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Betroffen

von Karin Thimme-Bodzin

Über drei Jahre arbeite ich mit Dementen. Ich habe gelernt, mich in ihre Welt zu versetzen und auch einmal für eine Zeit in dieser Welt zu verweilen, was manchmal schwer und auch schmerzhaft ist, aber auch sehr amüsant sein kann. Manchmal wird man in die Verzweiflung, ja Panik hineingezogen und an die eigenen Ängste herangeführt und ich habe gelernt, diese Ängste nicht mit nach Hause zu nehmen. Ich habe auch gelernt, dass allein der Gedanke nicht zu wissen, wie man die Kleider auszieht, die man am Morgen angezogen bekam und nur soviel noch weiß, dass man sie am Abend wieder ausziehen muss, den ganzen Tag verderben kann. Ich habe gesehen, wie verwirrend es sein kann, wenn einem alles, was das Gehirn in den Jahren gespeichert hat, durcheinander gerät und man von einem Wirrwarr von Erinnerungen heimgesucht wird, der keine Logik besitzt.

Ich habe einmal gelesen, man könne sich das so vorstellen, ins 21. Jahrhundert versetzt worden zu sein, wo es z.B. keine Hausschlüssel mehr gibt oder sonstige Dinge, die wir automatisch bedienen – es würde uns auch verwirren und wir wären hilflos. Mit einem Wort, es fällt uns logisch und rational denkenden Menschen schwer, uns das Chaos ohne Logik vorzustellen, in dem der Demente lebt. Zudem sind es lauter individuelle Welten.

Dann wieder dürfen wir eintreten in die verwunschene Welt der Vergangenheit und gingen schon in die Schule mit demjenigen. Ich habe auch gelernt, von einer in die andere Welt zu wechseln und das alles immer ernst zu nehmen.

Oft sind wir als Professionelle der einzige Strohhalm, an den sie sich klammern können in der realen Welt.

Aber….das ist mein Beruf, ich gehe abends nach Hause und ziehe meine “Berufskleidung” aus und dusche meine Gedanken an die Arbeit weg. Ich tauche in mein Privatleben ein. Ich habe auch gelernt, wie wichtig obiges Ritual ist und wie nötig es ist, mit anderen Menschen reden zu können über die Arbeit aber auch über ganz anderes. Leicht packt einen sonst die Angst, es könne einem auch mal so gehen, denn man sieht fast nur solche alte Menschen, oder man könnte nicht mehr aus diesen verwirrten Welten herausklettern.

Ich lerne diese Menschen erst dann kennen, wenn sie zu uns in die Tagesstätte kommen, also zumindest eine leichte Demenz haben. Ich erwarte nicht viel von ihnen, ich sehe, was sie noch können und versuche es zu erhalten. Da bin ich froh, wenn eine Frau, die ihr Leben lang gestrickt hat und keine komplizierten Pullover kann, nun aber perfekte Schals strickt.

Oder die gute Hausfrau, die ihren Hauhalt immer gut gemanagt hat, mir sagt, wie man Gemüse richtig schält, obwohl sie nicht mehr weiß, wie es dann gekocht wird. Natürlich bekomme ich auch die Seite der Angehörigen mit, ihren Schmerz über die Verwirrung eines vertrauten und geliebten Menschen, die Verzweiflung über die Veränderung, die Verdrängung der Unabänderlichkeit, die Schwierigkeit das zu verstehen, was ein Kranker noch kann und nicht nur das, was er nicht mehr kann.

Wir haben oft Mühe das allen zu verstehen, weil wir den Menschen erst mit seiner Krankheit kennen lernen und ihn natürlich als solchen akzeptieren und vielleicht zu viel ihn sehen und nicht so sehr den Kontext, in dem er lebt.

Auch mir ging das so …….bis meine Mutter im letzten Jahr nach einem Unfall meines Vaters plötzlich total desorientiert war und wir Geschwister zunächst mit Sorge und auch mit Ungeduld reagierten. Nun, ihr Zustand hat sich etwas gebessert – es war für sie, eine 82 jährige eine enorme Stresssituation, ihren Mann in der Intensivstation des Krankenhauses zu wissen.

Doch als alles wieder in Ordnung war, blieb die Desorientierung vermindert bestehen – sie war nicht mehr in der Lage die Pfannkuchen zu backen, die sie so gerne gemacht hatte – sie nahm 1 Kilo Mehl für zwei Personen, sie ließ fast immer die Herdplatte an, sodass mein Vater die Küche nun voll übernehmen musste. Dass er sie noch das Frühstück machen ließ, fand ich gut.

Es kam alles, was ich schon so oft mitbekommen hatte in der beruflichen Distanz – das ewige Suchen nach etwas, das dauernde Wiederholen, dass man sie am Wochenende besuchen kommt, was ihr niemand gesagt hatte. Die Peinlichkeit, wie sie erzählte, dass der Neurologe festgestellt hatte, sie sei blöd.

Es folgten Gespräche mit den Geschwistern, wie man es dem Vater beibringt, sie nicht dauernd auf ihre Fehlleistungen hinzuweisen – nicht vor ihren Augen ihre Handtasche zu „ordnen“, damit sie endlich alles findet- der größte Vertrauensbruch, wie sie mir erzählt und erschüttert ist über ihren Mann.

Das Gespräch mit ihm, dass er auch an sich denken soll, sich Hilfe ins Haus holen soll, sich nach einem Heimplatz erkundigen soll – ich kenn mich ja so gut aus – Wie schwer fiel mir das, weil ich sehe, wie sie beide leiden, sie unter seiner Ungeduld und Grantigkeit, die sie noch mehr verunsichert, unter der Abhängigkeit von jemandem, der sie irgendwohin fährt, der mit etwas bezahlt werden muss – sie hat immer Geld in der Hand, wenn man ihr bei etwas hilft.

Er unter der Veränderung seiner Frau, die noch nie sehr praktisch war, was ihn immer schon gestört hat und der riesigen Angst, angebunden zu sein, wo er doch immer mal abhauen musste, um für sich allein etwas zu machen.

Ich könnte soviel aufzählen in diesem Gefüge von Eheleben, das irgendwie aber gut ging, mit vielen kleinen Tricks eingespielt war, und wo auf einmal nichts mehr ist wie vorher – ich kann jetzt so gut verstehen, wie schwer es schon ist, z.B. bei einer Institution anzurufen und sich zu informieren, geschweige denn nach Pflegeheimen zu fragen , denn das kam sowieso nicht in Frage.

Ich sehe an mir selber, wie schwer es ist, einzusehen, dass eben manche Dinge nicht mehr verstanden werden – so hatte ich versucht, meiner Mutter vorsichtig ihre Vergesslichkeit zu erklären, da ich davon ausging, dass sie es noch verstehen kann. Sie berichtet mir doch noch von Büchern, die sie gelesen hat. Doch ich merkte, dass ihre Konzentration nicht reicht und auch nicht das Erfassen der theoretischen Aussagen in Verbindung mit ihr.

Es gab neben Betroffenheit und Sorge aber auch schöne Momente, die ich nicht vorenthalten will. Ich hatte sehr nahe Gespräche mit meinem Vater, was nicht immer der Fall war, wenn überhaupt, da er sich in seiner Besorgnis und Hilflosigkeit zeigte, was ihm in seiner etwas distanzierten Vaterrolle immer schwer gefallen war.

Meine Mutter hat in ihrer Verwirrtheit eine gewisse Gelassenheit der Welt gegenüber gewonnen, deren Sorgen sie sich all zu gern auf die Schultern geladen hatte, wenn sie in einer depressiven Stimmung gewesen war.

Sie ist jetzt glücklich über Kleinigkeiten

Einige Zeit später.

Schon lange hatte ich mich für ein Wochenende bei meinen Eltern angesagt, weil mein Vater wegfahren wollte, was für ihn ab und zu sehr wichtig ist, da er durch die Krankheit meiner Mutter sehr angebunden ist. Er kocht, kauft ein und kümmert sich um alles.

Als ich dann da war, war meine Mutter ganz erstaunt und fand, dass Überraschungen doch etwas Schönes seinen – sie hatte schon wieder vergessen, dass ich kommen sollte. Jedes Mal, wenn ich sie länger nicht gesehen hatte, war ich über die Verschlechterungen betroffen und so dauerte es eine Weile, bis ich wieder ganz normal mit ihr umgehen konnte und ihr ohne Hemmungen erzählen konnte, was es Neues gab, ohne Angst, dass sie das alles nicht begreift.

Wir machten es uns gemütlich und wieder einmal stellte ich fest, dass es viel einfacher ist, sich mit ihr zu unterhalten, wenn wir nur zu zweit sind. Oft trifft sich die Familie bei meinen Eltern und dann redet alles durcheinander, was auch für einen jüngeren Menschen oft schwer zu verfolgen ist.

Diesmal fiel mir besonders auf, dass sie sehr nach den richtigen Worten suchte und ich raten musste, von was sie reden wollte. Ich erzählte ihr, dass ich ein Grundstück kaufen möchte und irgendwann wurde es zu schwer sich vorzustellen, wo das liegt. Ich holte eine Karte, auf der ich ihr die Lage genau erklären konnte.

Wir verbrachten den ganzen Nachmittag mit der Karte, weil ich immer wieder den Ort zeigen musste, wo ich jetzt wohne und wo sie wohnt und den Weg zu dem neuen Grundstück. Dazwischen war sie ganz versunken und meinte “Aha”. Dann fing sie wieder an “Wie war das denn wieder?” Dann zeigte ich ihr wieder alles und irgendwann schien sie es einigermaßen begriffen zu haben und seufzte zufrieden auf. Ich weiß zwar nicht, ob es anhält.

Es war rührend, wie sich bemühte, diese neue Information speichern zu können, denn sie weiß um ihre Vergesslichkeit. Sie hatte jedes Mal Schwierigkeiten, die Frage richtig zu stellen, aber inzwischen wusste ich, worum es ihr ging, so dass ich auch das Gefühl hatte, dass sie sich verstanden fühlte. Durch ihre Wortfindungsprobleme hat sie oft Probleme sich wirklich verständlich zu machen.

Einige Zeit später:

„Es ist eine von uns“ höre ich meine Mutter, die ich gerade angerufen habe, meinem Vater zurufen.

Das geschieht jetzt immer öfter, dass sie uns in der Familie nicht mehr mit Namen weiß. Sie weiß aber, dass wir zur Familie gehören. Als ich dann zu Besuch komme, ist ihre Freude groß, auch über die mitgebrachten Blumen. Besonders genießt sie, wenn ich allein mit ihr, alte Fotos anschaue. Ich stelle allerdings fest, dass sie die Bilder aus meiner Kindheit oft nicht mehr erkennt, um so besser die aus ihrer Jugend. Sie ist in der Zwischenzeit immer weiter in ihrem Leben zurückgegangen. So fragt sie mich oft, ob ich noch wüsste, wie wir auf einen bestimmten Baum geklettert sind. Da ich mit ihr nie auf Bäume geklettert bin, scheint sie mich wieder mit ihrer jüngeren Schwester zu verwechseln, mit der sie immer gespielt hat. Es fallen in diesem Zusammenhang auch Namen von Orten, wo sie damals Ferien gemacht haben.

Neulich saßen wir fast zwei Stunden und betrachteten ihr Abitursfoto, wo mindestens 30 junge Damen in weißen Kleidern schön in Reih und Glied saßen, in der Mitte zwei Herren im steifen Rock und eine Lehrerin, schön onduliert im 20 er Jahre Look. Sie konnte mir tatsächlich fast alle Namen ihrer Mitschülerinnen nennen nebst der dazugehörigen Beschreibung. Ich war verblüfft und ihr tat sichtlich gut, auch mal etwas zu wissen.

Sie leidet zwar nicht so sehr unter ihrem sonstigen Vergessen, doch darunter, dass ihre Selbständigkeit verloren gegangen ist, dass sie nicht mehr Autofahren darf (was nun bestimmt schon 5 Jahre her ist, als sie von einem Polizisten angehalten wurde, weil sie sich am Mittelstreifen orientierte, er aber meinte sie sei betrunken) und besonders, dass sie kein Geld mehr hat, wo sie so gern dem einen oder anderen aus der Familie etwas zugesteckt hatte oder zum Essen im Restaurant eingeladen hatte.

Nun muss sie “den Mann da” immer fragen, womit sie meinen Vater meint, denn auch bei ihm weiß sie oft nicht mehr, dass sie mit ihm verheiratet ist, was sogar eine gewissen Logik in sich hat, wenn sie doch in ihrer Kindheit und Jugend ist mit ihrem Gedächtnis.

Natürlich ist das für meinen Vater schmerzlich, obwohl er weiß, dass sie nichts dafür kann und sein merkwürdiges Lächeln mit dem traurigen Schimmer in den Augen tut mir schon weh, denn ich weiß, wie schwer es ihm manchmal fällt, Tag für Tag mit meiner Mutter zu sein und sich um alles zu kümmern. Ich bin froh, dass wir ihn endlich überzeugt haben, eine Hilfe zu beantragen, die morgens kommt und meiner Mutter beim Anziehen und Waschen hilft. Oft geht es ihm auch nicht so gut und dann ist sein Geduld schnell am Ende.

Das letzte Mal, als ich von zu Hause fortfuhr, hatte ich die ganze Autofahrt zu knabbern, weil ich nicht wusste, wer vor wem geschützt werden musste.

Einige Zeit später:

Die Wolken hingen tief, voller Regen, als ich von meinen Eltern zurückfuhr und in mir sah es nicht anders aus. Mein Kopf war schwer von Gedanken und mein Rücken schmerzte, weil ich meine Mutter mindestens 10 Mal hochgehoben hatte in den 2Tagen, die ich dort gewesen war.

Seit ich das letzte Mal über meine Mutter geschrieben habe, ist einige Zeit vergangen und ich sehe gerade, dass sie damals noch spazieren gehen konnte. Nun hat sie einen Rollstuhl, mit dem sie vom Bett ins Bad und ins Wohnzimmer geschoben wird. Weil wir Geschwister dieses Wochenende da waren, sind wir mit ihr auf die Toilette zu Fuß gegangen, damit sie nicht ganz unbeweglich wird, was aber eine Tortur für sie und uns war. Als sie dann schwer atmend auf der Toilette saß, war sie total erschöpft. Das Schlimme ist, dass jeder körperliche Kontakt ihr offensichtlich weh tut und sie laut aufschreit. Sie war nie ein körperlicher Mensch gewesen, sie war immer sehr kitzelig gewesen, sodass man sie schlecht unter den Armen greifen konnte. Ich hatte dann versucht, dass sie ihre Arme um meinen Hals legt – „Umarme mich einmal,“ sagte ich, und ich fasste sie dann um die Taille und hob sie im Pflegergriff hoch. Am Abend ging das auch ganz gut, obwohl sie aufschrie, dann aber fielen wir beide umarmt ins Bett, ich beruhigte sie, dass nun alles gut sei, und dann murmelte sie etwas Unverständliches, was aber friedlich klang. Sie lächelte und sagte der versammelten Familie, „Ihr seid aber lieb“, obwohl sie vorher herzzerreißend geschrieen hatte.

Danach sagte ich meinem Vater, wie anstrengend es sei, was er bestätigte „Da siehst du mal, wie es ist“ Wir hatten ein langes Gespräch mit ihm. Wir teilten ihm mit, dass wir sie im örtlichen Pflegeheim angemeldet hätten, er aber entscheiden könne, wann sie hingehe. Vorher konnte man das Wort Pflegeheim nicht einmal erwähnen. Jetzt sah er ein, dass man darüber nachdenken müsse. Sei es, weil wir zu zweit auf ihn einredeten oder dass er fürchtete, wir würden ihn auch so „leicht“ in ein Pflegeheim geben - er brach in Tränen aus und ging spazieren.

Es war klar, dass er am Ende war. Er war in dem typischen Zwiespalt sich selbst zu überfordern und nicht loslassen können. Meine Argumente, dass er sich viel gelassener um meine Mutter kümmern könne, wenn sie im Pflegeheim sei, da er sich um das Pflegerische nicht kümmern brauche, lösten erst recht Trauer aus. Meine Erfahrung aus der Arbeit, dass meine Mutter wahrscheinlich nicht so sehr mitbekommen würde, dass sie im Pflegeheim ist, solange sie ihre vertrauten Dinge um sich hat und er sie besucht, machte die Vorstellung vielleicht noch unerträglicher, da so vernünftige Argumente vorlagen.

Ich hatte diesmal das starke Gefühl, dass er im Moment der Hilfsbedürftige ist und ich hoffe, dass bald ein Platz frei wird.


 

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