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Der Bürgermeister von Wächtersbach


Auguste S. erhielt in diesen Tagen Post vom Bürgermeister. Ein Glückwunsch zum Geburtstag. Ein 83. Geburtstag stand auf der Liste der Altbürger. Leider kamen zu Auguste keine persönlichen Gratulanten. Mit Sohn und Schwiegertochter verbrachte sie diesen Tag alleine. Niemand hat geklingelt. Niemand hat Blumen gebracht. Nachbarn und Familie haben Auguste und die Ihrigen ihrem Schicksal überlassen und die heißt oft Einsamkeit im sozialen Umfeld.

Dabei ist Mutti in den letzten Jahren ein besonderer Star geworden, gerade weil der Bürgermeister von Wächtersbach bei ihr ein -und ausgeht. Das weiß der Bürgermeister zwar nicht, aber seine Geschichten mit Mutti gehen mittlerweile über die Grenzen Deutschlands hinaus an einen großen Verteiler im weltweiten Gewebe. Das mag für Erstaunen sorgen und auch wieder nicht.

Auguste ist dieser Tage ihrer Meinung nach 24 Jahre jung geworden. Ihr bester Freund –außer dem Bürgermeister- ist Hugo, der blaue Stoffhund. Sie mag Egerländer Musik und man muss aufpassen, das Mutti nicht ihr Hörgerät aufessen tut. Noch immer bestellt sie gerne in Katalogen durch Striche auf den Seiten. Vor Jahren, als sie noch alleine lebte, führte sie das in finanzielle Nöte. Auguste bestellte alles, was zu bestellen war. 300 Strumpfhosen, Kosmetika, Medaillen und Anderes, was sie hortete. Ein aufmerksamer Nachbar machte den Sohn aufmerksam über die tägliche Päckchenflut und so zog Auguste um, fortan in der Obhut zwei aufopferungsvoller Engel, Sohn und Schwiegertochter, die sich dem 24 Stunden Dienst an 365 Tagen im Jahr stellten.

Alleine kann sie leider nicht mehr gehen. Sie kann sich auch nicht mehr allein versorgen. Auguste ist eine von einer Million Kranken, die in Deutschland an der Alzheimer Krankheit leiden und das heißt, über Jahre hinweg ein langsamer Verlust von Gehirnzellen, die logisches Denken, Koordinieren, Orientieren, Bewegen möglich machen. Es ist ein langer Abschied, der enorme Kräfte bei den Angehörigen abfordert, da zur Pflege auch das Mitanschauen müssen eines persönlichen Untergangs gehört, ein Mitgehen über alle Stadien erfordert, um den Betroffenen liebevoll zu begleiten. Dennoch wird niemand nach den modernsten Behandlungsmöglichkeiten den Feind besiegen, nur aufhalten, eine Zeit lang.

Letztes Jahr hat Auguste noch getanzt. Für alles was daneben geriet oder nicht erwünscht war, hatte der Bürgermeister stets einen Auftrag hinterlassen. Der Bürgermeister hat Auguste gesagt, sie soll sich ausziehen, sie soll kleckern, sie soll nicht auf die Toilette gehen. So ist der Bürgermeister in seiner freundlichen, aber bestimmten Art immer ein Freund für Auguste gewesen, die Sohn und Schwiegertochter oft vor skurrile Situationen gestellt haben.
Wer hat sonst solche mächtige Verbündete?

Auguste hat dem Bürgermeister oft geschrieben, er hat gesagt, ich soll ins Bett gehen, der Bürgermeister hat gesagt, ich soll ins Bett gehen mit ihm.
Diese Briefe hat Auguste lange geschrieben und sie werden gut verwahrt, denn heute sind sie schon wieder ein Stück Vergangenheit. Die letzten Briefe an den Bürgermeister sind gleichförmige Striche, denn nicht nur Alzheimer tut sein Werk. Auguste ist auch noch mit Parkinson geschlagen und so wiegen die Hände im anhaltenden Stakkato, was an den Nerven der Pflegenden Tag und Nacht nagt.

Trost und Unterstützung haben sich die engagierten Schwiegertochter und ihr Mann im Internet gesucht und gefunden, denn ein Weggehen war schwierig zu gestalten. So landete Muttis Geschichte und die des Bürgermeisters von Wächersbach in der größten Angehörigengruppe, die Tag und Nacht ihre Sorgen und Pflegefragen, aber auch ihre kleinen Erfolge und Geschichten teilen.

Besuch kam überraschend am letzen Sonntag.

Nein, es war nicht die eigene Familie, es waren Menschen dieser virtuellen Familie, die Auguste und den zwei Engeln an der Seite, ihre Ehrerbietung für diesen schweren Job erwiesen haben, sich an den Händen fassten, um dem Geburtstag mit einem Lächeln –Trotzdem- zu begegnen.

Auguste lebt ein Stück in ihrer eigenen Welt, aber sie freut sich über jedes Küsschen.

Heute sind diese drei Menschen wieder unter sich. Allein.
Schade, wenn der Bürgermeister wüsste, wo sein größter Fan sitzt.

© 2005 Brigitte Pfeiffer

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