum Einkauf in Wandsbek gewesen. Rita fuhr mit der U-Bahn nach Hause. Ich kam 1 ½ Stunde später nach. Ich hatte einen neuen Job angenommen. Rita stand die ganze Zeit im Treppenhaus. Sie war nicht in der Lage die Tür aufzuschließen, obwohl die Schlüssel alle gekennzeichnet sind. Sie hat auch keinen Nachbarn um Hilfe gebeten. Unsere direkte Nachbarin hat sogar Schlüssel von uns, weil sie sich um die Wohnung kümmert, wenn wir nicht da sind.

Einen Arztbesuch hat sie immer strikt abgelehnt. "Ich bin ja gesund!" Wir hatten nicht einmal einen Hausarzt. Die Jahre 1993 bis 1995 waren sehr schlimm. Außer Volksmusik konnte sie auch nicht mehr fernsehen. Sie stand vom Sessel auf und wollte die Stars oder Moderatoren immer begrüßen. Sie konnte es nicht mehr begreifen, dass die Personen nur auf der Mattscheibe waren. Sie glaubte, sie seien im Zimmer. Selbst Krimis, einst heißgeliebt, konnte sie nicht mehr ertragen. Wenn die Darsteller sich prügelten oder geschossen wurde, schrie sie vor Angst. Auch lief sie dauernd in der Wohnung umher. Und schließlich lief sie aus dem Haus, Peng! Sagte die Tür und Rita war weg. Glücklicherweise konnte sie damals schon den Fahrstuhl nicht mehr bedienen. Ich hatte dann Gelegenheit, mich anzuziehen und sie wieder einzufangen.

Eines Tages, ich kam mittags nach Hause, da roch die ganze Wohnung nach verbranntem Metall. In der Küche hatte sie alle 4 Platten und den Backofen auf "volle Pulle" gestellt. Alle Platten waren bedeckt und der Deckel des Herdes war schon braun verbrannt. Sie stand im Wohnzimmer und sah aus dem Fenster. Auf meine Frage: "Was ist los in der Küche" antwortete sie "Ich koche." Das war das Ende ihrer Kochkünste. Sie hat den Herd nicht wieder angefasst.

Ähnlich war es mit der Wäsche! Die Maschine braucht für 60 Grad-Wäsche ca. 90 Minuten. Weil Rita das zulange dauerte, surfte sie durch alle Programme. Die Maschine wusste nicht, soll ich Wasser nehmen, spülen oder heizen, schleudern oder was? Die Wäsche war nicht mehr April frisch sondern November grau. Ich habe dann auch die Wäscherei übernommen. Das Bügeln sowieso wegen der damit verbundenen Verbrennungsgefahr. Als ich ihr die Wäsche abnahm, war sie sehr böse. "Schließlich habe ich 40 Jahre gewaschen und Du hast nie gemeckert!"

Ich habe dann bei der HEW einen Kochkursus gemacht. Seitdem weiß ich, dass jeder der lesen kann, auch kochen kann. Nur wenn ich die fertigen Menüs auf Hochglanz in den Kochbüchern sehe, dann sieht mein Ergebnis auf dem Teller aus, wie ein Verkehrsunfall auf der A7.

Eines Tages sollte Rita ein Formular der MEZ mit unterschreiben. Dabei stellte ich fest, dass sie ihren Namen gar nicht mehr schreiben konnte. Es gelang auch nicht, wenn ich ihr die Buchstaben vorgeschrieben habe.

1995
Endlich war sie bereit, mit mir zum Neurologen zu gehen. Es ging ihr sehr schlecht. Der Arzt ließ meine Frau auf einer Linie auf und ab gehen mit vorgehaltenen Händen. »Es ist alles in Ordnung« sein Kommentar! Ich flippte völlig aus und verlangte, dass CT Bilder gemacht würden. Die wurden dann auch gemacht. Auf diesen Bildern waren schon deutlich die Eiweißablagerungen zu sehen. Der Arzt war nun doch sehr erschrocken. Er verschrieb meiner Frau ein paar Pillen, die sie widerwillig nahm. Die Diagnose »Durchblutungsstörungen!« Von Alzheimer keine Rede.

1996 Januar
Ein neuer Anlauf bei einem anderen Neurologen. Nach gründlicher Untersuchung die Diagnose "Morbus Alzheimer". Rita kannte nur noch ihren Vornamen, keine Adresse. Sie wusste nicht, welches Jahr wir haben, welchen Monat, nicht rechts oder links. Hatten wir Weihnachten schon, ist es Sommer oder Winter. Es war schrecklich! Der Arzt gab mir das Buch "Demenz" von Prof. Füssgen und sagte: "Tun Sie etwas für sich, schaffen Sie sich Freiräume, sonst liegen Sie in einem Jahr bei mir auf der Couch". Ferner hat er mir geraten, ich solle mich an die BAGS wenden und mir helfen lassen, ferner sollte ich mich einer Selbsthilfegruppe anschließen. Bei der BAGS wusste man kaum, wie man Alzheimer schreibt. Das war ein Schuss in den Ofen!

Das Buch "Demenz" habe ich mehrere Male gelesen, meistens nachts bis 1 Uhr. Als mir klar wurde, was ich hinter mir, und vor allem noch vor mir hatte, habe ich Rotz und Wasser geheult. Ich hatte schon eine 8-jährige Alzheimer-"Karriere" hinter mir, ohne es zu wissen.

Letztendlich habe ich die Krankheit angenommen und mir gesagt: Das Leben soll so weitergehen wie bisher, wenn auch eingeschränkt. Mein letztes Segelboot habe ich 1996 schon verkauft. 25 Jahre habe ich auf dem Plöner See gesegelt, aber ich wusste, dass ich in Zukunft keine Zeit mehr haben würde.

Im März 1999 habe ich dann noch einen neuen Wohnwagen gekauft, eine Spezialausführung mit extra großem Waschraum mit fest eingebauter Dusche und Warmwasser aus dem Hahn. Wir sind bis September noch regelmäßig zum See gefahren.

Dann kamen immer wieder die Depressionen. Rita rannte orientierungslos durch die Wohnung »Ich will nach Hause! Dies ist nicht mein zuhause. Die Sachen sind alle gestohlen.« Sie lief abends 5 bis 6 Mal die 6 Etagen rauf und runter. Sie lief im Dunkeln mitten auf der Straße bis zum Hubschrauberlandeplatz der Bundeswehr.
Ich ließ sie ihre Aggressionen ablaufen. Wenn ich sie dann nach Hause bringen wollte, beschimpfte sie mich: »Du Schweinehund! Du gemeiner Kerl! Lass mich los!« Die Leute auf der Straße blieben stehen und dachten, jetzt kriegt der lange Lulatsch noch was an die Backen.

Auch in Godau lief sie häufig weg. Das erste Mal haben wir sie mit 4 Mann 2 Stunden lang gesucht. Schließlich fanden wir sie in 3 Km. Entfernung an einer Schulbushaltestelle. Sie wollte nach Hause fahren - Spaziergänge von 20 Minuten waren normalerweise schon zuviel für Sie. Wenn Rita aber ihre Aggressionen ablief, marschierte sie 3 - 4 Km. über Stock und Stein quer durch den Wald.
Seitdem habe ich ein Handy, damit ich notfalls Hilfe holen kann.

Seit 1997 bin ich Mitglied in der Alzheimer Gesellschaft. Einmal im Monat treffen wir uns in der sogenannten Börse. Hier kann jeder seine Probleme vortragen. Was der eine schon hinter sich hat, hat der andere noch vor sich. Ratschläge gibt es immer.

Ich habe dann Tagesdementenstätten besucht, um meine Frau auch mal am Tage für ein paar Stunden loszuwerden.
Rita ist vom März 1998 bis August 1999 in der TDS in Farmsen gewesen Zunächst 2 mal in der Woche, später dann 3 mal. Sie wurde morgens abgeholt und nachmittags wiedergebracht. Das war für mich eine große Hilfe. Rita hat sich dort wohlgefühlt.
Ich war nun »Knaki«: 3 mal Freigang und viermal wöchentlich Knast!

Im Hause hatte sich viel verändert. Mitbewohner gaben Rita nicht mehr die Hand aus Angst, sie würden sich anstecken! Viele waren völlig hilflos, sie wussten nicht mehr, wie sie mit uns umgehen sollten. Auch auf dem Campingplatz gab man mir auf Umwegen zu verstehen, wir sollten nicht mehr kommen. Das wäre eine Zurschaustellung der Krankheit. Obwohl Rita die alten Camper nicht mehr erkannte, so war sie zu allen freundlich und belästigte niemanden.

1998 Goldene Hochzeit
Wir hatten etwa 40 Gäste ins Ambassador eingeladen. Familie, Nachbarn, Freunde. Mit Hilfe von Freundinnen hatte ich Rita neu eingekleidet. Sie sah prima aus. Meine jüngsten Geschwister, die schon auf unsere grünen Hochzeit Blumen gestreut haben, traten nun wieder an, um Blumen zu streuen. Uwe mit Bart und kurzer Hose, Inge im kurzen Kleidchen und Söckchen. Es war toll!! Im Licht von Wunderkerzen wurden wir zu unseren Plätzen geleitet. Gedichte wurden vorgetragen wie vor 50 Jahren. Rita musste zwar Hilfe beim Essen haben, aber es ging wunderbar. Es war unsere letzte große Fête.
Ich habe viele Fotos gemacht. Als ich eine Woche später diese Bilder Rita gezeigt habe, hat sie furchtbar geweint und gesagt: "Es war sicher sehr schön, aber ich war nicht eingeladen". Sie hat sich auf den Bildern nicht erkannt. Auch heute weint sie bitterlich, wenn sie sich im Spiegel sieht.

Anschließend fuhren wir auf Hochzeitsreise. Ein Luxushotel in Ilsenburg im Harz war unser Ziel. Leider konnten wir keine großen Spaziergänge mehr machen, weil Rita nicht mehr lange laufen konnte. Trotzdem haben wir viel gesehen.
Im Jahr 1998 sind wir 4 mal in Urlaub gewesen.

Im September 1998 waren wir in Boltenhagen. Es war ein betreuter Urlaub, organisiert von der Alzheimer Gesellschaft Münster. Jeder Patient hatte eine Pflegerin, ich hatte also auch Urlaub.
Dann hatte uns der Winter wieder.

Die Sprachlosigkeit nimmt ständig zu. Nach 2 Worten versanden die Gedanken, dann folgt nur noch ein sinnloses Gebrabbel. Alle Fragen muss ich so stellen, dass sie mit JA oder NEIN beantwortet werden können. Ich muss langsam und deutlich sprechen, auf die Antwort warten.

1999
Im März habe ich einen neuen Wohnwagen gekauft mit extra großem Bad mit eingebauter Dusche und Warmwasser aus dem Hahn. Die Probleme waren wie immer. Beim Waschen, Anziehen und Einsetzen der Zähne. Dabei beschimpfte sie mich immer: »Du Mistkerl, Schweinehund! Hilfe Polizei. Hier ist ein Blöder!« usw. Sie hat mich geschlagen und getreten und angespuckt. Es war schlimm.

Ein anderes Problem war das Trinken. Wenn ich ihr 1 Tasse Kaffee und ein Glas Most oder Orangensaft einflößen konnte, war ich froh. Sie wollte einfach nicht. Manchmal hat sie den Most einfach in die volle Kaffeetasse geschüttet. Das war nicht gerade prickelnd. Gegessen hat sie zwei Scheiben Toastbrot, jeweils in 10 kleine Stücke geschnitten. Das Frühstück konnte schon 1 Stunde dauern.

Krämpfe
Ein besonderes Problem waren die Krämpfe, die Rita immer wieder erleiden musste.
Vom 5. bis 6.11.98 war Rita im Krankenhaus. Sie war in der TDS zusammengebrochen. Dort konnte man die Ursache nicht feststellen.
Am 3. Advent hatte sie wieder einen Anfall und kam in die Notaufnahme in ein anderes krankenhaus. Nachmittags holte ich sie wieder ab, weil man nichts machen konnte.
Am 16. Mai kam dann der nächste Zusammenbruch. Sie kam von Godau aus ins Krankenhaus nach Segeberg. Nach 5 Tagen hatte ich sie wieder. Man sagte mir, es sei ein Parkinson-Syndrom.

Vom 6. bis 27. 8. 99 habe ich mit Rita in Godau Urlaub gemacht.
Um für eine eventuelle Inkontinenz gewappnet zu sein, habe ich mich in Hamburg mit Vorlagen versorgt. Außerdem hatte ich von unserem Arzt ein Rezept bekommen für Diazepam. Er war derzeit in Urlaub, so dass über diese Verordnung nicht gesprochen werden konnte. Die Probleme bei Essen und Trinken, der Körperpflege usw. waren wie immer. Das war ich ja gewohnt.

Ab 11. 8. 99 hatte sie im Schlaf öfter kleine Krämpfe und zitterte sehr stark. Dazu kamen immer wieder Aggressionen. "Du bist ein Unmensch!"

Am 14. 8. 99 war es besonders schlimm. Sie wollte sich nicht waschen lassen.
Sie tobte und schrie, sie kreischte wie verrückt, schlägt mich und tritt mit Füßen.
Abends habe ich ihr dann zum erstenmal 5 Tropfen Diazepam gegeben. Und dann täglich 5 bis 6 Tropfen abends bis zum 26.8.99. Damit hatte ich erreicht, dass die Aggressionen ausblieben. Aber Rita wurde täglich müder und müder und immer kraftloser. Sie konnte nicht mehr alleine aufstehen, kaum noch gehen und fiel einige Male einfach um.
Ab 27. 8. 99 habe ich die Tropfen abgesetzt und ihr auch keine anderen Medikamente mehr gegeben. Freitag Mittag sind wir dann nach Hause gefahren. Am 30. 8. und 31. 8. war sie dann wieder in der TDS.

Am 1.9.99 (Mittwoch) sind wir nach Boltenhagen in den betreuten Urlaub gefahren. Wir hatten einen Rollstuhl, damit waren wir beweglich. Für Rita hatte ich eine tolle Pflegerin (Antje), ich brauchte mich um nichts kümmern! Wir wohnten in einer 3 Zimmer Eigentumswohnung, Die Pflegerin Antje wohnte mit bei uns. Rita aß und trank gut und kam zusehends zu Kräften. Nach 4 Tagen konnte sie wieder allein aufstehen und in der Wohnung umhergehen.
Am Sonntag den 5.9. bekam Rita einen schweren Krampanfall auf der Toilette. Sie war völlig steif und zitterte am ganzen Körper. Wir vermuteten einen Schlaganfall. In weniger als 10 Minuten war der Notarzt da. Inzwischen hatten wir sie ins Bett gelegt. Ein EKG wurde gemacht, es war nicht auffällig. Dann wurde Rita ins nächste Krankenhaus gebracht. Sie war den ganzen Tag nicht mehr ansprechbar.
Am Montag fuhren Antje und ich ins Krankenhaus. Der Arzt sagte gleich, dass Rita dort nicht bleiben könne. Er hätte kaum Personal, außerdem seien seine Leute für so etwas nicht ausgebildet.
Rita hatte noch nichts gegessen, das Brot war geschnitten, aber keiner hatte sie gefüttert. Das haben wir dann getan.
Dann sollte eine Ultraschalluntersuchung gemacht werden. Rita hat es nicht zugelassen. Kunststück! Sie haben ihr das kalte Gel ohne Warnung auf den Bauch gestrichen, da ist sie in Panik geraten.
Am Mittwoch den 8. 9. 99 wurde Rita nach Hamburg in ein Klinikum verlegt. Wir fuhren auch nach Hamburg. Dort standen wir schließlich vor der geschlossenen Abteilung. Davon hatte mir keiner etwas gesagt. Ich war total geschockt. Mein Protest, auch mein Betreuerausweis nützten nichts. Das Zimmer roch penetrant nach Urin. An der Wand gegenüber von Ritas Bett war ein großer Kotfleck an der Wand. Die Pflegedienstleiterin zuckte nur die Achseln: Das liegt an den Männern! Diese werden wohl kaum in den Zimmern der Frauen an die Wände pinkeln! Ich sollte dann vom Amtsgericht die richterliche Zustimmung wegen der geschlossenen Unterbringung einholen.
Nach langer Debatte, es war 13:40 Uhr, konnte ich die Pflegedienstleiterin bewegen, ein Fax ans Gericht zu schicken. Der Amtsrichter soll innerhalb von 24 Stunden vor Ort sein, um die Notwendigkeit der Unterbringung zu prüfen. Bis Montag 13.9.99 war er nicht da.
Antje fragte Rita: »Wie geht es dir?« Rita: »Gut, das siehst Du doch.« Unglaublich!!

Anschließend fahren Antje und ich wieder nach Boltenhagen, ich habe noch 3 Tage Urlaub. Frau Speetzen von der Alzheimer Gesellschaft Hamburg setzte sich beim behandelnden Arzt dafür ein, dass Rita verlegt würde.

Donnerstag 9. 9. 99.
Peter besuchte seine Mutter. Er war total erschüttert. So etwas hatte er noch nicht gesehen. Abends kam Frau Speetzen noch 2 Stunden zu Besuch. Sie rief mich an, ich sollte mir keine Sorgen machen, Rita wäre sehr fröhlich gewesen.

Am Sonntag war ich um 13:30 Uhr bei Rita. Sie schlief noch. Der Kotfleck war immer noch an der Wand. Rita war völlig bekleckert. Sie hatte nur eine große Windel an, lange Hose und Sweatshirt. Keine Unterwäsche. Mein Wunsch mit Rita im Rollstuhl in den Garten zu gehen, löste ziemliches Unverständnis aus. Die Schwester tat so, als hätte ich ihr einen unsittlichen Antrag gemacht. Schließlich gelang es aber doch.

Auf dem Flur lag in einem Bett ein älterer Mann, den Unterkörper völlig entblößt. Eine alte Frau, nur im Hemd und Windel irrte ca. 20 Minuten auf dem Flur umher. Im Dienstzimmer saßen 4 Pflegekräfte, tranken Kaffee und teerten ihre Lungen! Auf mein Drängen wurden sie dann aktiv.

Montag 13. 9. 99
Rita wurde in eine offene Station verlegt. Das war die Vorzeigestation. Alles supersauber und freundlich. Wir hatten diese Station schon einmal mit der Alzheimer Gesellschaft und TV N3 besichtet. Zur Verlegung war Rita sogar ordentlich angezogen. Den Kotfleck wollte ich fotografieren, aber endlich nach 5 Tagen war er weg.
Ich glaube, wenn im Tierheim Süderstr. solche Zustände herrschen würden, dann stünde der Tierschutz auf der Matte!

Die medikamentöse Einstellung war schwierig und langwierig. Rita bekam im Anfang Diazepam, Novotril und Amantadin. Rita reagierte sehr sensibel auf die Medikamente. Das machte die Einstellung so schwierig.
Bis zum 5.10. fuhr ich fast täglich zu Rita um sie zu füttern. Mal ging es gut, mal schlecht. Es dauerte schier endlos, bis sie die kleinen Portionen gegessen hatte. Sie hing meistens am Tropf, war aber häufig im Tagesraum.
Am 28.9. hatte ich ein längeres Gespräch mit dem behandelnden Arzt. Er wollte eine Neurologin hinzuziehen. Diazepam war schon abgesetzt, die Dosis der anderen Medikamente sollte vermindert werden.
Obwohl Rita keine Zähne mehr im Mund hattte und kaum noch etwas sprach, sagt sie am 29.9. ganz deutlich: "Ich will nach Hause!"
Am 30.9. kam ich gegen 11:30 Uhr auf die Station, um Rita ihr Essen zu geben. Sie saß im Rollstuhl auf dem Flur. Eine Ärztin wollte ihr gerade eine neue Infusionsnadel legen. Am linken Arm ging es nicht, weil die Venen zu schwach waren. Also versuchte sie es an dem rechten. Plötzlich - Kreislaufkollaps! Ab ins Bett, Beine hoch. Rita verschluckt sich, ist völlig verschleimt, bekommt keine Luft mehr. Ich wurde aus dem Zimmer gewiesen. Die Ärztin und zwei Schwestern saugten den Schleim ab und die Essensreste und geben Sauerstoff. Nach etwa 15 Minuten kam eine Schwester und sagte: "Wir haben sie wieder!" Rita ist völlig erschöpft und schläft. Abends rufe ich noch einmal an - Rita geht es gut, die Infusion klappt.
Die Ärztin sagte mir, das evtl. eine Magensonde gelegt werden solle.

In dieser Nacht habe ich von ausgefallenen Zähnen geträumt. Meine Oma sagte immer, das bedeutet, dass ein Mensch stirbt.

1.10.99
Um 11:30 Uhr war ich bei Rita, sie war im Bett und lächelt, aber ich glaubte, sie erkenne mich nicht mehr. Sie hatte krampfartige Zuckungen in beiden Armen.
Die Ärztin wollte noch einmal auf den gestrigen Vorfall zurückkommen. Sie wollte wissen, wie die Ärzte in Zukunft reagieren sollen. Im Klartext - Intensiv und Apparatemedizin, ja oder nein? Ich sage ihr, dass Rita und ich seit vielen Jahren die lntensivmedizin strikt ablehnten. Kein Leben um jeden Preis. Rita stand also gestern auf der Kippe.

5.10.99
Ich hatte ein einstündiges Gespräch mit einem weiten Arzt. Am 7.10. solle eine Magensonde (PEG) gelegt werden. In 3 Wochen wäre Rita wieder fit. Auch wenn ich mich weigern würde zuzustimmen, verhungern lassen würden sie Rita nicht. Da ich selbst am 7.10. wegen einer Leistenbruch-Operation ins Krankenhaus musste, stimme ich schließlich zu. Ich hatte keine Wahl. Rita würde verhungern.


DUnser Hausarzt hatte Bedenken - ich auch.

Im Oktober 1999 hatte ich im AK Wandsbeck einen Pflegekursus gemacht. Angemeldet hatte ich mich schon im Sommer.

Unserem Hausarzt habe ich im Oktober erklärt, dass ich Rita zu Hause pflegen wollte. "Wollen Sie sich das antun? Können Sie das überhaupt? Es gibt doch so schöne Heime. Die Heime, die ich gesehen hatte, haben mich in meiner Absicht bestärkt, es zu Hause zu versuchen. Mit dem Arzt habe ich dann vereinbart, dass Rita nicht eher entlassen würde, als zu Hause alles bereit sei.

Ich richtete also das Pflegezimmer ein. Mit einer Kreissäge haben meine Söhne das Ehebett auseinander gesägt. Ritas Bett kam auf den Boden. Dann kam der Maler. Eine große Neonröhre wurde an der Decke installiert. Und dann ging's erst richtig los. Das elektrische Pflegebett bekam ich innerhalb von 14 Tagen. Auch den Infusionsständer, die Dekubitusmatratze, Toilettenstuhl, Windeln, Sondennahrung, die Überleitungen usw. usw. bekam ich ziemlich schnell und alles, was man sonst so noch braucht, der viele notwendige Kleinkram. Das Problem war nur, wo bekomme ich das alles? Wer schreibt die Rezepte und was bekommt man ohne. Glücklicherweise habe ich ein gutes REHA-Team und einen tollen Pflegemarkt gefunden, der mir auch mal weiterhilft, wenn ich noch kein Rezept habe. Wenn Not am Mann ist, werden sie sehr schnell tätig. Als ich notfallmäßig ein Absauggerät brauchte, hatte ich es am nächsten Vormittag. Aber der Rollstuhl kam erst nach Monaten. Da brauchten wir ihn nicht mehr. Meine Herrenkommode wurde umfunktioniert. So dass heute alles neben dem Bett steht.

Pflegedienst
Das war schwierig. Rita war noch in Pflegestufe 2. Der erste lehnte mich schon am Telefon ab. Der zweite, bei uns in der Nähe, wollte auch nicht. Der Arzt hat mir dann einen Pflegedienst in Ochsenzoll empfohlen. Sie haben Rita und mich im Krankenhaus in Augenschein genommen. Die Frage nach der Pflegestufe kam auch prompt. Inzwischen hatte ich Stufe 3 beantragt. Und dann fragte mich die Chefin, ob ich dann auch anteiliges Pflegegeld haben wollte. Ich sagte: »Ich will das ganze Pflegegeld und Sie sollen ehrenamtlich arbeiten.« Da war die Kuh vom Eis und nun kommen sie zweimal täglich und es klappt gut.

3 lange Wochen habe ich dicke Bretter gebohrt, bis alles komplett war. Ich hatte schon Blasen an den Ohren vom Telefonieren und Organisieren. Heute würde mich manches Krankenhaus um die Ausstattung beneiden. Es war ein langer Weg.

6. Dezember Nikolaustag!
Früher stellten wir unsere Schuhe vor das Fenster. Rita bekam Pralinen, da konnte ich mitnaschen und ich bekam Rasierwasser, das hatte ich dann für mich allein.

Diesmal stellte mir der Krankentransport meine Rita im Tragstuhl vor die Tür! Es war ein kläglicher Anblick. Mit Magensonde, spitzfuß und Dekubitus ersten Grades! 2 Markstück-große Stellen am Po. Mit Mirfulan und viel Geduld haben wir es wieder hinbekommen.

Donnerstag 13. 4. 2000
Bei der Morgenpflege hatte Rita starke Krämpfe. Das Waschen im Bad war nicht möglich. Unser Arzt kam und wollte ihr Valium spritzen, aber da waren die Krämpfe schon vorbei.
90/150 Blutdruck, Puls 93. Anja und ich haben uns über dem Bett angesehen, wir dachten beide, das sei das Ende. Mittags um 13:30 Uhr neue Krämpfe, aber nicht so stark wie morgens. Rita reagierte auf nichts mehr.
Am nächsten Morgen dasselbe. Da haben wir Rita eine Tube Diazepam rektal gegeben. Eine Woche blieb Rita ohne Reaktion. Nach Rücksprache mit dem Arzt habe ich die Rivotril-Tropfen erhöht. Inzwischen habe ich die Tropfen wieder reduziert. Die Reaktionen sind zurückgekommen. Manchmal schenkte uns Rita ein kleines Lächeln.

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